»Ostdeutschland« klingt für jene, die sich real- und metapolitisch jenseits des Mainstreams bewegen, nach Rebellion und Hoffnung, denn »im Osten erwacht die Geschichte«(Pierre Bourdieu).
In der 90. Sezession wies ich mit Bezug auf Thorsten Hinz’ Schlüsselessay »Der lange Weg nach Osten« auf das Verlorengehen des »Ursprungsvertrauens, das die Ostdeutschen in die Kompetenz des Westens besaßen«, hin.
Diese Einbußen deuteten sich 1991 an, als die vielen Millionen Neubundesrepublikaner ihre Hoffnungen enttäuscht sahen und mit biographischen Umbrüchen zu kämpfen hatten. Aber erst die Wegmarken Finanz- und Eurokrise bis hin zur endlosen Migrationskrise festigten den Status des Vertrauensschwunds.
Unterdessen, vermeldete Hinz, habe der Kontrollverlust der herrschenden Klasse den »deutsch-deutschen Konflikt« weiter befeuert, der sich in der emotionalisierenden und mobilisierenden Frage manifestiere, »ob man seine Heimat dauerhaft mit einer nicht beherrschbaren Anzahl von Einwanderern teilen und die Risiken und Nebenwirkungen auf sich nehmen will«.
Nun wäre es falsch, »Ost« und »West« als monolithische Blöcke zu verstehen: Die alten wie die neuen Bundesländer sind in sich heterogen. Ungeachtet dieser Einschränkung ist Hinz’ Bestandsaufnahme aber zutreffend, wonach sich im Westen über Jahrzehnte Ideologiebausteine reproduzieren konnten, die einen ergebnisoffenen Umgang etwa mit Zuwanderung und Identität erschweren.
Im Osten der Republik ist das anders. Hier bleibt, um beim Reizthema Migration zu bleiben, die Weigerung präsent, die Folgen einer originär westlerischen Einwanderungspraxis mitzutragen. Ostdeutschland, deutete Hinz an, müsse einst die Frage beantworten, ob es weiter an die deutsche Einheit glaube und ebenso von diversen Segnungen der offenen Gesellschaft betroffen wird.
Man durfte annehmen, daß ein Autor wie Hinz manch (übertriebene?) Erwartung in die Selbstbehauptung der Ostdeutschen setzte, wonach sie sich eines Tages als Teil einer neuartigen »konservativen Revolution« Ostmitteleuropas – an der Seite der Visegrád-Staaten (Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn) – als politisches Subjekt neu definierten. Aber ist diese Apotheose des Ostens als Refugium einer Sonderidentität zu (rechts)intellektuell, zu konstruiert, gar geschichtslos?
Fraglos sprechen handfeste Fakten für Hinzens Annahme. Die Alternative für Deutschland (AfD) als Wahlformation einer sich quantitativ und qualitativ verändernden Mosaik-Rechten nimmt diese Rolle fast ausnahmslos im Osten ein, wo ein konstruktives Ineinandergreifen parlamentarischer und außerparlamentarischer Akteure überwiegt und Landtagswahlergebnisse von über 20 Prozent die Regel sind.
Im Westen sieht es bei beiden Aspekten schlechter aus: Die Rolle als Teil eines nonkonformen Lagers wird aus einer immanenten Biederkeit heraus abgelehnt; man versteht sich als Korrektiv der alten »Mitte« um CDU und FDP. Und bei Wahlen sorgen bereits neun oder zehn Prozent für Erstaunen. Der Osten tickt speziell in bezug auf politische Regungen anders, eine ostdeutsche Identität, die das Potential zur Hinzschen Subjektwerdung zu bergen scheint, beginnt sich zu verselbständigen.
Die Wurzeln hierfür sind aber nicht allein in den Folgeerscheinungen von »2015« zu suchen (diese wirkten vielmehr als Verstärker), sondern liegen als Fundament bereits im Einheitsprozeß von 1989/1990 an, beziehungsweise in der historischen Sonderlage der deutschen Teilung.
