Die Hamas feuert Raketen aus dem Gaza-Streifen nach Israel, worauf Israel überproportionale Vergeltung übt, bis wieder für einige Zeit halbwegs Ruhe im Karton herrscht und das Spiel von vorne beginnen kann.
Seit Israel 2005 seine Truppen an die Ränder des Gaza-Streifens verlegt hat, ist die Situation praktisch in einem permanenten latenten Kriegszustand festgefroren, der alle paar Jahre zu größeren Eruptionen führt. Es handelt sich hier um einen äußerst asymmetrischen Krieg: Im Vergleich mit den Israeli Defense Forces ist die Hamas eine Straßengang aus Detroit, die es mit der amerikanischen Armee aufnehmen möchte.
Diese ungleichen Verhältnisse schlagen sich auch in der der krassen Diskrepanz der Opferzahlen beider Seiten nieder. Der aktuelle Stand (1. 6. 2021) ist 16 : 285 Todesopfer zugunsten Israels, Kombattanten und Zivilisten zusammengerechnet. Bisher sind also etwa achtzehnmal so viele Araber getötet worden wie Israelis. Laut Angaben der UNO sind 72,000 Palästinenser in Gaza im Zuge der israelischen Bombardements obdachlos geworden.
Das kann sich theoretisch noch verschlimmern: Bei der berüchtigten “Operation Gegossenes Blei” im Jahr 2008/9 war das Verhältnis 13 (Israel): 1,417 (Gaza), also mehr als 1:100. Die Mehrzahl der Toten waren Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Die Infrastruktur Gazas wurde damals über weite Strecken in Trümmer gelegt. Generell kann die Okkupation Gazas kaum für beendet erklärt werden, da Israel seine Grenzen militärisch kontrolliert, und dem Landstrich jederzeit die Versorgung mit Wasser, Strom, Lebensmitteln oder Medikamenten abdrehen kann.
Die Raketen der Hamas auf Israel können nur vergleichsweise geringen Schaden anrichten. Ihr Ziel ist vor allem, Israel in Zugzwang zu bringen, damit es sich durch exzessive Gegenschläge vor der Weltöffentlichkeit moralisch diskreditiert. Gleichzeitig zielt die Hamas auf eine Polarisierung der Araber im gesamten israelischen Einflußraum ab, sowohl in den besetzten Gebieten als auch innerhalb des Staates Israels selbst, was diesmal ziemlich gut gelungen zu sein scheint.
So gesehen kann man sagen, daß die Palästinenser zumindest eine erkennbare militärische Strategie verfolgen, und sie sind bereit, dafür zu sterben oder den Tod von Zivilisten auf der eigenen Seite in Kauf zu nehmen. Israel jedoch scheint, wie Gilad Atzmon anmerkte, keine solche Strategie zu haben. Das Militär beharrt auf einer jahrzehntealten Doktrin der Demoralisierung durch Abschreckung. Die palästinensische Radikalisierung und Militanz intensiviert sich jedoch mit jedem erneuten Bombardement von Gaza, wo ganze Generationen mit einem Alltag aus Gewalt, Tod, Krieg und Zerstörung aufgewachsen sind.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum die palästinensischen Opferzahlen so hoch sind, und warum der jetzige Status quo keinen Bestand haben kann: Gaza ist einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt.
Ich entnehme diese Zahlen Wikipedia (hier, hier und hier, wobei man abweichende und veraltete Angaben in Rechnung stellen muß): In Gaza leben zur Zeit rund 2,048 Millionen Menschen. Das Durchschnittsalter ist 18 Jahre, die Bevölkerungsdichte beträgt sagenhafte 5046 Einwohner pro km² (!). Im Westjordanland (Westbank) inklusive Ost-Jerusalem leben rund 2,75 Millionen Araber und rund 592,200 Juden, die dort unter dem Schutz des Militärs eine völkerrechtswidrige Siedlungspolitik vorantreiben. Das wären rund 3,34 Millionen Menschen auf einer Landfläche von 5,640 km2, was eine Bevölkerungsdichte von 592 Einwohnern pro km² ergäbe.
Israel selbst hat eine Gesamtbevölkerung von rund 8,775 Millionen, das Durchschnittsalter beträgt 30 Jahre, die Bevölkerungsdichte 400 Einwohner pro km². Der Anteil der arabischen Staatsbürger beträgt etwa 21% (1,89 Millionen), und dem Vernehmen nach erwarten etliche sehnsüchtig den Tag, an dem sie in der Mehrheit sind und das Land übernehmen können. Laut diesem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom 27. April 2021 leben im Gesamtraum Israel + besetzte Gebiete zwischen Mittelmeer und Jordan nun exakt 6,8 Millionen Juden und 6,8 Millionen Araber.
