„Weltanschaulich“ wuchs meine Generation mit Informationen auf, die ausgegeben wurden, als seien sie unabdingbar wahr und richtig. Die ideologisch regierten Behauptungen hatten nicht nur als faktisch, sondern als wissenschaftlich zu gelten.
Sie seien also gerade mehr als nur Behauptungen, nämlich letztgültig gesicherte Erkenntnisse. Überhaupt wurde die den gesamten Staat und seine Kultur prägende Weltanschauung, der Marxismus-Leninismus, beständig mit dem Attribut „wissenschaftlich“ versehen. Diese „Lehre“, hieß es, wäre allmächtig, weil sie wahr ist. Indikativisch ausgedrückt, meist sogar imperativisch.
Folgerichtig also, daß die Partei, die diese Anschauung vertrat und „weiterentwickelte“, als die „führende“ anzusehen war, befände sie sich doch im Besitze der Wahrheit, die sie – „kämpferisch“ – gegen alle anderen Kräfte vertrete, die sich eben nicht im gesegneten Zustande der Einweihung befänden, mithin mindestens noch zu lernen und einzusehen hätten, was die Wahrheit sei. Es gäbe nämlich nur diese eine. Gelänge der Läuterungsprozeß zu dieser Einsicht nicht, müßte man sie bekämpfen. Logisch.
Es wurde also unterstellt, es existiere ein an sich Gegebenes, das man erkennen könne, und zwar absolut, ohne Abzug.
Daß zwischen der Realität und dem Wahrgenommenen bzw. Dargestellten eine Differenz bestünde oder überhaupt nur ein erkenntnistheoretisches Problem, davon hörte ich als Schüler nie.
Oder anders: Staatliche Behauptungen galten nicht reduziert als Behauptungen, sondern als faktische und gesicherte Erkenntnisse, an denen zu rühren bedeutete, eben nicht der Wahrheit, sondern der Lüge das Wort zu reden. Wider besseres Wissen, denn in den Stand des Wissens wäre man ja schon durch die sozialistische Schule gesetzt worden.
Nein, es gäbe hinsichtlich der einzunehmenden Position eben gerade keine Option, sondern nur eine einzige statthafte Positionierung, kraft jener durchbefohlenen Aussage, die allein und ausschließlich wahr wäre. Diese Position wäre nicht durch eine Information beschreibbar, die diskutiert werden könnte, ja müßte, sondern die eben gar nicht disktutabel wäre, sondern in ihrer uneingeschränkten und nicht zu hinterfragenden Geltung absolut. Ein Dogma.
Nirgendwo war die Rede davon, daß Philosophie und theoretische Hervorbringungen, wie Jorge Luis Borges es darstellt, zunächst nur als Fiktionen zu gelten hätten, die verschiedenen narrativen Mustern folgten und deren Systematik Menschen gemäß ihrer subjektiven Vorstellungen erstellten.
Eine solche Behauptung hätte unmittelbar zu ideologischer Häresie geführt und die politische Inquisition aufgerufen, insofern die Partei-Marxisten meinten, sie wären längst zum Kern alles Wahren und Guten vorgedrungen, hätten den ein für allemal erkannt; alle anderen Beschreibungen irrten also unweigerlich.
Hätte hinter dieser Auffassung nicht ein Staat mit seiner ganzen exekutiven Wucht, ja ein ganzes Weltsystem gestanden, hätte man rein philosophisch all die marxistisch-leninistischen Beschwörungen des einzig Wahren als naiven Faktenglauben abtun können, der die wichtigste Maßgabe der Aufklärung ignorierte, der gemäß es nun mal nicht allein um Wissen, sondern um den Umgang mit dem Wissen, mit dem für glaubhaft Gehaltenen, mithin um fortlaufende Kritik der angeblichen Fakten gehen müßte: Lesen lernen, denken lernen, hinsehen und analysieren, Urteilskraft entwickeln.
Weil die Welt und die menschliche Gesellschaft nun mal viel komplexer sind, als die Philosophen sie darstellen könnten. Komplexer, als es bei Marx, Engels und Lenin stünde. Und vor allem komplexer, als diese drei im Sinne der herrschenden engstirnigen Ideologie ausgelegt wurden.
Um bei Borges zu bleiben: Dessen Topos Labyrinth wäre den SED-Marxisten sehr befremdlich gewesen – als eine Denkfigur, die einen Ort entwirft, an dem Wege sich verzweigen, ohne daß das Ziel auszumachen wäre.
Deshalb säuberten die Kommunisten jene Institutionen, die in der Vielfalt überlieferten Wissens Labyrinthen ähneln und übrigens Borges Lieblingsorte waren, die Bibliotheken nämlich. Unterstellend, es gäbe nur den einen, den geraden Weg zur einzig richtigen Erkenntnis. Die Umwege und Verirrungen eines Labyrinthes wären unnötig, laufe man doch fortlaufend in die Irre, wenn man auf dem langen Marsch nicht der einen, der einzig richtigen Route folge.
Gerade das Internet, das Netz!, kann als ein Labyrinth, als eine riesige Bibliothek gelten. Jeder schaut zudem das Vorgefundene aus seiner eigenen Perspektive an und konstruiert über seine Wahrnehmungen so allerlei daraus, was wohl viabel sein kann, aber nicht wahr sein muß.
