Gut, ich bin der Lesecouch-Typ, der mit Klassik-Radio lebt. Kunst? Die steigende Bilderflut reicht mir. Ich sehe ausgewählt und genau hin, so mich etwas interessiert. Mir fehlten die Cafés, weniger die Theater. Mit Büchern und Zeitungen konnte man sich durchweg versorgen.
Ohne Kunst und Kultur wird’s still. Man sollte wagen zu behaupten: Gut so. Es war vorher ohnehin zu schrill. Viel Lärm um nichts. Die nichtselbständigen “Kulturschaffenden” ließen sich die Auszeit staatlich bezahlen. Weil das bequemerweise so geschah, blieb der Protest lau und phantasielos.
Zum praktischen Vergleich:
Literatur und Theater hatten in der DDR eine wichtige Funktion, die sie nach der Wende verloren. Sie boten eine zweite Lesart zu offiziellen Verlautbarungen und zum gleichgeschalteten SED-Journalismus. Das genau erklärt, weshalb die DDR im Vergleich zum so satten wie freien Westen durchweg das spannendere Theater aufführte und tatsächlich ein „Leseland“ war.
Übrigens traf es in ähnlicher Weise die evangelischen Kirchen: Vor der Wende boten die den Kritikern ein Dach; danach verloren sie ihre Bedeutung. Sie waren die Arche der Opposition. Heute sind sie leerer denn je.
Wer nachdachte oder einfach wach wahrnahm, der wollte vor 1989 eben nicht nur zwischen den Zeilen lesen, sondern suchte mit sensibelster Aufmerksamkeit, was er an ästhetischer, intellektueller und politischer Alternative aufspüren konnte, um damit seine eigenen Vorstellungen und Urteile zu vergleichen und um überhaupt neue Sichtweisen, Worte und Gedanken zu finden – dort, wo er deprimiert oder verzweifelt oder ins Leere grübelnd nicht weiterkam, aber doch unklar zu wissen meinte, daß etwas faul ist.
Literatur und Kunst sind – in sich – stets frei wie die Gedanken, gerade dort, wo sie einerseits staatlich unterdrückt, andererseits aber nicht vom Markt regiert werden. Eine so immense Bedeutung wie in Diktaturen, dabei jedoch beständig in Gefahr, können Literatur und Kunst in “pluralistischen” Gesellschaften gar nicht gewinnen.
Mag sein, daß die zweite Lesart, die alternative Positionierung, der Gegenentwurf vorzugsweise die Aufgaben der Literatur und Dramatik sowie nicht minder der Kunst sind. Wir wollen durch künstlerische Stoffe gedanklich angeregt und provoziert werden.
Aber wo denn kämen Belletristik und Theater hierzulande gegenwärtig auf interessante, provozierende oder auch nur inspirierende Werke? – Ja, es findet sich Unterhaltsames, selten sogar mal Spannendes, hier und da gut Gesagtes und behäbig bis gründlich Bedachtes, aber eine Literatur, die eine entzündlich wirkende zweite Lesart zur Merkel-Seiber-Bundespressekonferenz-Gebrauchsrhetorik vermittelte, lese ich nirgendwo. Ich lese meist Befindlichkeitsprosa und finde theatralisch gestaltet, was Regierungslinie ist, Staatstheater also.
Das Feuilleton hingegen ist aufmerksam, die Presse überhaupt. Nach wie vor lohnt sich die Lektüre der großen Zeitungen Deutschlands und dazu die der „Neue Zürcher Zeitung“. Selbst wenn es gelegentlich an Mut fehlt, so wird doch in Kommentaren und Essays subversiv nachgedacht. Das ergreift nicht die Massen, weil die Massen entweder das Lesen verlernten oder ihnen die Geduld dazu fehlt, aber nach wie vor ist der Geist einer Vielzahl Autoren erstaunlich lebendig – nicht nur auf den Plattformen, die die intellektuelle Rechte bevorzugt. Erstklassige Adressen darunter!
