Woher rührt das bis heute tief verankerte Mißtrauen vieler Deutscher gegen das eigene Militär? Kaum eine andere Institution wird in diesem Land mehr beargwöhnt als die Armee. Dies liegt keineswegs nur an der pazifistischen Grundhaltung der Bundesrepublik, der Aversion gegen jeden Krieg. Die Ablehnung geht tiefer, läßt die Furcht erkennen, in den Baracken jenseits des Stacheldrahts einen verschwörerischen Staat im Staate vorzufinden. Der durch Preußen geprägte Dienstethos, die Unterordnung unter Pflicht und Gehorsam, steht im Verdacht, Soldaten zu erzeugen, die außerhalb ihrer Gemeinschaft nicht mehr kontrollierbar seien. Reden zu Rekrutenvereidigungen in Deutschland enthalten daher keine anerkennenden Worte über Mut und Opferbereitschaft, sondern mahnen zur Gesetzestreue und Loyalität. Die Politiker wirken bei diesen Pflichtbesuchen mehr wie Dompteure einer Raubtiermeute, so als würden Strafgefangene und keine Staatsdiener vereidigt.
Geht man diesen unausgesprochenen Vorwürfen aber näher auf den Grund, wird schnell ersichtlich, daß es sich hierbei mehr um ein nebulöses Unbehagen als um faktisches Geschichtsbewußtsein handelt. Denn die preußisch-deutsche Militärgeschichte kann keinen ausgeprägten Hang zur Junta-Bildung vorweisen. Im Gegenteil – in ihr finden sich nur drei nennenswerte Beispiele von offenem Aufbegehren der Offiziere gegen ihre Regierung: die Konvention von Tauroggen, der Kapp-Putsch und die Verschwörung des 20. Juli. Nun eignen sich weder Yorcks eigenmächtiges Vorgehen gegen den preußischen König noch der Stauffenbergsche Aufstand des Gewissens für eine Exemplifizierung der These eines die Politik bedrohenden Offizierkorps. Es waren Ermessensentscheidungen, getroffen in unübersichtlichen Notlagen. Viel eher liegt die Tragik der deutschen Offiziere in einer ausgesprochenen Unterordnung unter das Primat der Politik.
Die einzige Ausnahme stellt der Kapp-Putsch im März 1920 dar. Ein sonderbares Ereignis, dessen eigentlicher Verlauf schnell erzählt ist, aber aus dem sich doch manche Lehre ziehen läßt, und zwar deswegen, weil sein Scheitern schon sehr bald feststand. Daß das Hauptgeschehen auf den 15. März fiel, ist eine jener Analogien, die nur die Geschichte kennt: Es sind die Iden des März, die schon Caesar zum Verhängnis wurden und die seitdem zum Synonym des Verrats, aber auch der Verkennung der politischen Lage geworden sind. Denn wie schon die letzten Tage der römischen Republik zeigen, muß einen Umsturzversuch mehr auszeichnen als der Wille zur Macht. Brutus und die anderen Verschwörer appellierten an den Idealismus ihrer Mitbürger und verzichteten auf politische Konzepte jenseits der Restauration. Sie erwarteten von diesen nach der Ermordung des Diktators ein Bekenntnis zur Republik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Doch die Bürger Roms wandten sich demjenigen zu, der die meisten Legionäre aufstellten konnte und von dem die ausschweifendsten Festivitäten nach dem Sieg im Bürgerkrieg zu erwarten waren. Die Fehleinschätzung und Konzeptlosigkeit der Verschwörer wurde letztlich ihr Verhängnis.
Der Kapp-Putsch begann, wie so vieles in dieser Zeit, mit Soldaten, die nach vier Jahren Grabenkampf dem plötzlichen Frieden mißtrauten. Nachdem sie ihren letzten Marsch beendet hatten und wieder Heimatboden unter den Stiefeln spürten, gab es drei Optionen. Sie standen vor der Wahl zwischen einer Rückkehr ins Zivile, einer opportunistischen Karriere oder Zorn. Für den ersten Weg entschieden sich Millionen. Sie wollten nichts mehr zu tun haben mit dem Militär, dem Dienst, der Gewalt. Fernab der Front erhofften sie im Alltag Heilung für ihre körperlichen und seelischen Wunden zu finden. Manchen gelang dies, andere mußten feststellen, daß diese neue Welt sich gründlich von der des Juli 1914 unterschied. Das Kaiserreich war am Ende, Deutschland wirtschaftlich abgeschnürt. Arbeit zu finden war schwer, gut bezahlte nahezu unmöglich. Invaliden sammelten sich wie Müll an der Straßenecke, gedemütigt, weil sie nun bei denen betteln mußten, die die Kriegsjahre zuhause für den beruflichen Aufstieg genutzt hatten.
