Dort hat man es aber nicht mit einer einzigen Partei zu tun, die in sich extrem polarisiert und fragmentiert, wenn nicht unheilbar zerrissen ist, sondern bereits mit zwei (eigentlich sogar drei, dazu später mehr) strikt getrennt agierenden Formationen, die um Stimmen konkurrieren und jeweils stark auf eine Person zugeschnitten sind.
Auf der einen Seite steht Geert Wilders (geb. 1963) mit seiner 2006 gegründeten Partei für die Freiheit (PdV, Partij voor de Vrijheid), auf der anderen Seite sein zwanzig Jahre jüngerer Herausforderer Thierry Baudet mit dem 2015 erst gegründeten Forum für Demokratie (FvD, Forum voor Democratie), das aus außerparlamentarischen Denkzirkeln und Aktivistengruppen hervorging.
Der promovierte Rechtsphilosoph Baudet verdrängte zwischen 2015 und 2019 mit seinem modernen, sozialkonservativen Programm die neokonservative Geert-Wilders-Fraktion von der Spitze der niederländischen Rechten. Der Höhepunkt dieser Ablösungsentwicklung war 2019 erreicht, als Wilders bei den Europawahlen nur 3,5 Prozent erhielt, was einem einzigen Mandat entsprach, während parallel Baudets Liste aufgrund 11 Prozent der niederländischen Wählerstimmen reüssierte und fortan über vier Mandate in Brüssel und Straßburg verfügte. Außerdem wurde Baudets Partei, die heute 30 000 Mitglieder zählt (zum Vergleich: AfD 32 000), stärkste Kraft bei den Provinzwahlen im selben Jahr.
Baudet, dem deutschsprachigen Leser bekannt durch seine im Ares Verlag vorgelegte konzise Analyse der Oikophobie, des nationalen Selbsthasses oder »Nationalmasochismus« (Armin Mohler), konnte dabei nicht nur (gleich der AfD in der BRD und dem Rassemblement National in Frankreich) zahlreiche Nichtwähler, sondern zusätzlich auch das Gros bisheriger Wilders-Wähler von sich überzeugen, denen erstmals überhaupt eine rechte Alternative zu Wilders Schwarz-Weiß-Weltbild geboten wurde.
Wilders’ Patchwork-Ideologie, so sollte sich vergegenwärtigt werden, ist strukturiert durch eine verkürzte Problemanalyse (»der Islam« als Problem, »der Markt« als Lösung) und pseudoelitäre Gesinnung, beinhaltet eine unverhohlene Affirmation von »LGBTQ+«-Anliegen und inszeniert sich nicht zuletzt damit stets als Vorkämpfer westlicher Aufklärung und eben aus ihr abgeleiteter liberaler Prinzipien, die es gegen die quasisozialistische EU und »die Muslime« zu verteidigen gelte.
Thierry Baudet hingegen, »der neue Shootingstar der rechten Szene«, ist von vornherein mit der Erkenntnis angetreten, daß dieses Programm mehr Probleme zu schaffen verspricht als sie zu lösen, ja er hatte bereits vor seinem Engagement als Politiker die Erkenntnis postuliert, daß eine solche Sprache und Geist »entliberalisiert« werden müßten.
Eine »postliberale Zukunft«, die Baudet anstrebt, wurde 2019 dementsprechend von den einen als künftiges Denkmodell enthusiastisch begrüßt, von den anderen, der absoluten Mehrheit (von Wilders bis zu Linken aller Schattierung), als »rechtsradikal« verworfen.
Doch dann kamen die Skandale, und hier setzt Daniel Steinvorths Reportage »Der flegelnde Holländer« in der NZZ (v. 15.3.2021) an, der Baudets Entwicklung ab 2019 im typischen Sound zusammenfaßt:
In seiner Siegesrede von 2019 wurden sensible Geister hellhörig, denn Baudet hatte nicht bloss Hegel zitiert oder Europas «kulturelles Vakuum» bedauert. Er warnte auch von den Bedrohungen «unserer borealen Welt». Wer diese Hundepfeife hören konnte, verstand sofort: «Boreal», ein anders Wort für «nordisch», steht in völkischen Kreisen für «weiss».
Die auf diese Rede folgende Daueragitation in Politik, Gesellschaft und Medien konnte Baudets Partei nicht schwächen, weil man – für deutsche Beobachter: erstaunlich – geschlossen und angriffslustig jede Attacke parierte.
Allein, kein Höhenflug hält ewig:
Der jähe Absturz des FvD erfolgte im November 2020, als rassistische und antisemitische Sprüche in Whatsapp-Gruppen junger Parteimitglieder an die Presse gelangten. Anstatt die Jugendbewegung aufzulösen, warf man zuerst die Whistleblower hinaus. Dann kolportierten Parteimitglieder, der Chef habe sich selbst verschwörerisch über George Soros und die Entstehung von Covid-19 geäussert.
