Normalerweise ist die Luft im Nordosten des chinesischen Festlands außerordentlich stark mit dem Stickstoffdioxid (NO2) belastet. Auf den Bildern der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA äußert sich das in einem braunen bis dunkelbraunen Fleck, der die Menge der Verbindung in der Atmosphäre indiziert. Die wirtschaftlich aufstrebende Volksrepublik stößt qua ihres erwachten Ressourcenhungers und des daran gekoppelten industriellen Produktionssektors Unmengen an Schadstoffen und Treibhausgasen aus.
Doch Ende Februar dieses Jahres bewegte sich die Konzentration des giftigen NO2 über China auf ein minimales Niveau zu. Laut der NASA-Spezialisten war dieser Rückgang zuallererst im Raum Wuhan zu beobachten gewesen und breitete sich danach über das gesamte Land aus. Die Forscher sind sich sicher, daß dieses Phänomen aufgrund der mit der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus »COVID-19« verbundenen weitreichenden Quarantänemaßnahmen der chinesischen Regierung auftritt. Denn auch nach den traditionellen Feiern zum chinesischen Neujahrsfest – eine Zeit, in der die Fabriken und Produktionsbänder für gewöhnlich weitestgehend stillstehen – hat sich das Bild nicht verändert. Außerdem lagen die NO2-Konzentrationen selbst während des Neujahrsfestes um zehn bis dreißig Prozent unter den Werten, die gewöhnlich für diese Tage gemessen werden.
Das Virus hat Chinas Produktion und Konsumption eingefroren. Die China Academy of Information and Communications Technology meldete beispielsweise für den Februar einen Rückgang der Smartphoneverkäufe auf dem chinesischen Binnenmarkt um 56 Prozent im monatlichen Jahresvergleich.
Auf einem restlos vernetzten Globus ist jedoch nicht nur die chinesische Wirtschaft von diesem Stillstand betroffen, sondern die gesamte Weltökonomie. Während das Corona-Virus sich auch in Europa rapide ausbreitet, reagieren die Aktienmärkte auf die Melange aus bereits evidenten und antizipierten ökonomischen Auswirkungen einer drohenden Pandemie ausgesprochen nervös und mit frei fallenden Kursen. Die akut betroffenen Wirtschaftszweige sind unterdessen die Tourismus- und die Veranstaltungsbranche, die die Folgen der Virusausbreitung unmittelbar zu spüren bekommen.
Doch es wird sicherlich nicht beim Tourismus, Konzerten und Messen bleiben; essentielle Lieferketten sind unterbrochen und die Produktion fährt in China nach den wegen des Virus verlängerten Neujahrsferien nur unter erheblichen Problemen wieder hoch. Ferner gestaltet sich die Verschiffung von Produkten aus China aufgrund neuer Auflagen extrem umständlich. Die US-amerikanische Investmentbank Morgan Stanley geht davon aus, daß in China in der zweiten Februarwoche lediglich 30 bis 50 Prozent dessen hergestellt worden ist, was ansonsten über die Produktionsbänder läuft. Auch bei Volkswagen läuft die Produktion in seinen 33 Werken in China nur stockend an. Für die europäischen Volkswirtschaften rächt es sich nun bitter, daß etliche Produktionszweige in das Reich der Mitte ausgelagert wurden. Darüber hinaus betrifft das Einfrieren ökonomischer Prozesse mittlerweile mehr Länder als nur die Volksrepublik: In vom Virus stark betroffenen Staaten wie Südkorea und Italien setzt sich der relative Stillstand fort.
Für die Natur bedeutet die einsetzende Verlangsamung der Wirtschaft zwar eine Entspannung, jedoch wird es nur bei einer kurzweiligen Verschnaufpause bleiben. Denn es kann nicht damit gerechnet werden, daß der kurzfristige, kriseninduzierte Abschwung sich zu einem langwierigen Trend verstetigen wird – ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf die bedingungslose Wachstumsorientierung unserer Gesellschaften ist in Anbetracht der Coronakrise keineswegs zu erkennen. Das verwundert kaum, insofern als das Virus die auf Bedarfsweckung und raschen Verschleiß angelegte Produktionsweise nicht direkt in Frage stellt. Außerdem lehrt die Geschichte, daß ähnliche »Seuchenwellen« den unbeirrt vorwärtsrollenden Fortschrittszug nie von seinem wesentlichen Kurs haben abbringen können – die vergleichsweise tödliche »Spanische Grippe« hat ihn nicht aufgehalten und die etwas »milderen« Grippe-Pandemien der miteinander verwandten »Asiatischen Grippe« und »Honkong-Grippe« stoppten ihn in den 1950ern und den 1960ern genausowenig.
