Das sorgte für einige Aufregung im bundesrepublikanischen Blätterwald. Denn vor dem Hintergrund postkolonialen Schuldkults der Weißen, verbunden mit entsprechenden Rückgabe- und Entschädigungsforderungen, mußte dieser Vortrag wie eine vorhersehbare Provokation wirken.
Zumal Gilley (Jg. 1966), der in Portland Politikwissenschaft lehrt, zwei Jahre zuvor in einem wissenschaftlichen Aufsatz schon einmal eine Lanze für den Kolonialismus gebrochen hatte, und dafür die reflexartigen Ausgrenzungsmechanismen gegenüber unliebsamen Meinungen kennengelernt hatte. Gilley hat seinen Vortrag zu einem umfangreichen Essay ausgebaut, der jetzt als Buch (Lüdinghausen: Manuscriptum 2021, 198 Seiten, 25 Euro) erschienen ist, so daß die Überprüfung seiner Argumente nicht mehr durch die tendenziöse Berichterstattung verstellt ist.
Gilleys Interesse an dem Thema wurde durch den Widerspruch geweckt, der zwischen der gegenwärtigen Darstellung des Kolonialismus als globaler Folterkammer und den oftmals sehr positiven Erinnerungen der einstmals Betroffenen besteht.
Die Ausgangsfrage ist daher, woran man den Kolonialismus mißt. Daß er den heutigen Vorstellungen der westlichen Welt von individueller Selbstverwirklichung und universaler Gleichheit nicht genügt, liegt nahe, führt aber nur zu der banalen Einsicht, daß diesem Maßstab kein Moment der Vergangenheit genügt. Gilley hat sich daher dafür entschieden, die Zustände in den Kolonien, mit den Zuständen zu vergleichen, wie sie vor der Ankunft der Weißen und nach ihrem Abzug herrschten.
Ein weiterer sinnvoller Vergleich im Fall des deutschen Kolonialismus der mit den Zuständen in den Kolonien der anderen europäischen Mächte, den Gilley ebenfalls stellenweise anführt. Die Erkenntnisse, die Gilley auf diesem Wege gewinnt, sind nicht überraschend, sondern waren bis in die 1930er Jahre Konsens unter denjenigen, die sich wissenschaftlich mit den deutschen Kolonien beschäftigten und damit keine politischen Forderungen gleich welcher Art verbanden. Ein Beispiel, das Gilley lediglich erwähnt, ist das Buch „Macht und Ende des deutschen Kolonialreiches“ (1930) der amerikanischen Historikerin Mary E. Townsend, das bereits 1932 in deutscher Übersetzung erschien (1988 als Nachdruck).
Gilley widmet jeder deutschen Kolonie ein Kapitel, in dem er jeweils schlaglichtartig die Lücke zwischen Wirklichkeit und heutiger Interpretation beleuchtet. An vorderster Stelle der postkolonialen Anklagen gegen Deutschland wird immer die Niederschlagung des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwest genannt.
Gilley schildert die kriegerische Tradition der beteiligten Stämme, der Herero und der Nama, die sich vor der deutschen Landnahme gegenseitig mit Raub- und Mordzügen dezimierten. Die deutsche Herrschaft sorgte zunächst für eine Befriedung. Nach einem Ausbruch der Rinderpest kam es zu einer Hungerkatastrophe, in der die gegenseitigen Raubzüge wieder aufflammten.
Die verstärkte Ansiedlung Deutscher entgegen der Empfehlung der Kolonialverwaltung vor Ort führte dann zum Konflikt, der schließlich durch die Berufung General von Trotha unter massiver Gewaltanwendung erstickt wurde. Da Trothas Vorgehen unangemessen und selbstherrlich war, fiel er beim Kaiser in Ungnade und wurde er nach seiner Abberufung nicht weiterverwendet.
Für Gilley steht fest, daß Trothas Handeln nicht seinen Befehlen entsprach, und man aus diesen Geschehnissen nicht auf den deutschen Kolonialismus überhaupt schließen kann. Vielmehr habe es sich um eine Ausnahme von der Regel gehandelt, die spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Entwicklung der Kolonien zu rechtsstaatlich verfaßten Territorien vorsah, in denen die einheimische Bevölkerung eine zunehmend gleichberechtigte, partnerschaftliche Rolle übernehmen sollte.