Einmal mehr waren also interne Zersetzungsprozesse und krasse Verfehlungen einzelner Protagonisten ursächlich für das Abstürzen in Umfragen und Spaltungstendenzen. Baudet, nur scheinbar resigniert ob des Vertrauensentzugs weiter Teile des Parteiapparates, trat von der Spitze des FvD zurück, um wenige Monate später von der Basis wieder dorthin gewählt zu werden.
Die logische Folge dieses von Erfolg gekrönten Aufstands von unten war ein Exodus der Baudet-Gegner aus dem FvD. Sie gründeten die Partei Richtige Antwort 21 (JA 21, Juiste Antwoord21), die sich als Partei des EU-skeptischen Reformkonservatismus stilisiert: weder Baudets »Rechtsradikalismus« noch Wilders’ aggressive Vulgärismen. Zahlreiche Mandate wanderten beim Spaltungsprozeß mit; Baudets FvD sah sich fortan neben Wilders PdV mit einer weiteren, im weitesten Sinne rechten Konkurrenz konfrontiert.
Das war die Voraussetzung vor wenigen Wochen, als die heiße Wahlkampfphase für die niederländischen Parlamentswahlen eingeleitet wurde, die am 15. März begann und am gestrigen Tag, für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Werktage also, abgeschlossen wurde.
Doch »heiß« war der Wahlkampf selten, denn die Parteien verzichteten aufgrund der Covid-19-Situation überwiegend auf flächendeckende Vor-Ort-Präsenz. Die selbstbewußte Ausnahme: Thierry Baudets FvD.
Baudet war, so teilt es auch Steinvorth mit,
in diesen Tagen der einzige Spitzenkandidat, der sich auf öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen blicken lässt.
Seine Agenda sei klar gewesen.
Er sieht sich als Widerstandskämpfer gegen ein Regime der Unfreiheit, dem sich der Rest der politischen Klasse in Den Haag unterworfen habe.
Baudet entschied sich für eine Wahloffensive mit zahlreichen Einzelstationen:
In mehr als 40 Orten ist sein amerikanisch anmutender Tross schon aufgetaucht. «Kies voor vrijheid» (Wähle die Freiheit) steht auf dem riesigen Bus. Auf die rote Baseballkappe, wie Donald Trump sie trägt, hat Baudet heute verzichtet. Dafür bekommen die Bürger in Zwolle saftige Botschaften serviert: Ein «niederländisches Parteienkartell», sagt er, habe aus Corona eine Religion gemacht, ein Evangelium. Wer Einwände habe, werde zum Ketzer erklärt,
was nach Auffassung des hegemonialen Lagers in den Niederlanden natürlich ebenso wenig droht wie in Deutschland.
Apropos »amerikanischer Tross«: Ist Baudet »Trumpist?« Er selbst äußert sich gegenüber der NZZ offen:
«Ich vermisse seine Reden, seine Tweets, seine Persönlichkeit.» Aber letztlich habe es auch Trump nicht geschafft, das «Kartell liberaler Globalisten» zu brechen.
Baudet erinnert in seiner liberalismus- und globalismuskritischen Wortwahl und auch in seiner recht »smart« dargebotenen Synthese aus Nationalkonservatismus und Sozialpopulismus zwar oft an Marine Le Pens Rassemblement National. Doch in der Corona-Krise positionierte er sich deutlich markanter als das französische Quasi-Pendant:
«Es wird immer wieder Grippewellen geben, selbst wenn ihr euch impfen lasst», dröhnt seine Stimme über den Rasen. «Das ist ein Teil des Lebens.» Corona sei vielleicht eine schwere Grippe, aber nicht tödlicher als die saisonale Grippe.
Kommt derartiges bei den Niederländern an?
Schenkte man den Wahlumfragen Glauben, dann keineswegs: Baudets FvD stand maximal bei 2 bis 3 Prozent, wohingegen Wilders’ PVV, die sich eher an der offiziellen Coronapolitik der bürgerlich-liberalen Regierungspartei Volkspartei für die Freiheit (VVD, Volkspartij voor Vrijheid) unter Ministerpäsident Mark Rutte bewegt, mindestens 13 Prozent vorausgesagt wurden.
Daniel Steinvorths Vorwahlfrage war also berechtigt:
Kann man mit der Theorie vom völligen Staatsversagen und dem Schüren von Misstrauen gegen «die Eliten» und gegen die Wissenschaft im Jahr zwei der Pandemie politisch punkten?
