Sein neues Buch Die Öffentlichkeit und ihre Feinde löste einen »Shitstorm« auf Twitter gegen ihn aus. Es hält allerdings wenig Anknüpfungspunkte für »uns« bereit, meint Caroline Sommerfeld. Benedikt Kaiser sieht das anders. Nachfolgend Sommerfelds Gedanken, Kaiser folgt.
Die Diskussion wird erst freigeschalten, nachdem beide Rezensionen online verfügbar sind.
– –
Worüber schreibt Bernd Stegemann? (I)
Da bin ich nun schon ausgesprochen theorieaffin und komme selber wie Bernd Stegemann von Niklas Luhmanns Systemtheorie her, doch das neueste Buch des Berliner Theatermannes will und will mir nicht so recht gefallen. Liegt es daran, daß ich nun einmal rechts bin und er links?
Daß die großen Gräben in der öffentlichen Kommunikation, von denen sein Buch handelt, uns nicht zueinanderkommen lassen? Ich will einmal sehen, ob wir nicht am Ende doch noch zusammenkommen.
So findet sich zunächst in Die Öffentlichkeit und ihre Feinde mancher Satz, der mir spontane Zustimmung entlockt. Ad „Wutbürger“ zum Beispiel dies: „Statt die falsch formulierte und an die Falschen gerichtete Wut in die richtige Form zu bringen, werden die Wütenden selbst zum Problem erklärt. So werden die Verteidiger einer zivilisierten Öffentlichkeit zum besten Schutzschild des Kapitalismus.“
Oder ad Bobo-Gutmenschen-Blase: „Die Pointe dieser Exklusion liegt darin, dass sie sich selbst als Inklusion versteht“ (mit einer Karikatur von Bernd Zeller gesprochen: „Wir sind die Toleranzelite. Aber das ist nicht ausgrenzend. Es muss sich ja keiner selbst ins Abseits stellen“).
Stegemann läuft an einigen Stellen zu linker „Verschwörungstheorie“-Hochform auf, wenn er zum Beispiel das Herrschaftsprinzip divide et impera folgendermaßen faßt: „Um die Gegner des Kapitals zu schwächen, ist es die beste Methode, wenn man unter ihnen Streit sät, so wie zwischen Migranten und einheimischen Arbeitskräften, oder auch zwischen Männern und Frauen (…) Das Meinungschaos der Spätmoderne ist darum kein unschuldiges Verirren in einer komplizierten Gegenwart, sondern eine ideologische Form, die konkreten Interessen dient.“
Luhmann bestimmte die Funktion der Öffentlichkeit als Infragestellung der Grenzen zwischen den sozialen Systemen. In der Öffentlichkeit treffen die Teilsysteme (Wirtschaft, Kunst, Religion, Recht usw.) in Form von Kommunikation aufeinander. So weit, so spätmodern. Denn
diese Feststellung gilt für eine „funktional ausdifferenzierte Gesellschaft“, in der Übergriffe einzelner Systeme auf andere als inakzeptabler Fundamentalismus gelten. Die alte Debatte, ob Systemtheorie kritisch verwendet werden kann oder sich konservativ-affirmativ zur bürgerlichen Gesellschaft verhält, wird von Stegemann eindeutig beantwortet: her mit dem Luhmann, dann wird klar, was gerade schiefläuft! Denn sowohl die Klima-“Religion“, als auch die „cancel culture“, die Politisierung der Geschlechterfrage und das „framing“ in den Massenmedien lassen sich trefflich als solche unzulässigen Übergriffe beobachten.
Doch je mehr sich die Gesellschaft gegenwärtig wieder ent-differenziert und in ein monolithisches Herrschaftssystem zusammenschmilzt, desto hilfloser wirken die Winke mit dem systemtheoretischen Zaunpfahl: So war doch die offene Gesellschaft nicht gemeint, Leute! Womöglich ist dann die gute alte Ideologiekritik wegweisender: Stegemann diagnostiziert der neoliberalen Ideologie den Trick, ihre eigene Ideologizität unsichtbar zu machen. Korrekt.
Aber dann fährt er fort: „Wenn niemand mehr bemerkt, dass er einer Ideologie folgt, gibt es niemanden mehr, der dagegen rebellieren könnte.“ Doch, uns! Heutzutage sind Rechte ideologiekritischer als Linke. Stegemanns Referenz auf Popper kann daher keine kritische Funktion mehr beanspruchen: die normative Forderung einer „offenen Gesellschaft“ hat die neoliberale Ideologie längst aufgeschluckt. Auch eine habermasianische „Öffentlichkeit“, wo sich „freie Meinungen ohne Angst begegnen“, gehört in die Konkursmasse der Spätmoderne.
Und noch ein Letztes: der normativ aufgeladene „Komplexitäts“-Begriff der kritisch auftretenden Systemtheoretiker. Bei Luhmann noch ein reiner Deskriptionsbegriff, müssen nun Probleme „in einer angemessenen, d.h. komplexitätstauglichen Form öffentlich formuliert“ werden, um „die Gesellschaft auf andere Verhältnisse vorzubereiten“. Ähnlich wie Armin Nassehi kann Stegemann unter „unterkomplex“ rubrizieren, was Populismus, Identitätspolitik, Corona- und Klimakampf, Gender- und cancel culture alles falschmachen, und was hinter der im „Anthropozän“ erforderlichen Komplexitätsbewältigungskompetenz leider zurückbleibt.
Luhmann hatte seinerzeit Gott als den „Beobachter dritter Ordnung“ eingeführt: die Transzendenz, von der aus alle Immanenz beobachtet werden kann, und auf die hin auch alle immanente Kommunikation latent ausgerichtet ist. Bernd Stegemanns Sehnsucht am Schluß seines Buches nach einer „Transzendenz“, die man vielleicht auch „Ökologie“ nennen kann, die jedenfalls das Verhältnis des Menschen zur Erde infragestellt und in der eine „neue Form der geistigen Einstellung entwickelt werden“ müsse, richtet sich eigentlich auf Gott.
In Gott findet sich das, was er sucht – Ernst von Lasaulx sprach (mit zahlreichen antiken Belegen) von der rerum concordia discors, der „zwieträchtigen Eintracht der Dinge“. Das „Anthropozän“ ist bei Lichte besehen ein Theozän.
– –
Bernd Stegemann Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Klett-Cotta-Verlag Stuttgart 2021, 384 Seiten, 22 €, hier bestellen.