Als größte Erfolgsgeschichte in dieser Hinsicht bezeichnet Gilley Deutsch-Ostafrika, wo die Deutschen für eine gute Verwaltung und eine wirtschaftliche Blüte sorgten. Der wichtigste Erfolg gelang im Kampf gegen die Sklaverei, selbst deren mildere Form, die übliche Haussklaverei, verschwand weitgehend. Hinzu kamen Bemühungen in den Bereichen der Bildung und Gesundheitsweisen, die bei den meisten Einheimischen zu dem Schluß führten, daß die Herrschaft der Deutschen für sie ausschließlich positive Folgen habe.
Die Bedrohung durch Krankheiten (Bekämpfung der Schlafkrankheit durch Robert Koch!) und Gewalt ging zurück, das Bildungsniveau und die Einkommensmöglichkeiten stiegen, und Formen der Selbstverwaltung wurden nach und nach in die Verwaltungspraxis aufgenommen. Dieser Prozeß läßt sich, mit lokal bedingten Unterschieden, in allen deutschen Kolonien beobachten.
Die Wegnahme der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg löste daher bei den Einheimischen keine Jubelstürme aus, zumal sich an ihre Stelle die Alliierten setzten, die in ihrer Herrschaftspraxis weitaus weniger Rücksicht auf die Interessen der Einheimischen nahmen.
Der Niedergang der ehemaligen deutschen Kolonien setzte sich mit der Erringung der Unabhängigkeit fort, so daß vielen Einheimischen die deutsche Herrschaft wie eine mythische Zeit vorkommt. Diese Empfindungen und die Tatsache des Niedergangs hat nicht dazu geführt, daß diese Zeit in einem angemessenen Licht erscheint.
Die Schuld dafür sieht Gilley bei den linken und rechten Extremisten, für die der Kolonialismus ein liberales Feindbild gewesen sei. Beide, Nationalsozialisten wie Kommunisten, hätten die Kolonialvölker für ihre mörderische Ideologie eingespannt. Dagegen sei der Kolonialismus ein liberales Projekt gewesen, das für alle das Beste gewollt habe. Diese vielleicht etwas gewaltsame Gegenüberstellung hat für Gilley den Vorteil, daß er die heutigen Ankläger des Kolonialismus auf der Seite der Extremisten verorten kann, ohne die Frage des Fortschritts überhaupt zu problematisieren.
Nimmt man hingegen dessen ideologischen Konsequenzen in den Blick, dann sind die heutigen Ankläger eher auf der Seite der liberalen Menschheitsbeglücker zu finden, nur daß deren Fortschritt mittlerweile jeden Bezug zur Lebenswirklichkeit verloren hat.
Eine interessante, wenn auch etwas abseitige Ergänzung finden Gilleys Ausführungen in einem Buch (Mittenwalde: factum coloniae 2020, 252 Seiten, 23,80 Euro), das sich in Liebhabermanier dem Weltenbummler Stefan von Kotze (1869–1909) widmet. Dieser stammte aus einem alten altmärkischen Geschlecht, Bismarck war sein Großonkel, und galt schon in jungen Jahren als schwarzes Schaf der Familie, ein Ruf, dem er treu bleiben sollte.
Während seine Brüder der Familientradition gemäß entweder beim Militär oder in der Verwaltung ihr Auskommen suchten, brach Stefan die Schule ab und zog in die weite Welt, in der er bald sein schriftstellerisches Talent entdeckte. Nach kurzem Dienst auf einem Segelschulschiff der Kaiserlichen Marine ging er ca. 1887 als Angestellter der Neuguinea-Compagnie für ca. drei Jahre in die pazifischen Kolonien des Reiches.
Von 1892 bis 1900/01 hält er sich in Australien auf, wo er zunächst nach Gold schürfte und Rinder züchtete, bevor er für mehrere Zeitungen als Reporter tätig war, was ihn u.a. zu einem Abstecher zu den Südsee-Inseln führte. Der Kontakt zu den australischen Zeitungen hielt er auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland aufrecht, wo er vor allem für Berliner Zeitungen tätig ist. Ein Auftrag der Berliner Morgenpost führte ihn 1902 zu einer Rundreise um Afrika. Ein letztes Mal brach Kotze 1907 zu einer Reise auf, die ihn auf den Balkan führte. 1909 nahm er sich das Leben.
All das hätte sicher nicht dazu geführt, daß man sich an ihn erinnern müßte, wenn er nicht zahlreiche Bücher über seine Reisen verfaßt hätte. Seine Bücher über die Südsee, Australien und Afrika erlebten mehrere Auflagen, seine Berichte wurden in verschiedenen Zeitungen nachgedruckt und mit seinem Essay „Die gelbe Gefahr“ (1904) gab er einer allgemeinen Furcht der Jahre einen Namen, der sich bis heute als Schlagwort erhalten hat.