Die 2015er Problemkonstellation ist aber unbestritten die Referenz für das politisch und medial deutlich gewordene Entstehen des ostdeutschen Sonderweges, für die neue Hoffnung, die politische Akteure in diesen Raum projizieren, gewiß auch für die neue Angst, die Establishment und linke Ränder mit »Dunkeldeutschland« verbinden. Daher wachsen beiderseits alter Grenzen (wieder) Zweifel, ob im Hinblick auf den Beitritt der ehemaligen DDR-Gebiete zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD am 3. Oktober 1990 zusammengenommen die Vorteile überwiegen.
Diese aufgefrischte Skepsis weist tiefliegende Gründe auf, sie ist – mal subkutan, mal offenkundig – angelegt in konkreten historischen Entwicklungssträngen, und zwar bereits in dauerhaft nachhallenden Setzungen der Sieger des Zweiten Weltkriegs samt Reeducation der Westdeutschen nach 1945. Die Politik dieser »Umerziehung« der Bundesdeutschen ist hierbei als das erfolgreichste mentalitätspsychologische Experiment der Neuzeit anzusehen.
Die forcierte Entfremdung der (zunächst West-)Deutschen von ihrer eigenen Geschichte und Denkweise, die zu »Nationalmasochismus« (Martin Lichtmesz) und einem »merkwürdigen heimat- und geschichtslosen Lebensgefühl« (Johann Michael Möller) führte, ging nach dem Krieg weit über das Anliegen hinaus, den Hitlerismus zu überwinden.
Caspar von Schrenck-Notzing hat diese Umgestaltung der Psyche durch US-amerikanische Stellen als Charakterwäsche bezeichnet, während Hans-Joachim Arndt in Die Besiegten von 1945 den Fokus darauf legte, daß nicht allein der Nationalsozialismus Hitlers, sondern »alle deutschen Staatsbürger als Besiegte behandelt wurden«.
Die Westalliierten schickten sich an, »ausdrücklich in die Bewußtseinsstruktur der Besiegten einzugreifen«. Bei Arndt wird in diesem Zuge deutlich, wie es den Besiegten in Westdeutschland einfach gemacht wurde, sich nach einer Orientierungsphase als Sieger zu fühlen: wenn sie künftig »ohne jede Bemühung politischer Identität« westkonform denken und handeln würden, also fremde Positionen und Interessen als die ihren empfänden und nachahmten.
Es ist jene »Spätsieger-Attitüde«, die das hypermoralische Auftrumpfen vieler heutiger Alt-Bundesdeutscher – etwa in bezug auf Polen und Ungarn sowie im Hinblick auf die Landsleute in Ostdeutschland – antreibt. Entscheidend ist, daß man sich diese moralisch wohltuende und materiell profitable Attitüde, so Arndt, nur »auf Kosten des realistischen Lageverständnisses« aneignen durfte. Dieses implementierte und selbst reproduzierte Bewußtsein (Umerziehung vor Selbstumerziehung) wurde zur zweiten Haut der Menschen.
Kommt es dazu, daß unerwünschte Begriffe und Positionen die zweite Haut durchstechen, drohen Behörden wie der Verfassungsschutz damit, bereits dieses Hinterfragen als Abweichung von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu sanktionieren. Der »langfristige Umbau des deutschen Charakters« (Schrenck-Notzing) ist in den alten Bundesländern gelungen – AfD und Co. müssen dies in ihre Transformationsstrategie mit einbeziehen.
Denn wenn Churchill drastisch äußerte, daß er sich die Deutschen der Zukunft fett, aber impotent wünsche, kann zugespitzt werden, daß sein Wunsch in Erfüllung ging. Die erneute Subjektwerdung Deutschlands, seinen »Rückruf in die Geschichte« (Karlheinz Weißmann) sukzessive einzufordern oder zumindest als Option mitzudenken, dürfte eher den heutigen Ostdeutschen (und damit dem demographisch und ökonomisch schwächeren Teil des gesamten Landes) zukommen.
