4. Geist ist das, was uns hinaufzieht, ist Vertikalspannung, Hingezogenheit zu Gott, Sehnsucht nach einer höheren Ebene. Der Erwachsene wird gehoben und zieht dadurch das Kind.
Hans-Magnus Enzensberger schrieb einmal über den mittelalterlichen Gelehrten Philipp Melanchthon, der ein Klosterleben führte, dieser sei “ein reicher Geist in einer objektiv beschränkten Welt” gewesen. Unsere Außenwelt ist im Laufe eines Jahres objektiv beschränkt worden, ein Ende des Dauerlockdowns und der Repressionen ist derzeit nicht abzusehen. Aus der drangvollen Enge der Zwangsmaßnahmen, die für uns angesichts unserer Kinder besonders spürbar werden, führt indes ein Weg hinauf. Bedrängnis hat den Sinn, daß im Menschen zunächst Sehnsucht nach Freiheit entsteht. Diese kann sich aber nicht unmittelbar Bahn brechen, sondern aus dem Schmerz des Widerspruchs zwischen ursprünglicher Freiheit und offenkundigem äußerem Zwang entsteht etwas Neues: der Wunsch danach, daß der feindlichen Macht der Zugriff auf meine Seele und die Seelen meiner Kinder verwehrt wird. Dies aber kann ich als Mutter genausowenig wie jeder Mensch allein bewerkstelligen, sondern hier muß ich mich selber erst heben lassen. Der er-zogene, empor-gezogene Erwachsene erst kann erziehen. Ein “reicher Geist” zu werden während der Ausgangssperren ist keinesfalls ein schlechter Trost. Denn es gibt große Vorbilder des Widerstands und der Gottsuche in unserer Tradition.
Geistige Ernährung ist in schlechten Zeiten wichtiger denn je. Wem Kirchen verwehrt sind (die Unterwerfung der Amtskirchen unter das neue weltliche Glaubenssystem und seine Rituale hält so manchen aufrechten Christen fern), der versucht verzweifelt, im häuslichen Alltag eine praxis pietatis zu entwickeln. Ich beschrieb schon in Wir erziehen die Szene aus Gottfried Kellers Grünem Heinrich, in der Heinrichs Mutter das Tischgebetsprechen einführen will – Heinrich schweigt beharrlich. Kinder spüren, wenn Eltern krampfhaft eine Lücke füllen wollen. Es gibt tausend Bücher, Sprüche, Gebete, Rituale, die niemandem zu nahe treten, winzig klein sind inmitten des schnöden Alltags und doch eine Aufwärtsbewegung spüren lassen. Ab heute gibt es mehr als das immergleiche Frühstückmittagabendbrot.
5. Askese heißt, sich selber führen zu können, die »Führung in mir« zu verspüren. Sich-etwas-versagen-Können, Selbstdisziplin, Entwicklung von Versuchungswiderstand: Askese ist innere Freiheit.
Askese besteht generell darin, daß man sich selbst weniger erlaubt, als von außen erlaubt ist,
schrieb der Kulturtheoretiker Boris Groys. Auch hier könnte das Mißverständnis (ähnlich wie bei der Distanz und weiter unten bei der Verlassenheit) entstehen, ich verdopple nur die Maßnahmenpropaganda und wolle wohl noch weniger erlauben, als was uns gerade noch erlaubt sei. Groys fährt jedoch erklärend und für den von mir gemeinten Zusammenhang sehr erhellend fort:
Die Askese besteht nicht darin, daß man die Grenzen positiv akzeptiert, die einem von außen aufgezwungen sind, sondern darin, daß man seine Grenzen viel enger zieht, als es nötig ist. Erst durch diese enge Limitierung werden Souveränität, Autorschaft, Autonomie gewonnen.
Ich schrieb für das Magazin COMPACT einen Beitrag über Kinder im “Lockdown”. Darin fragte ich:
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß alle Leute unentwegt davon reden, was sie „nach Corona“ machen wollen? Auf Kinder hat dieser Köder eine besonders starke Wirkung, ähnlich wie versprochene Süßigkeiten oder Geschenke. Eine Lehrerin verkündete bei der ersten Online-Stunde nach Weihnachten, dass die Klasse im Sommer auf Klassenfahrt fährt, sie ein Sportfest veranstalten und endlich wieder Schwimmunterricht haben werden. Die Pfadfindergruppe rüstet sich schon zum Sommerlager. Sie meinen es gut, sie hoffen es ja auch selber, weil ihnen versprochen worden ist. Doch Vertrösten bedeutet, einen Schwächeren bei Laune zu halten – und zwar die Behörden von der Regierung, die Pädagogen von den Behörden, die Eltern von den Pädagogen, die Kinder von beiden, immer von oben hinunter zum Schwächeren. „Ein Mächtiger deckt den anderen; hinter beiden stehen noch Mächtigere“ (Koh 5,7) heißt es schon in der Bibel. Die Devise muß lauten: nicht utopisch wegflitzen in die Zeit “nach Corona” oder davor, als alles noch heile war. Im Hier und Jetzt zu leben hilft gegen Köder.
