»Orbáns Illiberalismus ist die Rückkehr des Politischen«

Das nachfolgende Gespräch erschien zuerst in Heft 188 (Februar/März 2021) des französischen Magazins éléments.

Anlaß war das Buch Pour­quoi Vik­tor Orbán joue et gagne (dt. War­um Vik­tor Orbán spielt und gewinnt ) aus der Feder von Thi­bau­ld Gibe­l­in, erschie­nen bei Édi­ti­ons Fau­ves, Paris 2020, in dem Gibe­l­in das Erfolgs­re­zept Orbáns zu ent­schlüs­seln versucht.

Fran­çois Bous­quet, élé­ments-Redak­teur und Ver­ant­wort­li­cher der Nou­vel­le Librai­rie in Paris, sprach mit Gibelin.

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élé­ments: Nach dem Auf­stand von 1956 in Buda­pest ist Ungarn gewis­ser­ma­ßen von den Radar­bild­schir­men ver­schwun­den. Heu­te steht es wie­der im Mit­tel­punkt des poli­ti­schen Macht­spiels. Bei der Lek­tü­re Ihres Buches fühlt man sich an jene – um mit Milan Kun­de­ra zu spre­chen – »klei­nen, von all­mäch­ti­gen Nach­barn umge­be­nen Län­der« Mit­tel­eu­ro­pas erin­nert. Ist die Ein­zig­ar­tig­keit Ungarns dar­in begründet?

Thi­baud Gibe­l­in: Von Frank­reich aus betrach­tet, ist Ungarn sicher­lich ein neu zu ent­de­cken­des Land. Wir haben ein­an­der unmit­tel­bar nach dem Ers­ten Welt­krieg, als der Ver­trag von Tria­non das König­reich des hei­li­gen Ste­phan um zwei Drit­tel sei­nes Ter­ri­to­ri­ums brach­te, mit erkal­te­ten Gefüh­len den Rücken gekehrt. Danach soll­ten Kom­mu­nis­mus auf der einen und Natio­nal­so­zia­lis­mus auf der ande­ren Sei­te dem impe­ria­lis­ti­schen Stre­ben Ruß­lands und Deutsch­lands ledig­lich eine neue Tün­che ver­lei­hen. Nun, Mit­tel­eu­ro­pa befin­det sich mit­ten zwi­schen die­sen Riesen.

Der Auf­stand von 1956 ver­sinn­bild­licht die Hart­nä­ckig­keit der natio­na­len Geis­tes­hal­tung im Schat­ten der UdSSR. In die­ser Lage befin­den sich auch Polen und Tsche­chi­en, ein­ge­kes­selt von impe­ria­len Groß­räu­men. Ungarn sticht seit nun­mehr zwei Jahr­hun­der­ten durch sei­ne poli­ti­schen wie kämp­fe­ri­schen Fähig­kei­ten her­vor, mit deren Hil­fe es sei­nen Kurs trotz wid­ri­ger Umstän­de bei­zu­be­hal­ten ver­sucht. Vik­tor Orbán ist heu­te des­sen Gesicht.

élé­ments: Auf der inter­na­tio­na­len Büh­ne strei­ten heu­te zwei Ungarn um den Wahr­neh­mungs­vor­rang: Geor­ge Sor­os und Vik­tor Orbán. Ver­sinn­bild­licht die­ses Duell die gro­ßen Schlach­ten von morgen?

Gibe­l­in: Mit Sicher­heit die gro­ße Schlacht von heu­te: das heißt die Voll­endung oder aber das Schei­tern jener »Neu­en Welt­ord­nung«, die Prä­si­dent Geor­ge Bush am Ende des Kal­ten Krie­ges ver­spro­chen hat­te. Die zwei Lager haben gegen­sätz­li­che Zie­le. Sor­os, der sich mit Beginn der 1980er Jah­re an die Spit­ze der inter­na­tio­na­len Spe­ku­la­ti­on gestellt hat­te, ist einer der Prot­ago­nis­ten der Neu­en Welt­ord­nung. Orbán hin­ge­gen geht es dar­um, dem unga­ri­schen Staat einen gewis­sen Hand­lungs­spiel­raum im Diens­te der natio­na­len Kon­ti­nui­tät zu sichern – unter dem Beschuß unzäh­li­ger feind­se­li­ger Kräfte.