»Heutige Ostdeutsche« sind dabei – dies als Einschub – im Regelfall die alten Mitteldeutschen, während der genuine deutsche Osten nach 1945 abgetrennt wurde. Für die neuen Ostdeutschen von 1945 gab es indes gänzlich andere Startbedingungen, die zum Teil bis heute Folgen für Lebenssituationen und Lebensbilder und damit für politische Verhaltensmuster zeitigen.
Nach der Aufteilung Deutschlands in annektierte Gebiete und Besatzungszonen war der Beginn im alten Mitteldeutschland als Sowjetischer Besatzungszone (SBZ) und dann Deutscher Demokratischer Republik (DDR) ab 1949 denkbar hart. Allein durch die Demontagepolitik der Sowjetunion verlor die SBZ über 30 Prozent der industriellen Kapazitäten. Hinzu kamen »Entnahmen aus der laufenden Produktion«, Abtransport von Rohstoffen usw. – von den konstanten Fluchtbewegungen Hunderttausender meist bürgerlicher und/oder akademischer Arbeitskräfte ganz zu schweigen. »Es handelte sich«, so der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler, »um die höchsten Reparationen, die ein Land im 20. Jahrhundert zu zahlen hatte.«
Das Auseinanderklaffen zwischen west- und ostdeutscher Wirtschaft im besonderen, zwischen west- und ostdeutscher Realität im allgemeinen, war also durch das unterschiedliche Verhalten der Besatzungsmächte determiniert. Die Wirtschaftssysteme selbst hatten in den ersten Jahren des Nachkriegs eine untergeordnete Bedeutung gegenüber kontraproduktiver Demontagepolitik einerseits und raffiniert berechnendem Marshallplan andererseits.
Das Zurückbleiben Ostdeutschlands lag in der DNA der deutschen Teilung; sie legte den Grundstein für den Produktivitäts‑, Effektivitäts- und Lebensstandardvorsprung Westdeutschlands, nicht unterschiedlicher Fleiß. Verschärft und betoniert wurde die strukturell oktroyierte Ost-West-Spreizung durch die Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED).
Während die BRD bis heute (!) keine bestimmte Wirtschaftsordnung im Grundgesetz verankert hat, war die DDR fortan qua Verfassungsnormen eine Gesellschaft mit sozialistischer Planwirtschaft. Ab 1950 versuchte sich die DDR-Führung an acht Fünfjahresplänen, wobei mit dem Übergang von Walter Ulbricht auf Erich Honecker im Jahr 1971 der langwierige Untergang der DDR als Staat und Gesellschaft eingeleitet wurde.
Der vernunftorientierte »sozialistische Wettbewerb« als »Wetteifern um hohe Arbeitsleistungen« auf Basis »der kameradschaftlichen Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe«, wie es in einem DDR-Lexikon hieß, blieb in der Praxis Abstraktion in einer Gemengelage aus befehlsadministrativen Setzungen, fehlenden Leistungsanreizen, immanenten Planproblemen und Reformresistenz der Parteiverantwortlichen.
Erschwert wurde das Problemkonvolut erstens durch die den Bürgern der DDR bewußte Existenz der Mitarbeiter und Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS, »Stasi«). Zwar äußerte sich der »provinzielle und abgeleitete Charakter der DDR nicht zuletzt darin, daß ihr die wirklichen Grausamkeiten erspart blieben«, wie Rolf Peter Sieferle konzedierte, sehr wohl aber hing der Schleier des Überwachungsapparats permanent über der Gesellschaft. (Das Bewußtsein vieler Ostdeutscher erweist sich bis heute geimpft gegen diesen Zustand eines negativen Autoritarismus, und dies gilt auch für solche, die die DDR nur durch Erzählungen kennen.)