Lieber die Muße für die Lektüre großformatiger Aufsätze ermöglichen als einen verschwitzten Theaterabend durchstehen, der nichts zu entwerfen vermag als eine neue Variante dafür, das kunterbunte, gegenderte, tolerante, diverse und dabei alsbald ultragerechte Deutschland cool antifaschistisch weiter voranzubringen, oder der das literarische Erbe nach Material durchsucht, das sich in dieser Richtung aufpeppen ließe.
Klar, das Theater war immer irgendwie links. Aber früher war auch die Linke noch intellektuell potent, erfrischend und produktiv frech. Mindestens gelang Spießerschelte. Man denke nur an das Berliner Ensemble, also an Brecht bis hin zu seinem so kühl desillusionierten Nachfolger Heiner Müller. Selbst so beeindruckende Sonderlinge wie Arno Schmidt oder Thomas Bernhard konnten eher von links gelesen werden. Wo stünden sie heute?
Aber nun steht der Spießer links. Wie die früheren Kleinbürger können auch die jetzigen, die öko-digitalen, nicht mehr über sich selbst lachen und werden mangels Zutrauen in die eigene Courage sehr empfindlich, wenn man ihnen gar noch mit Satire kommt. Allerdings wirkt die Politik der Etablierten wie stets ganz unfreiwillig von selbst satirisch. Man muß nur dabei zusehen. Das Leben, gerade das politische, das ja wie auf einer Bühne stattfindet, schreibt die besten und härtesten Geschichten, die sich etwa in den Kabinettstückchen der Bundespressekonferenz gestaltet finden. Das ist die Kleinkunst, die wir jetzt brauchen.
Seitdem sich „links“ zum trägen Mainstream verbreitert findet und Merkel, Söder und die übrigen Großfunktionäre tendenziell links sind oder es geradezu vorauseilend sein wollen, ganz so, wie man früher auf Parteilinie war, ist auch das Theater bräsiger und dumpfer und sogar kitschiger als die Heimatfilme der Fünfziger. Nur auf neue Weise. Man kann sich ja die Fünfziger heute immer noch vorstellen wie in Heinz-Erhard-Filmen. Nur eben ohne Heinz Erhard. Auch so einer fehlt heute.
Zwar heißt es beständig aus Schauspiel‑, Künstler- und Szenekreisen, irgendein Einfall, ein Projekt oder eine Aufführung wären „wahnsinnig interessant“ oder einfach „ganz großartig“, aber gerade diese Attribute sollten einen veranlassen, sogleich wegzuhören. In der offiziellen, also hochsubventionierten Szene ist gerade gar nichts interessant. Selbst wenn Behinderte, Migranten und sexuell Unentschiedene in Chorstärke auf der Bühne auflaufen und die seit den Siebzigern forcierten Hanswurstereien wie Muschi-Aufruhr einerseits oder SS-Uniformen andererseits verzweifelt wenigstens noch für Klamauk zu sorgen versuchen.
Was bleibt? Die großen Themen des Mythos, also das, was als Grundmuster menschlichen Handelns dramatisch selbst in öden Zeiten reproduzierbar ist. Antike und Shakespeare gehen immer, und ein Dutzend andere große Namen vergleichbaren Formats ebenso, allesamt längst kanonisiert. Ferner die wirklich existentiellen Stoffe, die allerdings ebenso vom Hard-Boiled-Genre der Krimiliteratur gestaltet werden können. Und vielleicht sollte man sogar so frech sein, mal ganz banausig zu fragen, was die großen Tragöden nun dramatischer hinbekämen als etwa Cormac Mc Carthy oder sogar gelungene Produktionen von Netflix & Co.