Von gro­ßer Wich­tig­keit ist dabei, daß das unga­ri­sche Volk 2010 eine Ent­schei­dung getrof­fen hat und daß Orbán 2014 und 2018 erneut mit einer kon­sti­tu­tio­nel­len Mehr­heit ins Par­la­ment ein­ge­zo­gen ist. Mehr noch: Die glo­ba­lis­ti­schen Gewalt­strei­che zuguns­ten einer sys­te­mi­schen Migra­ti­on und einer gesell­schaft­li­chen Umwand­lung zwan­gen Ungarn, eine illi­be­ra­le Alter­na­ti­ve zum Modell der »offe­nen Gesell­schaft« immer kla­rer herauszuarbeiten.

élé­ments: Wie wür­den Sie die poli­ti­sche Per­sön­lich­keit Orbáns definieren?

Gibe­l­in: Die vor­her erwähn­ten zwei Lager bil­den die Kulis­se. 1988 ist Vik­tor Orbán eines der Grün­dungs­mit­glie­der des Bun­des Jun­ger Demo­kra­ten (Fidesz), die im west­li­chen Modell eine Aus­bruchs­mög­lich­keit aus der real­so­zia­lis­ti­schen Skle­ro­se sehen. Doch ist der jun­ge anti­kom­mu­nis­ti­sche Dis­si­dent damals kaum dar­über hin­aus­ge­gan­gen; die natio­nal­kon­ser­va­ti­ve Keh­re des Fidesz zeich­net sich erst ab 1993 ab.

Zudem haben die sozia­lis­ti­schen Eli­ten ihr Män­tel­chen schnell nach dem Wind gehängt, als sie sich die libe­ra­le Ideo­lo­gie zu eigen mach­ten und die Lin­ke des unga­ri­schen poli­ti­schen Spek­trums besetz­ten. Im Gegen­satz zu die­sen wet­ter­wen­di­schen »Volks«-Vertretern bemüh­te sich Vik­tor Orbán um eine Ver­an­ke­rung im Volk. Die­se unbe­irr­te Aus­rich­tung erklärt sich durch sei­ne sozia­le Her­kunft: Orbáns Fami­lie leb­te auf dem Land, das hat zwei­fels­oh­ne sein poli­ti­sches Schick­sal mit­be­stimmt: Im Lau­fe der drei­ßig Jah­re sei­ner poli­ti­schen Kar­rie­re schält sich immer deut­li­cher das Pro­fil eines auto­ri­tä­ren Demo­kra­ten heraus.

élé­ments: Der Popu­lis­mus scheint an einem vor­pro­gram­mier­ten Ver­schleiß zu kran­ken, der ihn dar­an hin­dert, eine dau­er­haf­te Ein­rich­tung zu wer­den. Aus die­ser Per­spek­ti­ve ist Orbán eine Anoma­lie. Was unter­schei­det ihn von den übri­gen popu­lis­ti­schen Leadern?

Gibe­l­in: Vik­tor Orbán hat­te sich schon früh enga­giert. Die jun­gen Dis­si­den­ten, die sich zu einer Grup­pe zusam­men­schlos­sen, als er 25 Jah­re alt war, bil­den den har­ten Kern sei­nes Teams, das zehn Jah­re spä­ter an die Macht kam. Der Fidesz ist eine orga­ni­sier­te, fest eta­blier­te und auf ihren cha­ris­ma­ti­schen Anfüh­rer aus­ge­rich­te­te Par­tei. Die­ser ist als Poli­ti­ker ein schreck­li­cher Geg­ner, unleug­bar von Macht­hun­ger getrie­ben, und er konn­te in Buda­pest als unum­strit­te­ner Anfüh­rer der unga­ri­schen Rech­ten die popu­lis­ti­sche Grund­strö­mung auffangen.