Zweitens wurde die Lage erschwert durch die Ausbildung einer neuen Klassengesellschaft der Konsumoptionen. Intershopläden wurden zu einem Synonym für diese neue Spaltung in jene, die auch hochwertige Westprodukte erwerben konnten und jene, die kein Westgeld besaßen– die Mehrheit. Mit dem Zulassen dieser selektiv zugänglichen Warenwelt »hatte die Regierung eine der Grundsäulen beschädigt, auf denen der Konsens zwischen Bevölkerung und SED beruhte – die der sozialen Gerechtigkeit« (Roesler).
Dieser Konsens, der so pauschal nur theoretisch existierte, erodierte in den 1970er und 1980er Jahren. Zentralkomitee und Politbüro erwiesen sich indes als unfähig, Impulse aus der Bevölkerung aufzunehmen: Sie sollte sich bis zur deutsch-deutschen Zäsur der Jahre 1989 und 1990 nicht aus dieser Stumpfheit befreien können.
Zu dieser Atmosphäre realsozialistischer Immobilität stießen die zu Massenprotesten ausgeweiteten Demonstrationen in Städten wie Plauen, Dresden und Leipzig hinzu, kamen Fluchtbewegungen via Tschechoslowakei und Ungarn auf, wurden geopolitische Weichen gestellt, die den Mauerfall, den Abbau des »Ostblocks« und den Zerfall der Sowjetunion vorbereiteten. Für die DDR bedeuteten diese vielschichtigen Entwicklungen verdichtet »politischer Zusammenbruch und anschließender Beitritt zur Bundesrepublik«.
Es verhielt sich, wie Ivan Krastev und Stephen Holmes zusammenfassen, »nicht so, dass einige Ostdeutsche gingen und andere blieben – vielmehr zog das ganze Land in den Westen um«. Dort warteten nach dem Mauerfall vom 9. November 1989, den Verträgen über die Wirtschafts‑, Währungs- und Sozialunion im Juli 1990 und dem Einigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 neue Freiheiten, die in extenso genutzt wurden: Lange gehegte materielle Bedürfnisse konnten gestillt werden.
Nach dem ersten Taumel inmitten des neuen Konsumparadieses mußten viele Ostdeutsche feststellen, daß die »deutsche Frage im Bewußtsein der Deutschen in der DDR stärker wachgehalten« wurde, »als es in unserer Wohlstands-Demokratie der Fall ist«. Was Horst Ehmke hier ein Jahrzehnt vor der Einheit notierte, galt nach der »Wende« um so mehr.
Östlich der gefallenen Grenzanlagen hatten sich einige traditionellen Auffassungen und Standpunkte besser konserviert als im Westen: »Die Ostdeutschen stellten sich 1990 als ›deutscher‹ heraus als die Westdeutschen« (Ilko-Sascha Kowalczuk). Das wird in der öffentlichen Wahrnehmung Stück für Stück augenfällig, und dies explizit auch in jenen massenmedial omnipräsenten Arenen des Fußballs als gesellschaftlichem Brennglas, wo sich eine selbstbewußte ostdeutsche Mentalität herausschält. Eine solche hat nichts mit der altbajuwarischen »Mia san Mia«-Euphorie gemein, nichts mit der Ruhrpottromantik auf Schalke. Sie geht über den obligatorischen Lokalpatriotismus hinaus.
»Ostdeutschland!« – dieser Ruf aus (politisch unterschiedlich positionierten) Fanszenen wie Magdeburg, Dresden und Rostock verunsichert Angehörige des Establishments. Damit verbindet man Aufbegehren, kämpferisches Heimatbewußtsein, vielleicht unwillkürlich die dortige Volkspartei AfD. Tatsächlich ist die neue »Ostdeutschland«-Welle in den wichtigsten Kurven der »neuen Bundesländer« aber kein Wahlaufruf, sondern trotziger Selbstbehauptungswillen, der materialisierte Stolz auf eine Herkunftsbezeichnung, die real und virtuell abgewertet wird, und effektive Provokation.