Für die Rezeption australischer Literatur in Deutschland spielt er die Rolle eines Wegbereiters und der Feminismus fand ihn ihm einen frühen Gegner, als er 1904 seinen „Altjungfernkoller“ veröffentlichte. Die Wertschätzung, die Kotze auch nach seinem Tod genoß, bringt nicht zuletzt ein Aufsatz von Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1918 zum Ausdruck, in dem er Kotze als ein seltenes Beispiel für deutsche Humoristen würdigt. Diese und andere Informationen über Kotze haben die Autoren Küttelwesch und Knapstein in einem Band zusammengetragen, der sich vor allem als Dokumentation versteht, so daß man bei der Lesbarkeit einige Abstriche machen muß.
In Bezug auf das Thema Kolonialismus sind Kotzes Texte ebenfalls interessant, da er sich an den teilweise erregten Debatten, die in der deutschen Öffentlichkeit über die Zustände in den Kolonien geführt wurden, gerne beteiligte. Er legte dabei eine kritische Haltung an den Tag, die aber eher einen zivilisationskritischen bzw. romantischen Zug hatte, wenn er über die Südsee schreibt: „Dafür hielt der preußische Paragraphen- und Polizeigeist Einzug, und vor ihm floh oder verbarg sich alles, was schlecht war in der Südsee, und leider auch alles, was schön und poetisch gewesen.“
Ein anderes Beispiel bietet einen interessanten Bezug zu Bruce Gilleys Verteidigung des deutschen Kolonialismus. Wenn dieser heute den Kameruner Martin Dibobe, der 1896 nach Deutschland kam, Schaffner bei der Berliner U‑Bahn wurde und die Tochter seines Vermieters heiratete, anführt, will er damit zeigen, daß die postkolonialen Ankläger in Dibobe keiner Fürsprecher haben. Denn dessen Brief aus dem Jahr 1919 wird heute in einer völlig verstümmelten Form verwendet, die den eigentlichen Sinn des Schreibens verfälscht. Dibobe klagt die Deutschen nicht an, sondern fordert sie auf ihre segensreiche Herrschaft fortzusetzen.
Dieser Dibobe taucht nun auch in Kotzes Essas „Die gelbe Gefahr“ auf, allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen. Kotze schildert eine Begebenheit, in der ein betrunkener Fahrgast mit dem schwarzen Schaffner aneinander gerät und seinen Anordnungen nicht Folge leisten will. Vor Gericht zieht der Fahrgast den kürzeren, was Kotze zu folgendem Resümee veranlaßt:
Ich will den Frevler nicht verteidigen. Aber man muß auf das energischste protestieren gegen die Einsetzung eines hergelaufenden Angehörigen einer Jahrtausende tief stehenden Rasse zum Vorgesetzten eines Weißen.
Trotz dieser Auffassung und dieses Erlebnisses, das nicht das einzige dieser Art gewesen sein dürfte, war Dibobe von der Vorbildlichkeit der deutschen Kultur so überzeugt, daß die französischen Herrscher ihn 1922 nicht nach Kamerun einreisen ließen, weil sie befürchteten, er würde einen prodeutschen Aufstand anzetteln.
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Bruce Gilley: Verteidigung des deutschen Kolonialismus, hier bestellen.
RMH
Im letzten Jahr wurde an den Maji- Maji Aufstand in deutsch Ostafrika erinnert. Ganz reibungslos ging es im Kolonialismus offenbar nie zu. Ich würde das Buch von Gilley, ohne es gelesen zu haben, noch überbewerten. Es scheint der redliche Versuch zu sein, zu historisieren, was grundsätzlich zu begrüßen ist, aber im Rahmen einer historischen Debatte gibt es weder etwas für das Heute zu instrumentalisieren noch zu verteidigen. Zu Kolonisieren und Imperien zu bilden, war Teil der europäischen Kultur, evtl. ist es sogar Teil der Menschheitskultur. Den Afrikanern auch Vorteile gebracht zu haben, stellt sich im Nachhinein wie eine aufgedrängte Bereicherung dar und kann nicht pathetisch zu einer "Verteidigung" herangezogen werden. Man gründete Kolonien nie als reine Projekte der Menschenliebe. Auf der anderen Seite sollten die Poc sich auch klar machen, dass Menschenrechte und Antidiskriminierung auf weißer Kulturgeschichte gründen, sie also beim Einfordern dieser Rechte eine kulturelle Aneignung vornehmen. Sklaverei hingegen scheint es in Afrika auch unabhängig von weißen Einflüssen gegeben zu haben.