Der unga­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent ist eine Syn­the­se poli­ti­scher Knecht­schaft und natio­na­ler Grö­ße. Im Gegen­satz zu ande­ren popu­lis­ti­schen Lea­dern begnügt er sich nicht mit der Rol­le des Bauch­red­ners, der ledig­lich die Unzu­frie­den­hei­ten sei­nes Vol­kes kund­tut. Außer­dem besitzt er ein untrüg­li­ches Gespür für his­to­risch ein­ma­li­ge Gele­gen­hei­ten. Ange­fan­gen mit dem Fall des Kom­mu­nis­mus bis hin zum apo­ka­lyp­ti­schen Ver­fall des libe­ra­len Wes­tens weiß er die Gunst der Stun­de zu nut­zen und die Ver­wer­fun­gen des Sys­tems auszubeuten.

Ange­sichts der seit 2008 glei­cher­ma­ßen tota­li­tä­ren wie künst­lich erzeug­ten Finanz­ma­trix ver­leiht Orbán sei­nen poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen ein phi­lo­so­phi­sches Gewicht, wenn er das Chris­ten­tum gegen den libe­ra­len Wes­ten ins Feld führt, den Wert der Arbeit gegen ein Ster­ben auf Kre­dit, die Fami­lie gegen das sich selbst ent­wer­fen­de Indi­vi­du­um usw. Und dies gera­de des­halb, weil eine aus­ge­gli­che­ne, ihre Früch­te zei­ti­gen­de Ord­nung die ein­zi­ge rea­lis­ti­scher­wei­se anzu­stre­ben­de Opti­on ange­sichts des nihi­lis­ti­schen Cha­os ist, das (noch) dominiert.

élé­ments: Orbán ist der ers­te und vor­erst ein­zi­ge Staats­chef, der sich expli­zit auf den Begriff des »Illi­be­ra­lis­mus« beruft. Ist die­ser Illi­be­ra­lis­mus geeig­net, dem Popu­lis­mus einen poli­ti­schen Inhalt zu geben?

Gibe­l­in: Die libe­ra­le Logik fled­dert den poli­ti­schen Kör­per, um auf die­se Wei­se die opti­ma­le Wirt­schaft­lich­keit des inves­tier­ten Kapi­tals zu garan­tie­ren. Damit aber setzt sie den Groß­teil des Vol­kes und des­sen his­to­ri­sche Kon­ti­nui­tät aufs Spiel.

Orbáns Illi­be­ra­lis­mus bedeu­tet die Rück­kehr des Poli­ti­schen. Und selbst wenn es sich nur um eine par­ti­el­le Kon­troll­über­nah­me han­delt, so stel­len sei­ne Anstren­gun­gen doch einen star­ken Kon­trast zur bei­spiel­lo­sen Abdan­kung der poli­ti­schen Eli­ten im Wes­ten dar. Die ers­te erfor­der­li­che Tugend ist Mut – eine sel­ten anzu­tref­fen­de Res­sour­ce in unse­rer Zeit.

élé­ments: Orbáns Ent­wick­lung ist inter­es­sant: vom Libe­ra­lis­mus der 1990er Jah­re hin zum Illi­be­ra­lis­mus der 2010er Jah­re. Schwer­lich kann man sie als oppor­tu­nis­ti­schen Win­kel­zug abtun …

Gibe­l­in: Mit­tel­eu­ro­pa ist ein Bau­stein des christ­li­chen Wes­tens – im Gegen­satz zur ortho­do­xen Welt. Der Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus hat – in den Augen der betrof­fe­nen Län­der – eine Rück­kehr zur Nor­ma­li­tät ermög­licht. Das Kräf­te­ver­hält­nis war uner­bitt­lich: Ser­bi­en hat für sei­nen Ansatz eines drit­ten Weges mit der Zer­le­gung sei­nes Ter­ri­to­ri­ums bezahlt.

