Es bedarf an dieser Stelle keines deutschen Synonyms, zumal das Wort jenem „Westen“ entlehnt ist, den die Bundesrepublik seit der Ära Adenauer als Maß aller Politik ansieht.
Establishment paßt als Bezeichnung für jene maßgebliche Gruppe, die politisch wie wirtschaftlich etabliert ist und daher kulturell-überbaulich die Richtung bestimmt. In Deutschland dürfte dem politischen Establishment im Vergleich zu anderen Nationen sogar quantitativ wie qualitativ eine besondere Bedeutung zukommen.
Das politische Berlin ist der Zahl nach bereits von eigenem Großstadtformat, hinzu kommen die Nachahmer in den Bundesländern. Die nehmen sich nicht weniger wichtig, bestimmen den Kurs, sind ebenso komfortabel abgesichert, pflegen einen ähnlichen Lebensstil und setzen auf die gleichen Statussymbole und Rituale.
Die Lebensweise des Establishments erscheint barock bis dekadent und unterscheidet sich im Verschwenden öffentlicher Mittel für das eigene Wohl nicht wesentlich vom Bonzentum einer Diktatur oder der schillernden Verkommenheit der Hofstaaten fürstlicher Residenzen, darf sich aber „demokratisch legitimiert“ fühlen.
Dieser vermeintlichen Legitimation zur Exklusivität widerspricht die Fortdauer des Beamtentums, das sich mehr leistet, als es selbst leisten muß: Wer einmal als Entscheidungsträger oder nachgeordneter Effendi auf einen satt honorierten Büroposten gelangte, der bleibt dort meist sitzen und steigt mindestens dem Gehalt nach auf. Wer hingegen ein Wahlamt „bekleidet“, darf darauf hoffen, nach seiner Abwahl weiterhin versorgt zu werden, entweder durch seine Partei und deren Einrichtungen oder innerhalb des gesponnenen Netzwerkes. Auch fein gewirkter Filz bleibt Filz. In Berlin wie in den Hauptstädten der Bundesländer ist der Life-Style der Ministerialen unangenehm deutlich spürbar. Bescheidenheit eignet dieser Kaste ebensowenig wie traditionelles Pflichtbewußtsein. Dienst wird vor allem als Dienst an sich selbst verstanden.
Hinter dem Establishment steht „die Mitte“, also die Gruppe der dank guter Abschlüsse und mittels Angepaßtheit Wohlsituierten. Das Establishment ist selbst „Mitte“, Fleisch vom Fleische der Zufriedenen, die sich gleichzeitig als gute Demokraten, als Anständige und vor allem als zeitgemäße Neubürger ansehen. Ein Milieu, das sich in seiner Welt-Anschauung und Werteorientierung selbst reproduziert und seine Meinungsführerschaft vom Elternbeirat bis in höchste Gremien bislang wirksam steigerte.
Interessant vor allem, mit welchen Semantiken und Codes die Mitte und das Establishment ihr Selbstverständnis ideell und sprachlich generieren.
Man ist im Positiven: modern, demokratisch, bunt, weltoffen, humanistisch, tolerant, frauenfreundlich, gerecht und für die Inklusion von allem und jedem, ökologisch, umwelt- und klimabewußt sowieso. Der Kauf von Fairtrade-Schokolade mit Bio-Logo gilt bereits als starker Ausdruck mitmenschlicher und umweltbewußter Haltung.
Im Negativen: antinationalistisch, antiimperialistisch, antichauvinistisch, antideutsch, antirassistisch, antikolonialistisch, antipatriarchalisch. Und man ist grundsätzlich „eher links“, weil alles in der Berliner Republik „eher links“ ist, selbst die CSU. Mittlerweile sind eine Vielzahl von Deutungsbehörden installiert, die mittels öffentlicher Gelder über Kampagnen und Schulungen ideologische Propaganda betreiben, der kaum mehr widersprochen werden darf, insbesondere nicht an den Schulen.
Dies alles in Ergebnis einer Kollektivneurose, die ausgelöst ist von dem Trauma, daß früher das Gegenteil all der neuen Selbst- und Grundvereinbarungen offenbar ebenso möglich war.
