Indirekt heißt: Kaiser hat für das Themenheft “Angst” einen Beitrag über den Komplex “Angst und Ökonomie” geschrieben, Lehnert las – und setzte einen Beitrag daneben, in dem es über politische Manipulation durch Angstszenarien geht. Sein Beitrag mündet in einer Beschreibung des unguten Abhängigkeitsverhältnisses der betreuten Bürger von ihren Betreuern.
Lehnert geht in seinem Beitrag mit keiner Silbe auf Kaisers Überlegungen ein, aber man versteht, daß er manches anders wahrnimmt und den Menschen anders auf den Sattel setzen will. Kaiser wiederum baut mit seinen Artikeln eine Position aus, über die er unter dem Titel Solidarischer Patriotismus bereits ein Buch schrieb, das in der 2. Auflage vorliegt.
Worum geht es? Kaiser erläutert in seinem Beitrag, warum und wo der deutsche Staat das, was er seinen Bürgern verspricht, nicht mehr einzulösen vermag. Er argumentiert für die Arbeitnehmer und kleineren Selbständigen, deren Lebenssituation schon vor der Corona-Krise prekärer geworden sei, und zwar in mehrerlei Hinsicht:
Nach und nach habe ein Umbau des Arbeitsmarkts in flüssigere, flexiblere Modelle stattgefunden. Festanstellungen seien Zeitarbeitsverträgen und befristeten Arbeitsverhältnissen gewichen. Die Bezahlung sei schlechter geworden, ein einziges Familieneinkommen reiche nicht mehr aus. Die Zahl der Pendler habe zugenommen, die Pendelstrecken seien länger geworden, die Arbeitsplatzsicherheit sei nicht mehr gewährleistet, kurzum:
Das Versprechen der BRD, ein im Grunde unpolitisches, jenseits jedes deutschen Sonderwegs angesiedeltes Leben in Sicherheit, Wohlstand, Ruhe, Ordnung und persönlicher Ausgestaltungsmöglichkeit zu leben, könne nicht mehr gehalten werden, und das bringe die Soziale Frage zurück auf die Agenda.
Denn aus dem Versprechen, das dieser Staat seinen Bürgern gegeben habe, könne ein Anspruch abgeleitet werden: der Anspruch auf eine Politik, die dieses Versprechen einlöse. Wenn dies nicht mehr gegeben sei, müsse dieser Anspruch laut formuliert werden, denn nur auf diese Weise würde der Riß zwischen Behauptung und Realität sichtbar. Das Geld für eine solidarisch-patriotische Politik sei nämlich vorhanden, bloß würde es nach ganz oben und an die ganz Fremden umverteilt.
Lehnert, ich, jeder aus unserem Beritt wird die Feststellung teilen, daß genügend Geld vorhanden sei und daß unsere Solidarität unseren Leuten gehöre, daß also der von den Deutschen eingerichtete, ausgebaute und finanzierte Sozialstaat der beruflichen Absicherung und finanziellen Unterstützung derjenigen Deutschen dienen soll, die in eine Notlage geraten sind.
Auch über Beschränkung der Bereicherungsmöglichkeiten der reichsten zwei, drei Prozent in Deutschland wird es unter uns keine zwei Meinungen geben: Ich selbst, um ein Beispiel zu nennen, plädiere für die Rückverstaatlichung von Bahn und Post, von Banken, von Wasserversorgung, Stromversorgung, städtischem Wohneigentum, von vielem also, das mit deutschem Volksvermögen aufgebaut worden ist und in den vergangenen dreißig Jahren an private Investoren verscherbelt wurde.
Ich plädiere (um einen Gedanken aus einem früheren Text zu verwenden) für staatliche Bereiche, die der Konkurrenz und der Rendite entzogen sein müssen. Die für manche Regionen verheerende Privatisierung von Krankenhäusern ist ein gutes Beispiel dafür. Ich bin strikt dafür, den massiven Land- und Waldankauf durch Superreiche und Fonds zu verbieten und schlage vor, die staatsfinanzierte Rettung und Unterstützung von Großkonzernen an eine Staatsbeteiligung zu knüpfen.
In der Debatte zwischen Kaiser, Lehnert (und anderen und mir) geht es aber um etwas anderes. Es geht um die Frage, in welchem Umfang der Staat überhaupt als Betreuer auftreten sollte. Not abzufangen ist etwas anderes, als Lebensverhältnisse sicherzustellen.
Auf einer höheren Ebene stellt sich außerdem die Frage, ob nicht gerade der Betreuer-Staat selbst dann, wenn er nicht in einer multikulturellen Gesellschaft agieren würde, durch ein Übermaß an Betreuung aus unabhängigen abhängige Bürger machte. Wieviel Anspruchshaltung, wieviel Bequemlichkeit, wieviel Infantilität steckt in erwachsenen Leuten, deren erster Ruf stets dem Betreuer gilt, wenn sie Unsicherheit oder sogar Umbrüche auf sich zukommen ahnen?
Und weiter: Welches Potential an Angstpolitik steckt in soviel Anspruch und Unselbständigkeit? Haben die Betreuer vielleicht ein Interesse daran, den Betreuten Fürsorge angedeihen zu lassen, um weiter oben, dort, wo es um den Umbau des Staates geht, freiere Hand zu haben?
Kaiser bringt es (wie oben ausgeführt) in seinem Artikel mit Carl Schmitt auf die Formel, daß der Staat Sicherheit, Ordnung und Ruhe zu gewährleisten habe und daß unser Staat dieses Versprechen gebrochen habe.