Das Ergebnis liegt heute, ein Tag nach dem Wahlabend, fast vollständig (Änderungen können noch erfolgen) vor: Baudet konnte das Ergebnis der Parlamentswahl von 2017 fast verdreifachen: Diesmal stimmten 5,0 Prozent für seine Liste, was acht Mandaten entspricht (plus sechs), was zwar ein Erfolg ist, aber weit entfernt von dem angesiedelt bleibt, was man 2019 bei Europa- und Kommunalwahlen erzielen konnte.
Immerhin ist man freilich aus der Spaltungskrise gestärkt herausgekommen und sorgt wieder für Unwohlsein im Juste Milieu:
Vor allem das Forum für Demokratie von Thierry Baudet, das sich nach internem Gezänk um rassistische und antisemitische Äußerungen offenbar wieder erholt hat, konnte deutlich hinzugewinnen.
Interessant sind zudem die Wahlergebnisse der beiden anderen (im weitesten Sinne) »rechten« Parteien: Die Anti-Baudet-Abspaltung JA21 kam auf 2,3 Prozent bzw. vier Mandate (2017: naturgemäß nicht angetreten), Wilders PVV auf 10,9 Prozent bzw. 17 Mandate, was einem Verlust von etwas mehr als 2 Prozentpunkten und drei Mandaten entspricht. Man darf mutmaßen, daß diese Wähler in Richtung JA21 verloren gingen.
Im Parlamant sind alle genannten Parteien vertreten, da man in den Niederlanden automatisch Parlamentssitze erhält, wenn über 0,67 Prozent der Stimmen (1 aus 150) auf sich vereint werden können; eine Fünfprozenthürde oder vergleichbar hohe Sperrklauseln gibt es nicht.
So werden diesmal 17 Parteien (!) in den Genuß von Parlamentssitzen samt entsprechender Stellenpools gelangen, deren repräsentative Legitimität durch eine – ob der Corona-Sonderlage erstaunliche –82prozentige Wahlbeteiligung gewährt scheint.
Wahlsieger ist derweil einmal mehr die Regierungspartei VVD (22 Prozent), vor den Linksliberalen der Demokraten 66 (14,9), den Christdemokraten (9,7), den Sozialisten (6), den Sozialdemokraten (5,7), den Grün-Linken (5) und eben Baudets FvD. Kleinere Formationen wie die linksliberal-paneuropäische Volt, die Migrantenparteien DENK und BIJ1 oder auch die Calvinisten der Christenunion ziehen ebenfalls in die Zweite Kammer ein. An der minimalen 0,67-Hürde gescheitert sind hingegen die libertäre Kleinpartei und eine Gruppe von Corona-Maßnahmengegnern.
Überhaupt: Corona. Das Thema war auch in den Niederlanden das Thema der Regierenden. Baudets rigider Anti-Lockdown-Kurs hat ihm offenkundig nicht geschadet, da er aus zwei Mandaten acht machte, aber ein Durchbruch sieht anders aus. Währenddessen hat Wilders’ Mitsegeln im Schatten der Regierungsparteien wohl seiner Partei eher geschadet als genutzt, wenngleich ich der Ferndiagnose zuneige, die Verluste nicht allein auf diesem Feld begründet zu sehen. Mit JA21 gab es schlichtweg erstmals eine weitere dezidiert liberale Rechtspartei neben ihm, die zwar islamkritisch agiert, aber auf Wilders’ »Islamfaschismus«-Show verzichtet.
Für Deutschland, das in vielen zentralen Aspekten gänzlich anders konstituiert ist als sein kleiner Nachbar im Westen, sind kaum Lehren aus diesen Wahlen zu extrahieren, außer einer universellen: Die Zeit der akuten Coronalage ist die Zeit der Herrschenden; der Wähler fordert mit dem Stimmzettel Stabilität und Kontinuität ein (wie in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg).
Die Frage, die sich nun für die weiteren Monate des deutschen Superwahljahres daraus ergibt, ist nur: Was ist, wenn diese akute Coronaphase nicht enden will?
Der_Juergen
Baudet hat sicher wesentlich mehr Format als Wilders mit seiner simplen "Bekämpft den Islam, denn der bedroht die Schwulen und die Juden"-Ideologie. Vor kurzem fiel Baudet dadurch positiv auf, dass er den Nürnberger Prozess kritisierte, weil dort eine retroaktive Gesetzgebung angewendet worden sei.
Nebenbei haben sowohl Wilders als auch Baudet indonesisches Blut, was man ihnen auch ansieht. (Nicht, dass das ein Minuspunkt wäre; es lässt jedoch das "Rassismus"-Geschrei gegen die beiden nur doppelt absurd erscheinen.)