Der legendäre Norman Finkelstein (Die Holocaust-Industrie) spricht darin mit Katie Halper über einen “schockierenden” Paradigmenwechsel bezüglich Israel, den die Berichte zweier jüdischer Menschenrechtsorganisationen in diesem Jahr eingeleitet haben sollen.
Der erste stammt von der israelischen Organisation B’Tselem, veröffentlicht am 12. 1. 2021. Der Titel, so Finkelstein, sage alles: “A Regime of Jewish Supremacy from the Jordan River to the Mediterranean Sea: This is Apartheid” – “Ein Regime der jüdischen Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer: Das ist Apartheid.”
Finkelstein bezeichnet den Ausdruck “Jewish supremacy” als “incendiary” (aufrührerisch), da er offensichtlich an “white supremacy” angelehnt sei, dem Schreckens- und Verdammungsbegriff der heutigen Linken und des Biden-Regimes schlechthin. Hier wird also ein äußerst scharfer Tonfall angestimmt.
Bemerkenswert sei dabei, daß der Bericht nicht mehr zwischen dem Staat Israel und den besetzten Gebieten unterscheide. Das Verdikt trifft den Gesamtkomplex:
Dieser Zustand besteht seit mehr als 50 Jahren – doppelt so lange, wie der Staat Israel ohne ihn existierte. (…) Diese Unterscheidung verschleiert vor allem die Tatsache, daß das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan nach einem einzigen Prinzip organisiert ist, das darauf abzielt, die Vorherrschaft einer Gruppe – Juden – über eine andere – Palästinenser – zu fördern und zu zementieren.
Der zweite Bericht ist von der NGO Human Rights Watch, veröffentlicht am 27. 4. 2021. Sein Titel ist nicht minder scharf: “A Threshold Crossed. Israeli Authorities and the Crimes of Apartheid and Persecution ” – “Eine überschrittene Schwelle. Israelische Autoritäten und die Verbrechen der Apartheid und der Verfolgung.” Tonfall und Wortwahl ähneln dem Bericht von B’Tselem.
Der HRW-Bericht spricht zwar nicht wörtlich von “Jewish supremacy”, aber – g’hupft wie g’sprungen – von einer “systematic domination by Jewish Israelis over Palestinians” (einer “systematischen Herrschaft von jüdischen Israelis über Palästinenser”), die durch “demographisches Engineering” hergestellt wurde:
Die israelische Regierungspolitik hat lange versucht, eine jüdische Mehrheit in Israel zu schaffen und zu erhalten und die jüdisch-israelische Kontrolle über den Boden Israels und der besetzten Gebiete zu maximieren. Gesetze, Planungsdokumente und Erklärungen von staatlichen Amtsträgern zeigen, daß das Streben nach einer Vorherrschaft der jüdischen Israelis über die Palästinenser, insbesondere was Demographie und Landbesitz [quasi “Blut und Boden”? M. L. ] angeht, die Regierungspolitik bis heute leitet.
Dabei wird eine Politik des “Teile und Herrsche” identifiziert und angeprangert:
Die Zersplitterung der palästinensischen Bevölkerung, die zum Teil absichtlich durch die Trennungspolitik zwischen der Westbank und dem Gazastreifen, die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zwischen Ost-Jerusalem und dem Rest der besetzten Gebiete sowie durch die verschiedenen Einschränkungen des Aufenthaltsrechts erzeugt wurde, dient als weiteres Instrument der Herrschaftssicherung. Insbesondere spaltet die Fragmentierung die Bevölkerung und erleichtert das demographische Engineering, das der Schlüssel zur Erhaltung der politischen Kontrolle durch jüdische Israelis ist. Sie zerfasert die politischen und sozialen Bindungen unter den Palästinensern, wodurch der Widerstand gegen die israelische Herrschaft geschwächt wird.
Dieses “demographic engineering” ist nun nicht erst seit 1967 eine Grundlage der israelischen Politik, sondern die wesentliche Bedingung, durch die der Staat erst entstehen konnte.
Die Zionisten vor der Staatsgründung strebten bereits vor dem zweiten Weltkrieg danach, im britischen Mandatsgebiet Palästina eine jüdische Bevölkerungsmehrheit durch Einwanderung zu schaffen. Manche Zionisten faßten eine friedliche Koexistenz mit den Arabern in einem binationalen Staat ins Auge, andere wiederum träumten eher davon, diese möglichst komplett aus dem zu erschaffenden jüdischen Heimatland zu vertreiben.