Mehr noch ist man deswegen „eher links“, weil man nicht zu ertragen vermag, daß dem Menschen eine dunkle, eine mephistophelische Seite eignet, die man – als Bessermensch – für sich selbst völlig in Abrede zu stellen meint, insofern man als „eher Linker“ nur gut sei, also im Lichte der Gnade stehe, während alle anderen, die, selbst wenn nur in Teilen, das durchbefohlene politische Glaubensbekenntnis nicht wortgenau mitzusprechen bereit sind, schon das böse Dunkel offenbaren und als Verworfene gelten müssen, der reinen Lehre eben nicht teilhaftig. Das Synonym für Andersdenkende ist mittlerweile „der Rechte“ oder „der Nazi“.
Daß, mit Nietzsche gedacht, der dunkle, vermeintlich böse Anteil im Menschen besonders produktiv und gestalterisch wirken kann, sei hier beiseite gelassen, mit Blick auf linke, etwa die typisch sozialdemokratische Behäbigkeit und feiste Selbstgefälligkeit aber erwähnt.
Innerhalb der “freiheitlich-demokratischen Grundordnung” etablieren sich längst autoritär-vormundschaftliche Strukturen, je weiter linksjakobinisches Denken vordringt. Der Verfassungsschutz schwingt sich bereits in den Rang eines robespierrschen Wohlfahrtsausschusses auf; auf der Straße sind die Sansculotten in Gestalt der Antifa und der Kinderdemo “Fridays for Future” unterwegs. Verordnet wird, daß einem das gefälligst zu gefallen habe.
Weiter zur Anamnese des Neurotischen:
Dem Establishment und seiner „Mitte“ macht zu schaffen, daß die Basis für den eigenen Wohlstand eben gerade kraft Nationalismus, Imperialismus und Chauvinismus vom weißen Mann geschaffen wurde, innerhalb eines weltgeschichtlich dramatischen Prozesses, der nicht nur moralisch fragwürdig, sondern sogar kriminell erscheint, insbesondere eben in der langen Phase der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“, das schließlich jene Kräfte entfalten konnte, die den Wohlstand der derzeit führenden Demokratien und des „Westens“ überhaupt erst begründeten. Ohne diesen mit tiefer Schuld errungenen Wohlstand gäbe es die Wohlstandsdemokratien in ihrer jetzigen Gestalt nicht. Den Beginn ihrer Geschichte markiert eine frühneuzeitliche Urschuld. Marx wußte: Fortschritt ist der blutige Götze, der seinen Nektar aus den Hirnschalen Erschlagener trinkt.
Kant sah den Menschen als ein “krummes Holz”. Er vermied die Illusion, der Mensch könne je in ewigem Frieden mit sich leben. Vielmehr beschrieb er ihn als ambivalentes Wesen, das sich zwar als freiheitsbegabt offenbart, andererseits aber als miserable Kreatur. Permanent im Wiederstreit mit sich selbst und anderen, muß der Mensch ständig gegen das Böse ankämpfen, das in ihm dräut.
Alles wertbildend Geleistete basiert nun mal auf Schuld. Mit dieser Einsicht und damit in der Konfrontation mit einem Mythos biblischen Formats können die „eher Linken“ nicht leben. Nein, der Wolf soll für immer beim Lamm liegen. Der historische Mensch wäre früher aus mangelnder Einsicht und Reife verrannt gewesen; man können ihn seit der Aufklärung aber endlich und zu gutem Ende besser erziehen, vor allem die Umstände ihm gefälliger einrichten, auf daß er gänzlich gut werde und etwa eine „person of color“ nicht nur mehr scheel ansehe, sondern das „N‑Wort“ nicht mal mehr in der Literatur ertrage. Wie so vieles andere nicht, daß nicht nur nicht sein dürfe, sondern am besten niemals stattgefunden hätte.
Der Genetik der „eher Linken“ ist die Philosophie namentlich des deutschen Idealismus eingeschrieben. Der ging von Hegel auf Marx über. Geschockt steht die Linke daher vor ihrer eigenen Geschichte. Sie kann nicht damit umgehen, historisch selbst in geradezu horrender Weise schuldig geworden zu sein. Die Rechte hingegen kennt ihre geschichtliche Schuld und deren Gründe bzw. Abgründe, sogar die Notwendigkeit, schuldig werden zu müssen, um Gutes zu wirken. Was die Rechte solcherart an sich selbst erkennt, vermag die Linke in eigener Sache nicht zu ertragen, weil das ihr illusionär-utopisches Welt- und Geschichtsbild stört. Die Linke muß verdrängen, die Rechte kann anthropologisch, also auch politisch klarsehen. Die Zeit arbeitet daher gerade für sie, denn linkes Denken gestaltet sich immer ungelenker und führt zu Verstelltheiten, die der Freiheit im Wege sind.