Auch bei diesem Fallbeispiel samt Reaktionen »eines als übermächtig empfundenen westdeutschen Diskurses« (Eric Gujer) wird augenfällig, daß die Umerziehung und Selbst-Umerziehung in der (alten) BRD erfolgreich abgeschlossen ist. Dieser Doppelprozeß sorgte dafür, daß man sich als Partner der westlichen Welt, der man einverleibt wurde, fühlt, während man expliziter »Deutscher« noch bei Weltmeisterschaften und im Auslandsurlaub ist.
Demgegenüber bewahrten sich die Ostdeutschen bereits unter Besatzungsrealität »ein stärkeres Nationalgefühl« gegenüber ihren Besatzern, da »das System des Sowjetkommunismus als fremdes System empfunden« wurde, wie der Sozialdemokrat Ehmke treffend zusammenfaßte, während man in der alten BRD frühzeitig Fleisch vom Fleische der Alliierten wurde. Dasselbe wünschte man sich 1990 unverhohlen für die Menschen der Beitrittsgebiete, artikulierte es lediglich unterschiedlich. (Ein »dritter Weg« als synthetisierender, neutraler Weg stand nicht zur Debatte.)
Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka mahnte zur Vorsicht und sprach von einer »mög-lichst taktvollen Übertragung« des »bundesrepublikanischen Modells« auf die neuen Bundesländer. Der Historiker Arnulf Baring forderte dagegen ganz offen die Übernahme westlicher Weltsichten durch die Ostdeutschen, weil sonst eine gefährliche »Ver-Ostung« drohen würde, und wünschte sich Millionen Einwanderer für den Osten, um die Verwestlichung zu beschleunigen.
Neben diesen fremdbestimmenden Erwägungen nahmen es die Ostdeutschen in ihrer erdrückenden Mehrheit als Niederlage und Entwertung ihrer selbst wahr, daß allerorten nun westdeutsche Akteure, oftmals aus der dritten und vierten Qualifikationsreihe, auf Schlüsselstellen ostdeutscher Behörden, Banken, Firmen usw. plaziert wurden. Selbst einem nationalkonservativen Publizisten wie Karlheinz Weißmann schien es evident, daß »die Deutschen für die nächste Zeit auf das westdeutsche Personal angewiesen« seien.
Er bewertete dies nicht als ein Problem, hätte doch schließlich »die Bonner Führung den Zusammenschluß der deutschen Reststaaten mit überraschendem Geschick und fast routiniert vollzogen«, wie er im Rückruf in die Geschichte hervorhob. Für Ostdeutsche klang und klingt diese Sichtweise arrogant und selbstgefällig, weshalb entsprechende Haltungen die Kluft zwischen Ost und West größer werden ließen und das Feindbild des »Besserwessis« als Sieger der Teilungsgeschichte weit über SED-PDS-Sympathisantenkreise hinaus an Bedeutung zunahm.
Neben diesen immateriellen Prozessen – Ostdeutsche als fremdbestimmte, objektivierte Verfügungsmasse – waren es materielle Entwicklungen, die den Einheitsjubel verstummen ließen und bis heute in den Köpfen vieler Ostdeutscher als Entwertung von Millionen Biographien präsent bleiben. Die Transformation der realsozialistischen Wirtschaft in die moderne Dienstleistungsgesellschaft der BRD verlangte u.a. die Privatisierung der Staats- und staatsnahen Betriebe der DDR.
Ilko-Sascha Kowalczuk wies darauf hin, daß 85 Prozent der mittleren und großen Unternehmen an westdeutsche Investoren, zehn Prozent an ausländische und nur fünf Prozent an ostdeutsche Personen übertragen wurden. Woher hätten die Ostdeutschen (außerhalb des höchsten Parteiapparats) auch Gelder nehmen sollen, um Industrie- und Anlagenkapital in Ostdeutschland zu behalten?