Dort, wo sich der Mut zur Alternative lebhaft regt, wird er verunglimpft, also etwa im Buchhaus Loschwitz. Hier scheint es wirklich „wahnsinnig interessant“ oder „ganz großartig“ zu sein, sonst gäbe es die feigen Antifa-Angriffe nicht, die von der Kulturpolitik entweder beschwiegen oder gar als couragierte Aktionen herausgestellt werden. Nur läuft das Loschwitzer Geschehen eben in nachdenklicher Stille ab, mit oder ohne Lockdown-Politik. Susanne Dagen muß nicht „gehypt“ werden; es genügt, daß es sie gibt. Zum Glück. Ein paar Quadratmeter an der Abendsonnenseite des Elbufers reichen für starke Impulse völlig aus. Ohne Subventionen, ohne Abonnement, ohne bevorzugten Platz im Feuilleton. Das Interessante entsteht im Abseits, nicht in den Metropolen.
Oder weniger provokant und weniger „rechts“: Das einzig Nennenswerte, was ich von der Schauspielszene in den Corona-Monaten wahrnahm, brachte die Initiative #alles dichtmachen hervor. Geradezu ein politisches Schulbeispiel dann, wie diese pfiffig-bittere und ganz folgerichtig zynische Aktion durch den Staatsbürgerkunde-Apparat abgestraft wurde – mit dem Ergebnis, daß die sich gegen den Mut aussprechenden feigen Anpasser als die wahren Helden dargestellt wurden, weil sie artig der Regierungslinie folgten und ihrer Erschütterung über so „unverantwortliche Auftritte“ ganz betroffen Ausdruck gaben.
Die Schauspieler von #allesdichtmachen blätterten sie einmal kurz auf, die gesellschaftlich notwendige zweite Lesart gegenüber dem Offiziösen. Ganz starke Attacke. Großes Kino. Echt Kunst! Und prompt tat sich was; es wurde politisch lebendig. Bis die Opportunität der Opportunisten obsiegte: Wie sollen und wollen doch besser die Hauptaufgabe erfüllen, die unsere wohlmeinende Regierung ausgegeben hat!
Volker Bruch, Jan Josef Liefers und deren wackere Gefährtenschaft, erstklassige Kleinkunst bietend, belebten die Bühne mit dem, was gerade ausgesprochen werden mußte. Als Provokation, klar! Und prompt standen sie als Staatsfeinde da. Und wer Staatsfeind ist, gilt dem Staat und seinen Leitmedien schnell als Menschheitsfeind. Das darf man doch nicht sagen, hieß es. Das nützt doch den Falschen, den bösen Rechten, den verwirrten Querdenkern und allen, die es eigentlich kraft politischer Bildung längst gar nicht mehr geben dürfte.
Aber: Da schaut man hin! Was haben die zu sagen? Ist da was dran? Können wir uns damit identifizieren? In welcher Hinsicht zustimmend, in welcher wiederum nicht? – Plötzlich war ein Angebot präsent, an dem sich die Geister schieden und in den lebhaften Disput eintraten. Überhaupt mal Leben in der Bude und nicht Agitation und Propaganda.
Deshalb hätte es nicht verwundert, wenn Polizei und Verfassungsschutz aktiv geworden wären. Das geschah wohl nicht, aber wir lasen in der Presse servile Treubekundungen zur Staats- und zu den Parteiführungen der selbsterklärt Anständigen.
In dem einen Moment war’s dank #allesdichtmachen mal gar nicht mehr still, störte aber gleich gewaltig.
RMH
Auf die subventionierte Kunst und das Auftragstheater dieser aktuellen BRD kann ich mittlerweile auch verzichten. Es gab eine wirklich spannende Phase der Kultur ab Öffnung der Mauer bis ca. um die Jahrtausendwende. Man musste aber bereits damals mobil sein und fahren, wenn man nur in der Provinz wohnte. In den 90ern war selbst die Volksbühne in Berlin meistens einen Besuch wert. Aber heute?
Alles irgendwie so vorhersehbar, so abgestanden und schal wie eine wochenalte offene Cola.
Es wird sie schon noch geben, die Nischen, die Ecken, das Nonkonforme. Nur macht man darüber am besten keinen Bericht, keinen übers Internet verbreiteten Tipp mehr, sonst kann es schnell vorbei sein damit. Mund-zu-Mund-Propaganda ist das Gebot der Stunde.