Zurück zu unserer gesellschaftliche „Mitte“ und dem von ihr hervorgebrachten Establishment:
Der Neurotiker weiß in seinem Inneren, ahnt in den tieferen Regionen des Unbewußten aber immer, daß die vage und lavede Konstruktion, die er für sich und andere zu Trost und Segen errichtet, statisch nicht stimmt, windschief bleibt und zusammenzubrechen droht. Obwohl diese Konstruktion mit ihren Verzerrungen gerade das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen stabilisieren soll, bleiben da böse Ahnungen des Gegenteils, daß nämlich in der Gründung, im Fundament des Ganzen etwas Brüchiges nur kaschiert wurde. Unten fault es. Man kann es bereits sehen und riechen, darf es aber nicht zugeben. Aber genau deswegen, der eigenen Gewissensnöte und schlimmen Ahnungen wegen, selbst nicht rechtfertigen und tragen zu können, was da entworfen wurde, wird eben so gegen andere ausgeholt.
Die „eher Linken“ externalisieren ihre halbbewußten Anteile und projizieren diese in den ganz anderen, in den Rechten, den Nazi, den vernunftwidrig bösen, bösen Menschen, den es zu bekämpfen gilt. Weil man selbst so urgesund erscheinen möchte, muß der andere als pathologischer Fall gelten, dem man zwar Heilung anbieten, aber Toleranz niemals gewähren darf.
Haldenwang ist ein Apparatschik, der einen solchen Manichäismus transportiert und damit die „Mitte“ tröstet, unter anderem gegenüber ihrem schlechten Gewissen, parasitär zu leben und selbst – natürlich – in wesentlichen Anteilen amoralisch zu sein.
Die F.A.Z. veröffentlichte am 16. Juni 2021 das Ergebnis einer Studie, die zu diesem Beitrag paßt, weil sie die Stimmung im Land mit Zahlen untersetzt, die eine Tendenz zu einer Kultur politischer Vormundschaftlichkeit vermuten lassen:
“Weniger als die Hälfte der Deutschen hat laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach für die F.A.Z. noch das Gefühl, in Deutschland könne man seine politische Meinung frei sagen. Nur 45 Prozent der Befragten äußerten, das treffe zu; das ist der mit Abstand niedrigste Wert, seit das Institut im Jahr 1953 zum ersten Mal danach gefragt hat. 44 Prozent gaben an, es sei besser, vorsichtig zu sein. Als Themen, bei denen man besonders aufpassen müsse, was man sage, nannten 59 Prozent den Islam, 38 Prozent Vaterlandsliebe und Patriotismus und 19 Prozent die Gleichberechtigung der Frauen.
Am positivsten sehen die Lage der Meinungsfreiheit in Deutschland Sympathisanten von Grünen und von CDU/CSU. 62 Prozent der Grünen- und 53 Prozent der Unionsanhänger glauben, man könne seine Meinung frei sagen. Unter den Anhängern aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien überwiegt der Anteil jener, die glauben, man müsse mit Meinungsäußerungen vorsichtig sein. Unter den SPD-Wählern sind das 46 Prozent, bei denen der Linken 49 und bei denen der FDP 51 Prozent. Am deutlichsten ausgeprägt ist diese Haltung unter AfD-Anhängern, von denen nur zwölf Prozent der Ansicht sind, man könne seine Meinung frei äußern.”
quarz
"Haldenwang ist ein Apparatschik, der einen solchen Manichäismus transportiert"
Die Betonung muss hier wohl auf "transportiert" liegen. Als Person, darauf lässt sein ganzes Auftreten und Künden schließen, ist er intellektuell wohl kaum in der Lage, den Manichäismus oder irgendein anderes Denkgebäude in einem Maße zu reflektieren, das eine rationale Anhängerschaft jenseits von bloß opportunistischem Mitläufertum begründen könnte. Er scheint mir geradezu mustergültig jenen Typus zu verkörpern, der - unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung - in jedem politischen System eine ähnliche Rolle übernehmen würde wie nun jetzt in diesem.