Das Feld ist ideologisch so deutlich abgesteckt, daß es schwerfällt, ausgerechnet aus der Geschichtswissenschaft Innovatives zu erwarten; selbst dann nicht, wenn der Untertitel von einer „deutschen Affäre“ spricht, was immerhin nach einer leidenschaftlichen Angelegenheit klingt. Insofern ist die Aufregung erklärungsbedürftig, die es um das Buch von Hedwig Richter (München: C.H. Beck 2020, 400 Seiten, 26 Euro) vor allem in der Geschichtswissenschaft gegeben hat (und noch gibt).
Hedwig Richter, geb. 1973, ist seit Januar 2020 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bundeswehr-Universität in München. Für ihre Dissertation über den Pietismus in der DDR (2008) wurde sie ebenso wie für ihre Habilitation, eine vergleichende Studie über die Wahlen in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert (2016), ausgezeichnet.
Letztere wurde ähnlich kontrovers besprochen wie ihr aktuelles Buch über die Demokratie, das im August 2020 im Verlag C.H. Beck erschien. Die Aufnahme in den Feuilletons war zwiespältig. In der Süddeutschen gab es einen Verriß von Franziska Augstein, in der FAZ ein Lob von Stephan Speicher, die Taz, der Spiegel und der Deutschlandfunk urteilten kritisch in verschiedenen Abstufungen. Als das Buch in der dritten Auflage vorlag, was für solch ein Thema sehr beachtlich ist, griffen zwei Kollegen von Richter zur Feder und ließen kein gutes Haar an dem Buch.
Christian Jansen, Professor in Trier, gibt auf der Rezensionsplattform H‑Soz-Kult (Februar 2021) den enttäuschten Leser, der einen Bestseller zu dem Thema aus volkspädagogischen Gründen gerne sieht, aber einen anderen erwartet hat. Er bemängelt sowohl Formalia (fehlerhafte Belege), Schludrigkeiten in der Argumentation (unscharfe Begriffe, fehlerhafte Kontextualisierungen, banale Formulierungen, Nichtbeachtung des Forschungsstandes zu einzelnen Aspekten) als auch einige Wertungen Richters, die seiner Meinung nach die preußischen Reformen nach 1806 zu positiv sieht (und zu oft Nipperdey zitiert).
Positiv beurteilt er lediglich Richters Integration der „Körpergeschichte“ in die Demokratiegeschichte: „Für Richter ist die entscheidende Voraussetzung für (moderne) Demokratie und die Idee der Gleichheit, dass die Menschen den Körpern ihrer Mitmenschen Respekt zollten und ‚Folter und Prügelstrafen nicht mehr als Unterhaltungsspektakel, sondern als widerlich, schließlich sogar als Skandal‘ empfanden.“ Das hält Jansen für eine originelle These, wohingegen er die anderen Thesen Richters als „konsensfähig“ beurteilt.
Der zweite Kollege, der auf der Plattform sehepunkte zur Feder griff, Andreas Wirsching, ist Professor in München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, womit sein Wort in diesen Fragen einiges Gewicht hat. Auch er hat Formalia und Begriffsunklarheiten zu bemängeln, geht Richters Buch aber eher ideologisch an, so daß man der Meinung sein könnte, man habe es bei dem Werk mit einer revisionistischen Schrift zu tun.
Bei Richter, so Wirsching, stünden am Ende „auch die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und mit ihnen der Nationalsozialismus in einem strukturellen Zusammenhang mit der Demokratie“. Richters Satz: „Der Nationalsozialismus entstand aus einer Demokratie und aus weit über hundert Jahre alten demokratischen Traditionen“, sei „unsäglich“.
Richter spiele mit ihrer „linearen Parlamentarisierungsthese“, die längst überholt sei, „jenen neo-nationalistischen Kräften in die Hände, die die deutsche Geschichte gerne im Sinne einer gerade im internationalen Vergleich harmlos-demokratischen Linearität umschreiben würden“.
Nach diesen Frontalangriffen aus dem Kollegenkreis ergriff Patrick Bahners in der FAZ das Wort, um auf einige Merkwürdigkeiten hinzuweisen. Denn sosehr sich die Kritiker auch in der Aufzählung von verletzten Wissenschaftsstandards ergingen, am Ende bestehe der eigentliche Skandal für die beiden darin, daß Richters Buch so erfolgreich sei, es sich nicht nur gut verkaufe, sondern auch im (ahnungslosen) Feuilleton unkritisch betrachtet worden sei.
Es fällt Bahners leicht, letzteres zu entkräften (siehe oben):
Das Bild einer Einheitsfront ahnungsloser journalistischer Rezensenten, welche die Fachkritiker gezwungen habe, das ganz scharfe Messer auszupacken, ist eine Legende – eine umgekehrte Dolchstoßlegende, die der Entschuldigung der Messerstecher dient.
Bahners kommt zu dem Schluß, daß die freudlosen Kollegen neben dem Neid auf den Erfolg auch „das Spielerische, die gewagte Kombination von Thesenbildung und Enthusiasmus“, störe.
In der Welt kommt Marc Reichwein zu einem ähnlichen Resümee der Debatte, ordnet diese aber in einen größeren Zusammenhang ein, wenn er spekuliert, ob die Präsenz in Social-Media-Kanälen wie Twitter, in dem Richter über 18.000 Follower verfügt, für die Reputation mittlerweile wichtiger sei als wissenschaftliche Korrektheit:
Dass der sonst so sophistisch an Begrifflichkeiten interessierte Bahners den von Wirsching an Richters Bücher herangetragenen Vorwurf der begrifflichen Unschärfe nonchalant überging, spricht Bände. Twitter fördert und fordert Solidarität unter Gleichgesinnten, Rudelbildung ist dort im Zweifel wichtiger als eine Debatte zur Sache.
Andererseits konstatiert Reichwein in der deutschen Geschichtswissenschaft eine Intoleranz gegenüber „externen Perspektiven“, wofür er die Reaktionen auf Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker und Clarks Schlafwandler als Beleg anführt.
(Teil 2, zum Gegenstand der Debatte, folgt morgen.)
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Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre – hier bestellen.
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Hedwig Richter – eine deutsche Affäre? Darüber diskutierten wir in der 17. Folge des Schnellroda-Podcasts »Am Rande der Gesellschaft«.