Ich habe in meiner knappen Analyse zur Wahl in Sachsen-Anhalt diese Bestandsaufnahme durch eine These ergänzt: Unser Staat in seiner derzeitigen Ausprägung leistet diese Forderungen im Großen tatsächlich nicht mehr, hat sich die Lämmertreue seiner Bürger aber durch eine Politik erkauft, die auf privater Ebene relativ viel Sicherheit, Ordnung und Ruhe ermöglicht. Noch keine politisch relevante Gruppe so unter existentiellem Druck, daß ein Wendewille durchschlüge.
Sicherheit, Ruhe, Konsummöglichkeit sind für die überwältigende Mehrheit aller Angestellten und Arbeiter ein Argument, maulend zwar, aber faktisch dennoch mit diesem Staat zurechtzukommen, der im Großen und Ganzen die Zukunft des deutschen Volkes verspielt. Man kann sich einrichten, man kann das berühmte richtige Leben im falschen führen, das Ätzende ätzt nicht durch bis in den Alltag, und das macht das Herrschaftssystem der Betreuer über die Betreuten so sehr viel geschmeidiger und undurchsichtiger als jedes harte Regime.
Von diesem Punkt aus gibt es zwei Optionen:
1. Es gibt vor allem unter kleinen und größeren Selbständigen eine starke Tendenz zu einer Abwendung von diesem Staat. Martin Lichtmesz wird für die 103. Sezession (August) über diese Haltung schreiben und sie unter dem Begriff “situationslibertär” oder “lagelibertär” zu fassen versuchen.
Dieser Begriff ist hervorragend geeignet, den Dauer- und Totallibertären, die nun eine libertäre Wende wähnen, den Wind aus den Segeln zu nehmen: Wenn sich Leute wie wir vom Staate abwenden, dann nicht vom Staat und der Staatsidee an sich, sondern nur lagebedingt von seiner derzeitigen Ausformung. Man muß sich nur ein einziges Mal vorstellen, wohin das abfließt, was denjenigen abgepreßt wird, die tatsächlich zum Plus in diesem Lande beitragen, anderen Leuten Arbeit geben und nicht nach vierzig Stunden Feierabend haben.
Man wendet sich ab von einem Staat in seinem derzeitigen Zustand als erbeuteter Institution, die von den Beutemachern ausgequetscht, deformiert, pervertiert und in ihrer ganzen Autorität gegen diejenigen gewendet wurde, die um den großen Wert der Staatsautorität wissen und sich ihr verpflichtet fühlten.
Man wendet sich ab, weil man die ethnische Umverteilung ebenso ablehnt wie die nach ganz weit oben und natürlich auch die, deren einschläfernde Wirkung bei der letzten, vorletzten, vorvorletzten Wahl sich niederschlug.
2. Die Gefahr, die hinter dieser Abwendung steht, ist nicht klein: Institutionen aufzugeben ist einfacher als zu ihnen zurückzukehren. Die Gefahr, zum libertären, liberal-zynischen Einzelgänger zu werden und daran Gefallen zu finden, ist groß.
Dies ist wohl das Hauptargument Kaisers, die Verteidigung und den Ausbau des Sozialstaats immer noch besser zu finden als die Roßkur, die darin bestünde, den Leuten wieder beizubringen, was es heißt, harten Zeiten mit Kreativität, Selbstbewußtsein, mehr Fleiß, weniger Urlaub, materiellem Verlust, aber ideeller Reifung zu begegnen – und zu wissen, daß der Staat schon da ist, wenn einem nichts mehr einfällt.
Kaiser will den Staat als Institution keinesfalls beschädigt sehen, will ihn sozusagen durch sein derzeitiges Außerformsein hindurch zu fassen kriegen und ihn wieder zu dem zu machen, was er sein sollte. Man könnte es eine Umformung, eine Rekonstruktion im laufenden Galopp nennen. Sein Vorschlag ist, Masse dadurch zu mobilisieren, daß man in ihrem Namen den Anspruch an den Staat formuliere, solidarische und patriotische Politik für unser Volk umzusetzen.
Diejenigen hingegen, die sich nun abwenden, lageabgewandt weitermachen, meinen, daß so eine Restitution im laufenden Galopp nicht gelingen könne, sondern daß das Pferd straucheln müsse. Zu viele Betreuer, zu viele an Betreuung gewöhnte, zu viel Anspruchshaltung, zu wenig Selbständigkeit im guten Sinne, dazu die Gefahr, durch einen parteipolitisch zweckdienlichen Opferpopulismus die Realität nicht zu erfassen.
Das ist die Debatte, sie muß geführt werden, und das ist die Bandbreite unserer Zeitschrift, für deren 102. Heft ich hiermit werbe: Kaisers und Lehnerts Grundsatzbeiträge sind darin zu lesen, dazu viel anderes. In Heft 103 wird die Debatte dann in größerem Umfang fortgesetzt.
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Sezession 102, Juni 2021
Kaiser: Solidarischer Patriotismus
Lehnert (Hrsg.): Staatspolitisches Handbuch
Dietrichs Bern
Die Anhänger des Staates gehen davon aus, dass dieser der eigenen Weltanschauung gemäß handelt, oder sich in diese Richtung entwickelt, hinter dieser Sicht sammeln sich auch alle, die ein autoritäres Wesen kennzeichnet und denen der Nachbar, der nicht so lebt wie sie geradezu seelische Pein bereitet.
Das ist erkennbar falsch. Der reife Staat verselbstständigt sich immer in ein technokratisches Monstrum, dessen Fortschreiten und Ausgreifen in die kleinsten Lebensbereiche seiner Untertanen unaufhaltsam ist.
Staatsferne ist das einzige Konzept, dass der Entwicklung eines gigantischen Chinas im Wege steht. Merkwürdig, dass auf dem Boden derjenigen, die einst gegen eine zentralistische Supermacht kämpften um ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren, diese Sicht so verloren gegangen ist.