Die arabische Bevölkerung Israels und der besetzten Gebiete wird also immer zahlreicher, immer jünger und hat immer weniger (nennen wir’s beim verschwefelten, aber griffigen Namen) Lebensraum zu Verfügung, über den sie außerdem keine souveräne Verfügungsgewalt hat. Wer Gunnar Heinsohns Söhne und Weltmacht gelesen hat, weiß, daß dies eine explosive und gewaltträchtige Mischung ist.
Zu diesen demographischen Spannungen kommen weitere Verschärfungen hinzu: Erstens die religiöse Aufladung des Konflikts über den Zankapfel Jerusalem mit seinen für beide Religionen (und das Christentum) hochheiligen Stätten. Und zweitens die Tatsache, daß die Mehrheit der 4,5 Millionen Araber in Gaza (von Israel militärisch kontrolliert) und im Westjordanland (von Israel militärisch besetzt) von den rund 750,000 arabischen Flüchtlingen des jüdisch-arabischen Krieges von 1947–49 abstammt (eine zweite Welle folgte 1967).
Hinzu kommen geschätzte 2,8 Millionen palästinensische Flüchtlinge bzw. deren Nachkommen, die in Jordanien, im Libanon, in Saudi-Arabien oder im Irak leben, oder die im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 nach Europa gelangt sind. Diese beanspruchen seit 1948 ein Rückkehrrecht in das ehemalige Mandatsgebiet Palästina, das von Israel aus nachvollziehbaren Gründen kategorisch verweigert wird.
Nach meiner Rechnung (auf der Grundlage der verlinkten Wikipedia-Artikel) ergäbe das rund 9,6 Millionen Araber (in Israel, in den besetzten Gebieten und in diversen arabischen Nachbarstaaten) die sich als Palästinenser identifizieren, und die Ansprüche auf das Gebiet stellen, in dem nun der israelische Staat liegt. Das Problem Israels ist also vorrangig demographischer Natur. Es ist zwar militärisch überlegen, aber von einem wachsenden Meer feindseliger Araber umgeben. Das hat tatsächlich gewisse Parallelen zu Südafrika vor 1990 (was ich nun nicht “moralisch” meine).
Tatsache ist, daß der israelische Staat in seiner jetzigen Form demographisch auf verlorenem Posten steht. Bei einem Verhältnis von 50:50 zwischen Juden und Arabern bleibt wenig Spielraum für “demographic engineering” (eine der Grundlagen der israelischen Politik), und auch eine massenhafte “Aliya” aus Europa (etwa aus Frankreich), könnte das nicht mehr ändern. Ebenso können die israelischen Streitkräfte Gaza so viel und so oft bombardieren, wie sie wollen. Die zwei Millionen, die dort leben, gehen nicht mehr weg, werden nicht mehr weniger, werden nicht mehr israelfreundlicher.
2011 erschien ein Buch in deutscher Übersetzung, dem der Verlag den sarrazinesken Titel Israel schafft sich ab gab (orig. The Unmaking of Israel). Der Autor Gershom Gorenberg, ein orthodoxer israelischer Jude amerikanischer Herkunft, hielt den israelisch-palästinensischen Status quo, der zehn Jahre später immer noch andauert, für untragbar und skizzierte drei Zukunftsmöglichkeiten für sein Land:
- Israel räumt die besetzen Gebiete, zieht die Siedler ab und gründet eine “zweite israelische Republik innerhalb engerer Grenzen” (seine favorisierte Lösung).
- Israel wird ein internationaler “Pariastaat” à la Südafrika, “wo eine ethnische Gruppe über eine andere herrscht”.
- Israel bricht als Staat zusammen, und wird “durch zwei sich bekriegende Volksgruppen” im Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer ersetzt.
Gorenbergs Buch ist ein Plädoyer, die erste Möglichkeit umzusetzen. Um aus der gegenwärtigen Sackgasse herauszukommen, müsse Israel drei Dinge tun:
- “den Siedlungsbau einstellen, die Besatzung beenden”, wenn nötig, auch mittels Militäreinsatz gegen militante orthodox-zionistische Siedler, und “das Land zwischen dem Fluß und dem Meer” gerechter aufteilen,
- Staat und Synagoge stärker voneinander trennen, “den Staat vom Klerikalismus und die Religion vom Staat befreien”,
- und drittens “von einer ethnischen Bewegung zu einem Staat heranreifen, in dem alle Bürger Gleichheit genießen”.