Versuchungswiderstand muß sich derzeit gegen einige neue Verlockungen richten. Es wäre ein leichtes, durch Test und Impfung das “alte Normal” zurückzubekommen, flüstert die Propaganda. Selbst wenn man diesen Methoden gründlich skeptisch gegenübersteht, hören sie nicht auf zu locken: für den einen Schwimmbadspaß oder die Reise in die alte Heimat könnte man doch … Selbst wann man da hartbliebe, rutscht sofort der nächste Köder nach: die Demo gegen Testzwang in den Schulen, juristische Erfolge gegen PCR-Test und Maske bei Kindern, Auswandern in ein Land ohne Lockdown. Askese hieße hier, sich einen Träumereistop selbst zu verordnen: Innerlich seinen Frieden damit zu machen, daß selbst bei gewissen Siegen gegen das System immer ein Rest bleiben wird, dem man nicht auskommen kann, und der deshalb ertragen werden muß.
Kindern kann man Askese nicht direkt abverlangen, zumal deren ganzer Sinn Selbst-Disziplin ist und nicht fremdauferlegte Disziplin. Ihnen die Hoffnung auf den Urlaub oder die Freunde madig zu machen führt dazu, daß sie “nimmer über Corona reden” wollen, wie ich selbst erfahren mußte. Askese teilt sich mittelbar mit: die “objektiv beschränkte Welt” wird nicht bejammert, sondern täglich neu geordnet, gereinigt, genutzt.
6. Verlassenheit und gelegentliches Ausgesetztsein in Erprobungssituationen sind die Voraussetzungen für das Wachstum der inneren Kräfte.
Der Verlassenheit hatte ich den größeren Teil des COMPACT-Beitrags gewidmet. Hier will ich noch einmal neu ansetzen.
Für die Zeit vor 2020 habe ich feststellen können: Je enger die Freizeitaktivitäten getaktet waren, je länger die Aufbewahr-Zeit in Ganztagsschule und Hort war, je mehr Eltern ihre eigenen Konsumbedürfnisse den Kindern übergestülpt haben, desto weniger gute, entwicklungsförderliche Verlassenheit konnten die Kinder erleben. Ist es also positiv zu bewerten, daß Kinder plötzlich nicht mehr auf diese Weise in Dauerbeschäftigung eingespannt sind, weil das soziale Leben durch die „Corona“-Maßnahmen schockgefroren worden ist?
Keineswegs. Tagesbetreuung und Freizeitpark, die nun flachfallen, sind ja genauso von Übel wie häusliche Quarantäne, Bildschirmeinsamkeit und der Spaziergang um den Block “zur psychischen und physischen Erholung”, wie es im Gesetzestext der Stadt Wien zur Ausgangssperre heißt. Der Teufel wird mit dem Beelzebub ausgetrieben.
Gerade mit Blick auf den Erziehungsgrundsatz der heilsamen Verlassenheit müssen wir konstatieren: vom Ideal bleibt kaum etwas übrig. Forderten Erziehungsratgeber der 90er und 2000er Jahre noch “Mehr Matsch!” oder fragten nach dem “Letzten Kind im Wald?”, richtete sich der Appell an Eltern als entscheidungsfähige Individuen, die einen Gestaltungsspielraum hatten, den sie sich bewußtmachen mußten und dann Wohnort, Schultyp oder Wochenendgestaltung ändern. Die Lebenswelt wurde inzwischen fast vollständig vom System kolonisiert. Auch Dorfkinder sind online und der Matschplatz ist gesperrt.
Bleibt ein Aspekt der Verlassenheit, dem sich unser Vorlesebuch ausgiebig widmet: das Abtauchen in eigene Welten beim Lesen. Auch hier wird deutlich: selbst die Alltagsgeschichte einer Familie, in die ein Schweinchen einzieht, spielt in einer verlorenen, mit prallem Leben gefüllten Welt ohne Masken, Abstand und Computer. Dies allerdings trifft – vom aktuell gehypten weil “so aktuellen” Genre des dystopischen Jugendromans abgesehen – auf alle Kinderbücher zu (lustige Maskenbilderbücher und Querdenkerschimpfe vom Polizistenkind kloppen wir ungelesen in die Tonne). Vorlesen jedenfalls ist der für uns noch gangbare Balanceakt zwischen Engung und Weitung.
