Doch wenn sich der Strick um unsere Gurgeln zuzieht, rückt man näher zusammen.
Die Rede von der „Corona-Diktatur“, Unwort des vergangenen Jahres aus der Perspektive der lingua coronae imperii, klingt plakativ und gehört eigentlich in dieselbe Schublade wie „Merkeljugend“ oder „Linksstaat“. Doch unter einem groben Slogan findet sich hier das Gegenteil: Das neue Sonderheft ist die philosophischste Ausgabe, die es von Compact je gab.
Aus diesem Grunde lohnt sie meine eingehende Betrachtung und Besprechung. Martin Sellner pflegt in einem Videoformat jedes Compact-Heft zu rezensieren, auch dieses, und schreibt regelmäßig eine eigene kleine Kolumne darin, was ihn übrigens mit dem Antaios-Autor Manfred Kleine-Hartlage verbindet.
In der vorliegenden Ausgabe finden sich geradezu formatsprengend lange philosophische Essays (sogar in Kapitel unterteilt). Sieben an der Zahl kennen Sie als Sezession-im-Netz-Leser bereits – Heino Bosselmann hat sie zuerst an dieser Stelle veröffentlicht, in Compact sind sie nun wiederabgedruckt. Ihn hier kollegial zu loben wäre peinlich, die Kommentardiskussionen auf unserer Netzpräsenz sprechen für sich und für Bosselmann.
Von den drei Philosophen ist nur einer einem großen intellektuellen Publikum außerhalb unserer „Szene“ bekannt, nämlich der linke italienische Philosoph Giorgio Agamben. Der dritte im Bunde ist Rudolf Brandner, den Freunde des Tumultblogs kennen dürften.
Bringt man die drei zusammen, entsteht tatsächlich ein Dreiergespann, dessen Teile komplementär wirken. Bosselmann ist der Essayist, der spitzfedrige, manchmal gallige Zeitkommentator. Brandner ist der Aufklärer und antitotalitäre Kritiker der Logik des herrschenden Irrsinns.
Und Agamben? Der ist das, was man einen postmodernen Großdenker nennen könnte. Bei wem hier die Alarmglocken leise zu klingeln beginnen, der beginne die Lektüre von Corona-Dikatur. Wie unsere Freiheit stirbt mit dem Beitrag des Kulturredakteurs Jonas Glaser. Der titelt nämlich „Sloterdijk und andere Verräter“ und landet auf zwei Seiten auf dem Punkt: wieso diese public intellectuals in der gegenwärtigen Lage sich und uns verraten haben.
Sloterdijk, Slavoj Žižek und Judith Butler haben alle Maßstäbe der alten Ideologiekritik über Bord geworfen. Das geht so weit, daß sich Sloterdijk einen Bundeskanzler Spahn wünscht und Žižek über Agamben entrüstet den Kopf schüttelt, wolle dieser doch so wie die Rechten und wie Trump „leben wie bisher. Das hieße ja, dass die Pandemie sich ausbreitet und noch mehr Menschen krank macht.“
Agamben denkt grundsätzlich. Ihn kann man keinen Renegaten nennen, denn er bleibt seiner alten Ideologiekritik treu. Dabei kombiniert er in den vorliegenden Texten Carl Schmitts Unterscheidung zwischen „kommissarischer“ und „souveräner“ Diktatur mit Michel Foucaults Analyse der „Biopolitik“.
Dessen berühmter Schluß der Ordnung der Dinge bekommt bei Agamben – der abgedruckte Aufsatz „Wenn das Haus brennt“ ist fast mystisch-poetisch und der schwierigste Beitrag des Heftes – eine Deutung, die vielleicht erst heute verrät, was Foucault 1966 nur ahnte:
Der Mensch verschwindet heute, wie ein Antlitz aus Sand am Strand weggewaschen wird. Das aber, was an seine Stelle tritt, hat keine Welt mehr, es ist nur nacktes Leben, stumm und ohne Geschichte, den Kalkülen der Macht und der Wissenschaft ausgeliefert. Vielleicht kann nur aus dieser Zerstörung eines Tages allmählich oder mit einem Mal etwas Neues erscheinen – gewiss kein Gott, aber auch kein anderer Mensch – ein neues Tier vielleicht, eine in anderer Weise lebende Seele …
Daß Zukunftshoffnungen denkbar sind, die weder die Wiederherstellung des „alten Normal“ herbeisehnen, noch die Illusion einer „bürgerlichen Revolution“ (Markus Krall) hegen, noch (Agambens Kerngedanke!) sich dem transhumanistischen Grauen vorauseilend anbequemen, ist ein Motiv, das nun aber wirklich Compact sprengen würde und von daher einen anderen Platz bekommen muß.