Übri­gens war die rasan­te Ent­wick­lung, die das west­li­che Eu­ropa neh­men soll­te, damals kaum abzu­se­hen. Ein Besuch in Ber­lin, Paris oder Mai­land, die Lek­tü­re der dama­li­gen­Schul­bü­cher – all das ver­moch­te die jun­gen Anti­kom­mu­nis­ten vor drei­ßig Jah­ren kaum vor den Kopf zu sto­ßen. Heu­te hin­ge­gen tren­nen sich Ungarn und Polen von einem toten Stern, der zum Schwar­zen Loch gewor­den ist. Die Lage der west­li­chen Län­der erin­nert an jene des berühm­ten Fro­sches im Topf, der lang­sam auf­ge­kocht wird, ohne Schock also.

élé­ments: Wie kann man der EU wider­ste­hen, ohne die EU zu ver­las­sen? Wird dies ermög­licht durch das Zustan­de­kom­men regio­na­ler Alli­an­zen nach dem Vor­bild der Visegrád-Grup­pe? Wel­che Leh­re kön­nen wir Euro­pä­er dar­aus ziehen?

Gibe­l­in: Um einer unheil­vol­len Iso­la­ti­on vor­zu­beu­gen, ist Orbán um das Schmie­den eines mit­tel­eu­ro­päi­schen Kon­sen­ses bemüht, der am Ver­hand­lungs­tisch in Brüs­sel ein Gegen­ge­wicht dar­zu­stel­len ver­mag. Die­ses Ziel wur­de bis­her haupt­säch­lich in der Migra­ti­ons­fra­ge erreicht.

Es scheint über­haupt nur zwei Mög­lich­kei­ten zu geben, die EU zu beur­tei­len: ent­we­der als einen para­si­tä­ren Befall des Kon­ti­nents oder aber als den uner­läß­li­chen euro­päi­schen Rah­men in unse­rer Zeit, wie es vor zwei Jahr­hun­der­ten die Hei­li­ge Alli­anz war oder vor tau­send Jah­ren das Hei­li­ge Römi­sche Reich Deut­scher Nati­on. Mitteleu­ropa zeigt da einen prag­ma­ti­schen Weg auf.

élé­ments: Mehr­hei­ten sind unbe­stän­dig. Wie sehen Orbáns Chan­cen bei der nächs­ten Wahl aus?

Gibe­l­in: Ange­sichts der gegen­wär­ti­gen geschicht­li­chen Über­hit­zung erweist sich jede vor­schnel­le Pro­gno­se als müßig. Was wird aus­schlag­ge­bend sein? Macht­ver­schleiß oder System­erschöpfung, ein mög­li­cher Feh­ler Orbáns oder der glo­ba­lis­ti­sche Irr­sinn? Die Waag­scha­len sind stän­dig in Bewegung.

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In Heft 101 der Sezes­si­on (April 2021) füh­ren wir unse­re Erkun­dung der unga­ri­schen Lage inten­siv fort. Abge­druckt sind ein pro­gram­ma­ti­scher Auf­satz eines unga­ri­schen Rechts­in­tel­lek­tu­el­len und his­to­ri­sche Beleuch­tun­gen unga­ri­scher Zäsuren. 

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Kommentare (1)

Volksdeutscher

17. Oktober 2021 18:42

- "Auf der internationalen Bühne streiten heute zwei Ungarn um den Wahrnehmungsvorrang: George Soros und Viktor Orbán."

Mit Verlaub, diese Behauptung muß energisch korrigiert werden, denn die angegebene ethnische Herkunft beider politischer Akteure hinkt. Im Falle von George Soros (sprich: schorosch), geboren als Schwarcz György, weiß man, daß er ein liberaler Jude aus Ungarn ist, was er nie geleugnet hat (wie André Kostolanyi kein Ungar, sondern ebenfalls ein Jude aus Ungarn war). Über die Herkunft von Viktor Orbán weiß man nichts Genaues, es kursieren zwei urbane Legenden, wonach er kein Ungar, sondern entweder von jüdischer (Oppenheim) oder zigeunerischer Herkunft (Orsós) sei und einer seiner Vorfahren väterlicherseits irgenwann mal in der Vergangenheit den Namen auf Orbán geändert hätten. Beweise gibt es weder für die eine noch für die andere Version.