Keine Frage, die SED-Apparatschiks hätten mit dem Internet, das sie noch nicht kannten, ein ernstes Problem gehabt und darin ganz richtig eine Unübersichtlichkeit, einen Wildwuchs vermutet, in dem sich die Konterrevolution verstecken konnte wie Guerillas in einem Dschungel.
Das Betriebssystem „Windows“ paßt in seiner Bezeichnung zum Internet, deutet es doch sowohl auf Ein- als auch Ausblicke hin. Fenster wollen aufgestoßen werden, ins Freie und Klare; sie lassen Frische und Welt ein und ermöglichen das Aufatmen.
Alles Wissen ist Überlieferung, lange Zeit also die Welt der Bücher oder der darin versammelten Zeichen, jene riesige, nicht zu überschauende Bibliothek, die man nicht verlassen kann, wenn man liest und denkt. Es gibt kein Außerhalb des Textes, so wiederum Borges, der in seiner Erzählung “Das Aleph” einem Mann im Keller seines Hauses einen Ort entdecken läßt, der alle Orte der Welt in sich enthält.
Dieses Außerhalb aber meinen namentlich die Linken immer erkannt zu haben. Offenbar sehen sie sich als jene Erleuchteten, die Platons Höhle zu verlassen wußten und sich außerhalb im Lichte der absoluten Moral und sozusagen im Wissen Gottes wiederfanden. Sie vertreten bis in ihren Gestus hinein jene totale Erkenntnis, in deren Stand niemand gelangt, in den hinein sie sich aber versetzt fühlen. Die intellektuelle Rechte zweifelt immer, die intellektuelle Linke nie, so wie die Rechte mit Blick auf den Menschen Grenzen für erfordert hält, die Linke aber entgrenzen läßt – bislang mit der Folge, daß so der Horror eintritt.
Weshalb diese Notizen?
Weil sich, allzu deutlich geworden und forciert mit der Corona-Krise, politisch wieder mal der Anspruch des Absoluten etabliert, und zwar dort, wo er gefährlich ist – im Staat und in den ihm zugeordneten Leitmedien und Deutungsbehörden von Deutschlandfunk bis Schule. Besonders perfide, weil in der Art freudianischer Ambivalenz und Verschiebung gerade seitens der Ökolinken und der von ihnen weitgehend bestimmten Staatsdoktrin permanent die Forderung nach Vielfalt, Toleranz und Offenheit erhoben wird, was aber gerade nicht für jene gelten soll, die dessen bedürften, die Andersdenkenden nämlich.
Wissenschaftliches wird als absolut gesetzt, wenn es von den Wissenschaftlern kommt, die die Führung eigens bestallte, um sich eben damit die eigenen Entscheidungen zu legitimieren. Souverän ist, wer ein wissenschaftliches Urteil nicht mehr falsifizieren läßt, sondern es zur Doktrin erhebt.
Wieder werden Abweichler, Bedenkenträger und Kritiker als Renegaten und Verschwörungstheoretiker stigmatisiert, wieder ruft die Regierung die alleinige Geltung der Positionen der von ihr geheuerten Wissenschaftler auf, wieder soll es nur den einen Weg geben, der mit Rigorosität gewiesen wird.
Dieser eine Kurs bezieht sich aber nicht nur auf den Weg, der aus der sogenannten Pandemie herausführten soll, sondern immer vehementer auf die Geltung einer einzigen Moral, eines einzig geltenden Geschichtsbildes und einer – wieder mal – einzigen „Weltanschauung“, die ihrem Selbstverständnis nach eine Allmacht beanspruchen dürfe, ja müsse, weil sie angeblich wahr wäre.
Man muß nicht unbedingt Kurt Gödel oder Karl Popper aufrufen, um klarzumachen, daß exakte Voraussagen oder Festlegungen über den Verlauf menschlicher Geschichte, über Politisches, ja selbst über Mathematisches und Naturwissenschaftliches, nicht nur praktisch, sondern theoretisch unmöglich sind. Es belehrt einen darüber – wie über das meiste – das Leben selbst, von dem wiederum die Politik oft abzusehen versucht.
Laurenz
Jede, auch wissenschaftliche Wahrheit, ist keine, wenn sie nicht zur Debatte gestellt wird.
Gerade die real-marxistische Wahrheit, die Sie, HB, beschrieben haben, bräuchte in der Überzeugung auf dem richtigen Weg zu sein, doch im Grunde keine Debatte scheuen.
1984 oder 85 hatte ich eine Debatte mit der FDJ - & FDGB - Bezirksleitung Suhl. Auch wenn man damals (in der Debatte) in der Wahrheit des real-existierenden Sozialismus blieb, hatten die Protagonisten des 2. sozialistischen Staates auf Deutschem Boden verloren. Oder wie will man 5 unterschiedliche Verpflegungsklassen der Roten Armee rechtfertigen, während der kapitalistisch-faschistische Feind auf Deutschem Boden nur eine bei seiner Armee unterhält?
Sonst haben Sie hier alles so perfekt beschrieben, daß es gar nichts groß zu kommentieren gibt.
Aber hier würde es mich brennend interessieren, wie Sie mit Ihren religiösen Kollegen klar kommen? Denn Marxismus ist nichts anderes als Religion. Das haben Sie hier ja eindeutig nachgewiesen, ohne dies zu formulieren.