So war es konsequent, daß nur Kleinprivatisierungen an ehemalige DDR-Bürger funktionieren konnten, während alles, was bestimmte Summen übertraf, in westdeutschen oder ausländischen Besitz überging. Der Ausverkauf des Ostens und seiner 12000 Unternehmen war ein Sieg des Westens und der durch die Regierung Kohl gesteuerten (aber noch durch den Ministerrat der DDR im März 1990 gegründeten) Treuhandanstalt, was nicht ohne Spuren an den Menschen im Osten vorbeigehen konnte. Diese trugen freilich selbst dazu bei, indem sie den heimischen Konsummarkt zusammenbrechen ließen durch Fixierung auf die bisher vorenthaltenen Westprodukte.
Die Weichen, die 1990 gestellt wurden, sorgten für die Betonierung der ostdeutschen Niederlage, für das Entstehen eines anhaltenden Krisenbewußtseins, aber auch andersgerichteter Standpunkte in Schlüsselfragen des gesellschaftlichen und politischen Miteinanders.
Heute sehen (gemäß einer Allensbach-Umfrage) lediglich 42 Prozent in der Demokratie die beste Staatsform (im Westen: 77) und weit über die Hälfte der Ostdeutschen hält den Umstand, ob man aus Ost- oder Westdeutschland stammt, für eine der wichtigsten Trennlinien (im Westen: ein gutes Viertel); noch heute sieht sich mehr als ein Drittel der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse und noch heute kommt für viele Ostdeutsche der Einigungsvertrag, an dem sie keinen Anteil hatten, einer »bedingungslosen Kapitulation« (Steffen Mau) gleich; noch heute liegt das mittlere Einkommen im Osten bei 81 Prozent des westlichen Niveaus; noch heute sind nur sechs bis neun Prozent der Führungskräfte in den neuen Bundesländern ostdeutscher Herkunft; noch heute befindet sich kein einziger Hauptsitz eines DAX-Konzerns im Osten und immer noch besteht ein »Pendlerüberschuß« (über 400000 Ostdeutsche müssen ihrer Arbeit hinterherreisen).
Die Ostdeutschen verstehen sich somit in einer nennenswerten Anzahl 30 Jahre nach der Einheit als Besiegte, wobei das nichts über die Loyalität zum überwundenen Regime aussagt. Vielmehr hatten sie sich erst nach der Wiedervereinigung samt Schockfolgen als »Volk der Ostdeutschen« (Richard Schröder) zusammengefunden, weshalb Johann Michael Möller kundgab, daß die Ostdeutschen im eigentlichen Sinne erst »mit der Wende entstanden«. Es kam der Konstitution einer »Erinnerungsgemeinschaft« gleich.
Noch zu DDR-Zeiten begriffen sich die einen DDR-Bürger als Deutsche in einem geteilten Deutschland, ideologisch Versierte als sozialistische Internationalisten, viele schlichtweg als Staatsangehörige der DDR. Was sie seit 1990 mehr und mehr vereint, ist die retrospektive Verlust- und Abwertungserfahrung. Steffen Mau trägt in seinem Panorama ostdeutscher Transformationsprozesse Umfragen zusammen, die ein erhellendes Bild ergeben.
Demzufolge vermissen die Ostdeutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit heute verlorengegangenen solidarischen Zusammenhalt, sozialpolitisches Engagement und Vollbeschäftigung; 75 Prozent der Ostdeutschen sehen sogar in einer sozialistischen Ordnung eine gute, aber falsch ausgeführte Idee. So wächst das »Einstweh« (Botho Strauß) quer durch alle politischen Lager, so wächst der Frust über Entsolidarisierung und Entfremdung – außer bei jener lautstarken und in Schlüsselpositionen verankerten Minderheit, die das westliche Modell als beispielhaft begreift.
Wenn man so will, wird den Ostdeutschen auf eine ironische Art und Weise der Dialektik übel mitgespielt:
Das, was eine Mehrheit »positiv« mit dem alten Ostdeutschland verbindet (soziale und innere Sicherheit, Solidarität unter Gleichen, die »Vertrautheits-und Nahbeziehungsgemeinschaft«, wie Mau es formulierte), ging verloren.