Der dritte Punkt ist aus identitärer Sicht sicher am Interessantesten: Nach Gorenberg müsse ein jüdischer Staat nicht “rein”, sondern nur mehrheitlich jüdisch sein (wie de facto der Fall), weshalb eine “demokratische” Liberalisierung des zionistischen Impulses möglich sei, ohne den Nationalcharakter Israels aufzulösen. Voraussetzung ist, daß es gelingt, die Leitkultur der jüdischen Bevölkerungsmehrheit mit den Rechten der nicht-jüdischen Minderheiten auszubalancieren. Das wäre ein Modell für einen jeglichen modernen Nationalstaat nach identitären Prinzipien (Ungarn ist verfassungsmäßig danach aufgebaut).
Nicht gangbar hält Gorenberg indes eine Ein-Staaten-Lösung, etwa wenn sich Israel, Westbank/Westjordanland (das sich Israel gern einverleiben würde) und Gaza (das Israel lästig geworden ist) zu einer “Ostmittelmeerrepublik” zusammenschließen würden. Dies würde vor allem wegen des Siedlungsproblems, der Flüchtlingsfrage und des ökonomischen Gefälles eine ethnisch gespaltene Nation schaffen, die in Gefahr läuft, ähnlich wie der Libanon in einen Bürgerkrieg zu schlittern:
Es wäre ein Albtraum: ein weiterer Ort auf dem Globus, wo zwei oder mehr Volksgruppen gegeneinander kämpfen, während die Leute mit der besten Bildung und den besten Beziehungen anderswo Zuflucht suchen.
Man kann es noch schärfer formulieren: Eine Ein-Staaten-Lösung käme für den jüdischen Staat einem Selbstmord gleich. Sein jüdischer Nationalcharakter wäre trotz allen guten Willens zur “Leitkultur”, wie ihn Gorenberg fordert, rein demographisch nicht mehr aufrechtzuerhalten, und es wäre realistischerweise nicht zu erwarten, daß sich die Konfliktparteien nach Jahrzehnten des Blutvergießens mit einem Schlag in den Armen liegen und auf einen gemeinsamen binationalen Staat einigen.
Hinzu kommen drei weitere Probleme, die Gorenberg ausblendet: Ein palästinensischer Staat bestehend aus Ost-Jerusalem und Westbank einerseits und Gaza andererseits wäre erstens durch einen großen israelischen Korridor getrennt, was kaum ein optimaler oder auf die Dauer tragbarer Zustand wäre. Allenfalls müßten zwei verschiedene Palästinenserstaaten geschaffen werden, was keine sehr befriedigende Lösung für alle Seiten wäre.
Zweitens platzen diese Gebiete wie beschrieben aus allen Nähten, was die Bevölkerungsdichte betrifft, während ihre arabischen Bewohner eine Menge an Ressentiment und Rachsucht angesammelt haben und die tief eingefleischte Überzeugung hegen, daß sie um ihre angestammte Heimat betrogen worden sind. Hier ist also eine Quelle enormer Unruhe und Unzufriedenheit gegeben.
Daraus ergibt sich drittens, daß sich die Palästinenser mit einer staatlichen Souveränität in den besetzten Gebieten wahrscheinlich kaum zufriedengeben werden. Vielmehr werden sie (oder zumindest radikale Gruppierungen unter ihnen) versuchen, diese als Ausgangspunkt für eine Reconquista ganz “Palästinas” zu benutzen. Dazu fehlen ihnen momentan noch die militärischen Mittel, die ihnen aber vielleicht zuwachsen werden, wenn andere Staaten (wie Libanon, Syrien, Iran) den Rückzug Israels als Schwäche interpretieren und ihren Druck intensivieren. Allerdings verfügt Israel über Nuklearwaffen und den Beistand der Weltmacht USA, was immer noch ein erhebliches Abschreckungspotenzial bietet.
Gorenbergs Modell ist freilich nicht besonders originell, sondern entspricht dem Mainstream und Konsens der liberalen Israelkritiker: Ende der Okkupation, Abzug der Siedler, Rückzug zu den Grenzen von 1967. Das bedeutet, daß “1948”, die Legitimität und das “Existenzrecht Israels” nicht in Frage gestellt werden; man hätte die Vertreibung der Araber international ebenso akzeptiert wie etwa die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und die entsprechenden Grenzziehungen.
Dieser Konsens wurde dieses Jahr jedoch durch die Berichte zweier Menschenrechtsorganisationen erschüttert. Das Interessante ist, daß es sich hier um einen fast rein innerjüdischen Vorgang handelt.
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Mehr dazu im 2. Teil dieses Beitrags, und dann wird auch eine Diskussion möglich sein. Bis dahin bleibt der Kommentarbereich geschlossen.
Der_Juergen
Wie immer sorgfältige Analyse. Warten wir den zweiten Teil ab, ehe wir lange kommentieren.