Nach Kriegsende strömten zehntausende jüdische Flüchtlinge und Auswanderer vor allem aus Osteuropa nach Palästina, lösten dort eine Art “Flüchtlingskrise” aus und gaben den zionistischen Forderungen demographisches und aufgrund der nationalsozialistischen Judenverfolgungen auch moralisches Gewicht.
Der nächste Schritt war die Vertreibung der Araber, der übernächste der Import von “orientalischen” Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die nun ihrerseits zu Hunderttausenden vertrieben wurden oder auswanderten.
Die Berichte von B’Tselem und Human Rights Watch konstatieren nun eine Kontinuität der anti-arabischen demographischen Politik Israels, die bereits vor 1947/48 beginnt und bis in die Gegenwart reicht. Der Streit um den Ostjerusalemer Stadtteil Sheik Jarrah, der ein Auslöser der aktuellen Eskalation war, erscheint den Palästinensern ebenso wie die Siedlungspolitik in der Westbank als Fortsetzung der “Nakba” von 1948 und wird von ihnen entsprechend emotional aufgeladen.
Finkelstein betont, daß die Palästinenser den israelischen Staat als einen gefräßigen Moloch betrachten, der sich seit seiner Gründung immer mehr und mehr arabisches Land einverleiben möchte, eine Ansicht, der er im wesentlichen zustimmt:
Das ist, was der jüdische Staat in der Praxis seit 73 Jahren bedeutet: die jüdische Mehrheit und die Beschlagnahme des Landes für und durch das jüdische Volk.
Indem auch die genannten Menschenrechtsorganisationen dieses Urteil fällen und Israel zahllose Verstöße gegen das internationale Völkerrecht ankreiden, die bis zu seiner Gründung zurückreichen, “delegitimieren sie die Idee eines jüdischen Staates”.
Das Bemerkenswerte ist nun, daß beide Organisationen von Juden geleitet werden.
Die Human Rights Watch hat ihren Sitz in New York und wurde unter anderem von Georges Soros üppig gesponsert. Finkelstein bezeichnet sie als “mainstream, centrist, not radical”, “very conventional”, “very jewish” und “dependent on Jewish donors” , also eine politisch in der Mitte stehende, “sehr konventionelle” und “sehr jüdische” Mainstream-Organisation, die von jüdischen Spendern abhängig ist.
Gerade deshalb, weil es sich hier nicht um “BDS” oder eine andere, radikalere Organisation handelt, mißt Finkelstein ihrem harten und detailliert begründeten Urteil besonderes Gewicht bei. Er wertet HRW-Bericht aber auch als Symptom, daß sich die liberalen Juden der USA in Zukunft noch stärker von Israel distanzieren und entfremden werden, als ohnehin schon seit geraumer Zeit der Fall ist.
[HRW] müssen also sehr vorsichtig sein, wie weit sie im Israel-Palästina-Konflikt gehen können, ohne ihre Spender und Klientel zu verlieren, weshalb ich denke, daß sie sich das vorher gut überlegt haben.
Das heißt also, daß nach Ansicht Finkelsteins die jüdischen Spender einer jüdischen Organisation bereit waren, einen Bericht zu akzeptieren, der nicht nur die israelische Politik in den besetzten Gebieten als “Verbrechen” verurteilt (was nichts Neues wäre), sondern der das “komplette Regime” als “jewish domination/supremacy” brandmarkt.
Human Rights Watch sei nur einen kleinen Schritt davon entfernt, die Idee eines jüdischen Staates, zumindest in der in Israel verwirklichten Form, vom Standpunkt des internationalen Völkerrechtes aus für illegitim zu erklären.
Was das für Ursachen hat, was es für Folgen haben wird, kann ich noch nicht beurteilen. Israel ist offenbar vielen amerikanischen Juden peinlich geworden, zum Teil aus prinzipiell-ideologischen, zum Teil aus “Image”-Gründen.
Die öffentliche Rechtfertigung seiner anachronistischen, nationalistischen Besatzungs- und Kolonialpolitik bedarf eines erheblichen Propagandaaufwandes, der freilich schon seit Jahrzehnten massiv betrieben werden muß, um das Projekt Israel aufrechtzuerhalten.
Die Biden-Regierung, die stark jüdisch besetzt ist, wird Israel zwar nicht fallen lassen, aber kaum eine derart rückhaltlose und ungeniert rechtszionistische Politik betreiben wie Donald Trump.
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Im 3. Teil mehr dazu, wie sich dies alles auf Deutschland und Europa auswirkt.
Dieter Rose
Wann öffnet sich Saudi-Arabien den Juden oder Christen?