Ich bin bereits mittendrin, die Menschheitsentwicklung (christlich geht es nur oberhalb eines Agambenschen „neuen Tieres“) hoffnungsvoll weiterzudenken.
Rudolf Brandner kommt von Kant und Hegel her. Aus seinen Texten gewinnt man Schritt für Schritt Argumentationsstoff dafür, daß die „Corona-Diktatur“, widersprüchlich bis zum Zerplatzen, paradoxerweise doch funktioniert. Panik-Moral statt Wissenschaft ist ein solches Argument: Digital modellierte und medial verbreitete Mutmaßungen ersetzen die bekannte alteuropäische Rationalität.
Ein weiteres Argument: Das Abwehrrecht des Individuums gegen den Staat wird umgedeutet in ein neues Schutzrecht des Staates im Namen der Volksgesundheit. Am Beispiel des Widerstandsrechts führt Brandner dann vor, daß dieses sich auf einen Adressaten verläßt, welchselbiger im Falle des Widerstandsfalles jedoch keineswegs bereit ist, dem Bürger dieses Recht überhaupt einzuräumen:
Denn gerade dann, wenn dieser Fall vorherrschte, kann ein solcher Rechtsanspruch nicht mehr gewährleistet werden, da die ganze Staatsgewalt in den Händen derer liegt, gegen die er geführt werden müßte.
Brandners Kritikfolie ist der bürgerliche Rechtsstaat, der auf dem mündigen Individuum und der demokratischen Gewaltenteilung beruht. „Es ist nicht ersichtlich, wie der Staat ein Eingriffsrecht in die Freiheit legitimieren könnte“, schreibt er an einer Stelle.
Mein Einwand lautet: der Staat ist längst darüber hinweg, Legitimierung nötig zu haben. Mit Agamben/Schmitt gesprochen: er hat die Stufe von der kommissarischen zur souveränen Diktatur bereits genommen. Wer jetzt philosophisch erklärt, wieso das alles aber „überhaupt nicht mehr demokratisch“ ist, legt mit Kant eine „regulative Idee“ als Maßstab an die Wirklichkeit der Zuschauerdemokratie.
Wenn am Schluß dieser “Compact”-Nummer das „Infektionsschutzgesetz“ mit roten Randbemerkungen versehen abgedruckt ist, sind wir wieder in bekannten Fahrwassern. Doch pfiffiger kann man so einen Text nicht auseinandernehmen: danebenkritzeln, was eigentlich gemeint ist mit diesem „Schutz“, den wir zu „dulden“ (§25, Absatz 1) haben.
Die übers Heft verstreuten Zitatkästchen stören den Lesefluß eher, zumal die zu Wort kommenden Politiker oder klugen Köpfe weder zu den Bezugsautoren der jeweiligen Beiträge zählen (geht es um Hobbes, finden wir z.B. Helmut Schmidt, Thomas Münzer oder Sophie Scholl) noch daß manche Freiheitsphrasen kontextfrei tragfähig sind (so z.B. die von Rosa Luxemburg oder Georges Danton).
Die Graphik (mit einem Filter verfremdete Photos) taucht das Heft in ein zeitloses Licht, was dem Gegenstand alles Reißerische nimmt. Nur die Gesichter der Herren Agamben und Brandner erscheinen derart verzerrt, daß man Angst vor ihnen bekommen könnte, zumal Spahn und Lauterbach ironischerweise trotz gleicher Bildbearbeitung fast hübsch anmuten.
Den Lesern der Sezession sei hiermit ausdrücklich das Compact-Aktuell-Heft ans Herz gelegt. Es ist nicht nur ein Zeitdokument, sondern versammelt bitter nötige Denkanregungen. Die können wir derzeit brauchen, auch wenn’s uns bisweilen beim Drübernachdenken den Hals zuschnürt.
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Maiordomus
Diese Leute, um die sich die Debatte dreht, werden samt und sonders massiv überschätzt, gehörten wohl sicher nicht zu den 10 000 wichtigsten Repräsentanten europäischer Ethik, die Medizinethik nicht zu vergessen.