Dennoch: Abgesehen von der sich lichtenden NO2-Decke über China sind auch in Europa erste Entwicklungen zu beobachten, die den Druck von bestimmten Ökosystemen nehmen werden. Ein entscheidender Faktor für die Minderung der anthropogenen Umweltbelastungen ist unter anderem der einschneidende Rückgang des Tourismus. Wie stark dieser letztendlich ausfallen wird, ist nicht zuletzt davon abhängig, wie lange Sperrzonen (siehe aktuell Italien) aufrechterhalten werden. Für den Flugverkehr sind bereits jetzt signifikante Einbußen zu verzeichnen: Stand 5. März bleiben bei der Lufthansa 150 Flieger am Boden, davon 25 Langstreckenflieger, die unter normalen Bedingungen in der Luft wären. Dazu paßt, daß die Nachfrage nach Öl im Keller liegt. Die Internationale Energie Agentur (IEA) prognostiziert unter den neuen COVID-19 Rahmenbedingungen für 2020 erstmals seit der Finanzkrise 2008 keinen Anstieg der Nachfrage, sondern einen Schwund – im Jahresvergleich soll sie um 90 000 Barrel pro Tag schrumpfen. Gesetzt den Fall, daß sich die Nachfrage im zweiten Halbjahr nicht wieder normalisiert, rechnet die IEA sogar mit einem extremen Rückgang von 730 000 Barrel je Tag.
Dieser Abschwung wird zwar hauptsächlich vom Einbruch im geschäftlichen Transportsektor angetrieben, die Bedrohungslage für die seit einigen Jahren florierende Kreuzfahrtbranche fügt sich in diesen Zusammenhang dennoch nahtlos ein. Die Unmengen an umweltschädlichem Schifftreibstoff, einem Gemisch aus Schweröl und Diesel, verbrennenden Vergnügungsparks auf hoher See werden in Zeiten der Coronakrise zu prädestinierten Quarantänezonen. Wenn die Fahrten nicht restlos eingestellt werden sollten, so müßte zumindest die Nachfrage empfindlich einbrechen. Speziell das in den Sommermonaten restlos überlastete Ökosystem »Mittelmeer« wird die monströsen Kähne kaum vermissen. Dasselbe gilt für die überlaufenen Fjorde in Skandinavien. Zu den beschriebenen Folgen für den Tourismus wird sich dann mit gewisser Verzögerung das niedrige, weltweite Wirtschaftswachstum hinzugesellen, das den endgültigen Tritt auf die Bremse des ungezügelten Ressourcenverbrauchs bedeuten wird. Setzt sich das virale Geschehen fort wie bisher, wird die Selbstgewißheit der modernen Welt für eine bestimmte Zeit aus den Fugen geraten und die industrialisierten Gesellschaften werden von der materiellen Überholspur auf den Standstreifen wechseln.
Ungeachtet dessen, daß die Ausbreitung des Coronavirus mit hoher Wahrscheinlichkeit keine nachhaltige Änderung am vorherrschenden Wirtschaftsparadigma nach sich ziehen wird, stellt die sich anbahnende und in Teilen schon eingetreten ökonomische Krise die Stabilität der als alternativlos geltenden Globalisierung zunehmend in Frage. Jeder Tag, an dem die Werke in China stillstehen oder eingeschränkt produzieren, führt vor Augen, welche Vorteile regionale Wirtschaftskreisläufe gegenüber einer überkomplexen Streuung von Produktionsstätten auf globaler Ebene haben. Bricht eine regionale Einheit weg, führt das nicht zwangsläufig dazu, daß eine Kettenreaktion losgetreten wird, bei der weitere nicht direkt vom kriseninduzierenden Faktor betroffene Einheiten mit ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ferner bringen regionale Lieferketten den Vorteil der ökologischeren Verträglichkeit mit sich, da sie lange Transportwege obsolet werden lassen. Außerdem erhöht eine regionale Organisation der Ökonomie die Kontrolle über die Produktionsbedingungen – Entlohnung, Arbeitszeiten und ökologische Standards sind leichter zu regulieren, wenn sie immediär im eigenen Zugriffsbereich liegen.
Sosehr die durch das Coronavirus ausgelöste Krise eine ernsthafte Bedrohung darstellt, sosehr beinhaltet sie die Chance, ökonomische Weichen zu stellen, die der globalen Monokulturalisierung entgegenwirken. Mit anderen Worten: Sie bietet die Möglichkeit, eine Deglobalisierung einzuläuten.