Das, was eine Mehrheit »negativ« mit dem alten Ostdeutschland verbindet (Stasi, Überwachung, Trennung in öffentlich und privat artikulierte Meinung etc.) feiert unter westdeutsch-bundesrepublikanischer Hegemonie der linksliberalen politischen Korrektheit seine Wiederauferstehung. Die ablehnende Haltung zu Bevormundung durch eine selbstreferentielle politmediale Klasse resultiert aus dem, was der Historiker Lutz Niethammer die »volkseigene Erfahrung« nannte.
Eben sie machte das Gros der Ostdeutschen »empfindlicher und rebellischer«, wenn westdeutsch gepolte Lautsprecher wieder mal »die« Ostdeutschen für Wahlentscheidungen oder Verhaltensweisen tadeln, wenn ihnen also suggeriert wird, daß sie »undankbar und grundlos den Pfad der politischen Tugend verlassen hätten« (Hubertus Knabe).
Diese hier gewiß idealtypisch skizzierten Linien können von einer sozial- und rechtspopulistischen Kraft genutzt werden, die sich als Interessensvertretung jener Millionen nichtrepräsentierter Ostdeutschen begreift, die noch den Willen besitzen, am politischen Subjektzustand festzuhalten, die, mit Klaus-Rüdiger Mai gesprochen, intuitiv »auf der Existenz Deutschlands« bestehen.
Eine damit einhergehende weltanschauliche und strategische Ostorientierung der Rechten darf nicht mit einer voreiligen Aufgabe des gesamten Westens verwechselt
werden.
Aber erstens muß eine realistische Lageanalyse die Frage nach dem möglichen Empfänger politischer Botschaften beinhalten – und diese Frage ist geographisch beantwortet. Zweitens gibt es auch im »Westen« ein »Osten«, gibt es auch in den »alten Bundesländern« soziale und nationale Verwerfungen, die fruchtbar gemacht werden können.
Das Laboratorium Ostdeutschland wäre so etwas wie ein »Verdichtungsraum« (Mau) mannigfaltiger Probleme immateriellen und materiellen Charakters, in dem die politische Rechte auf engem Gebiet und unter 12,5 Millionen Deutschen jene kulturellen, politischen und mentalitätsspezifischen Restbedingungen findet, die für ihre Renaissance als ernstzunehmende und gesellschaftsprägende Kraft nötig wären. Eines der praktischen Ergebnisse, das sich aus diesen Thesen ergäbe, wäre die Forcierung eines ostdeutschen Regionalismus, der als Ziel erweiterte föderale Gestaltungsräume für die neuen Bundesländer auf kulturellen, medialen, bildungs- und sicherheitspolitischen Feldern benennt.
Gelingt es, in einzelnen ostdeutschen Modellregionen eine »Wende im kleinen« herbeizuführen, etwa über ein effektives Zusammenspiel der Mosaik-Rechten inner- und außerhalb des Parlaments samt erstmaliger Koalitionspolitik, in der die AfD mit bald erreichten »30 Prozent plus« den Seniorpartner verkörpern müßte, dann könnte durch die sicher einsetzende Polarisierung ein Dominoeffekt einsetzen, der weitere Bundesländer »kippen« ließe: Sachsen first, so könnte man unken, dann fielen womöglich weitere Länder.
Entweder also reißt ein Teilerfolg im Osten letzte Hoffnungsregionen im Westen mit, was bedeuten würde, daß Ostdeutschland eine »Pionierrolle beim populistischen Aufstand« (wiederum: Mau) einnähme, oder Hinz’ Vordeutungen werden wahr und wir wagen den langen Weg nach Osten – verstanden als politische Zurückstellung des Westens und Fixierung auf Ostdeutschlands Annäherung an das mentalitätspolitisch ähnlich gestrickte Ostmitteleuropa.
In beiden Fällen könnten die Besiegten von 1990 die Sieger von morgen sein – und dafür lohnt sich das meta- und realpolitische Streben auf (nur scheinbar) verlorenem Posten.