7. Unverdrehtheit ist eine Mischung aus gesundem Menschenverstand, Lebenserfahrung und erprobten Maßstäben. Sie wappnet gegen Manipulation, Propaganda und Täuschung.
Dieser Grundsatz ist in der unmittelbaren Gegenwart und erwartbaren Zukunft von entscheidender Bedeutung. Hier brauchen wir nicht zu zagen, ob uns unsere altbewährten Maximen und Reflexionen noch helfen. Hier geht’s in die Vollen!
Ein erster, ja der entscheidende Schritt ist geschafft, wenn die uns anvertrauten Kinder keine Angst verspüren. Keine Angst, mit Kindern zu spielen, Leuten die Hand zu geben, Oma zu besuchen oder todkrank zu sein, wenn sie eine Rotznase haben. Man kann es kaum anders denn als eine geglückte “Psy Op” bezeichnen, daß eine überwältigende Mehrheit von Gesunden dieser Tage glaubt, “asymptomatisch” zu sein.
Kindern ohne einen triftigen Grund inmitten ihrer geistigen Entwicklung solche Maßnahmen und so eine Verantwortung aufzubürden, halte ich für höchst bedenklich,
äußerte sich der ehemalige Gesundheitsamtsleiter Friedrich Pürner. Das Aufbürden einer nicht entwicklungsgemäßen Verantwortung gehört zum selben Problemkreis wie die digitale Zweitidentität. Falsche Verantwortung kommt den Lesern von Wir erziehen bekannt vor. Dort habe ich den Soziologen Frank Furedi erwähnt, der es “paranoid parenting” nannte, Kinder gleichzeitig wie Babys überzubehüten und wie kleine Erwachsene verantwortlich für alles mögliche zu machen. Kinder über falsche Verantwortung zu manipulieren ist spielend leicht. “Willst du das nicht selber bestimmen?” lautet die Suggestivfrage. Auch das “verantwortliche” Händewaschen, Masketragen und Babyelefantenabstandhalten wird auf diese Weise erzeugt: “Du willst doch nicht schuld sein, wenn …”.
Ein nützliches Kriterium ist die einfachste Definition von Manipulation: wenn einer dem anderen seine Interessen als dessen Interessen unterjubelt.
Dieses Kriterium können wir als Eltern an jede einzelne Maßnahme, Statistik, Versprechung und Wortneuschöpfung des Systems herantragen. Älteren Kindern läßt sich diese Denkweise trefflich erklären. Ein gewisses Gefühl des “Wir-gegen-den Rest-der-Welt” kann daraus entstehen, mit dem man vorsichtig umgehen sollte. Im Elternhaus “die Lügen zu durchschauen” kann arrogant und weltfremd machen und insbesondere Jugendliche mit tiefgehender kognitiver Dissonanz strafen. Unverdrehtheit heißt nicht Weltverachtung, sondern birgt eine Aufgabe in sich: die Verdrehung der Welt wieder zurückzudrehen, damit sie ins rechte Lot kommt. Um das zu schaffen, benötigt man das gesamte Ensemble der Tugenden meines Erziehungsbuches. Drei folgen noch.
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Caroline Sommerfelds Wir erziehen. Zehn Grundsätze (2. Auflage) kann (und sollte) man hier bestellen.
Laurenz
Dieses Jahr habe ich mich spät entschlossen zu fasten, also die Fastenzeit quasi nach hinten verschoben, zwar keine Härtner-Kneipp-Tortur, aber quasi Kerker-Kost. Aber der Verzicht oder die CS-Askese, ist immer Luxus. Nur derjenige, der etwas hat, kann auch verzichten.
Aber was ist, wenn es nichts mehr zum verzichten gibt?
Es ist fast wie gestern, wenn ich mich an meine eigene Schulzeit erinnere. Im Gymnasium stellten meine verlinksten Mitschüler oft die Frage, "wie konnte die Machtergreifung der Nationalsozialisten passieren?". Heute frage ich mich, wo meine damaligen Mitschüler sind? Geschichte wiederholt sich, wir stehen vor demselben Phänomen.
Ich habe bezüglich des Netzzugangs keine so großen Sorgen, Frau Sommerfeld. Der nächste Blackout kommt gewiß. Dann verzichten alle, auch auf eine Anbindung an das Netz. Die in Deutschland verbliebene Aluminium-Bearbeitung mußte im letzten Jahr ca. 80x reduziert oder eingestellt werden. Das ist zwar nur ein Symptom, aber zumindest ein echtes.