Wer blieb und in der vorläufigen Reichswehr vorankommen wollte, der mußte die neuen Möglichkeiten zu nehmen wissen. Die Generale Seeckt, Reinhardt und Groener waren dieser Typ Mann. Mit Leib und Seele Soldat, war ihnen das Schicksal der Republik egal. Sie respektierten sie, weil sie im Moment des Chaos immer noch mehr Ordnung als das sterbende Kaiserreich zu schaffen vermochte. Daher besaß sie ihre Loyalität, aber nicht ihre Liebe. Doch ein Reichswehrminister konnte sich im Moment nicht mehr erhoffen und baute auf diese pragmatischen Männer, belohnte sie mit Dienstgraden und einflußreichen Verwendungen. Im Gegenzug achteten sie auf die Homogenität der neuen Armee. Generalstabsoffiziere, auch wenn sie niemals die Front gesehen hatten, erhielten das Vorrecht, in ihr zu dienen.
Andere im deutschen Offizierkorps verbitterten jedoch. Für sie war durch den Abgang des Kaisers alles zu einer Lüge geworden. Sie schämten sich beim Appell vor der neuen Fahne, verachteten die Erfüllungspolitik ihrer Regierung. Den Krieg zu verlieren war eine Schande, die Heimat noch dazu ein Unglück. Sie waren Offiziere geblieben, weil ein anderes Leben für sie schlicht nicht vorstellbar war, doch in ihnen sammelte sich kalter Zorn. Viele von ihnen versuchten ihr Glück in den Freikorps. Die hastig aufgestellten Freiwilligenverbände verströmten den Geruch von Abenteuer und Gefahr. Sie boten das, wonach sich mancher sehnte: Jagdkampf ohne starre Konventionen.
Die Stimmung zu Beginn des Jahres 1920 war gereizt. Der Ausbruch eines Bürgerkrieges konnte in den Monaten zuvor mühsam verhindert werden, doch jeder Tag im geistigen Klima der Republik war von seinem Fieber geprägt. Zwar befand sich die Regierung in einer Phase der Konsolidierung, aber sie war geschwächt. Seit der Novemberrevolution war sie nicht durch Wahlen bestätigt und daher zum anhaltenden Provisorium geworden. Ohne Akklamation durch das Volk haftete ihr immer noch der Geruch von Usurpation an. Verschärfend kam hinzu, daß dieser Tage die Bestimmungen des Versailler Vertrages in Kraft treten sollten. Dies beinhaltete auch die drastische Reduzierung der Truppen auf 100 000 Mann. Zugleich kehrten seit Ende des Jahres 1919 die letzten Reste der Baltikumkämpfer in die Republik zurück. Im Osten hatten diese Freikorps eine Odyssee erlebt, geprägt von blutigen Partisanenkämpfen und Meuterei gegen die Regierung. Der oft diagnostizierte Zivilisationsbruch – im Baltikum hatte er tatsächlich stattgefunden. Die Baltikumkämpfer hörten nur auf jene Führer, die in diesem Schlachthaus ihr Vertrauen gewonnen hatten. Ihre Auflösung im Zuge der Versailler Bestimmungen erschien illusorisch.
Für die Unzufriedenen im Offizierkorps war die drohende Wehrunfähigkeit des Deutschen Reiches eine rote Linie. Hier verschränkten sich internationale Demütigung und Angst vor Schutzlosigkeit ineinander. Ihr Wortführer wurde der General Walther von Lüttwitz. Er war ein Empörter, was seinen politischen Scharfblick beeinträchtigte. So deutete er das Geraune in Offizierskasinos, das aus Zuspruch für einen Putsch bestand, als verbindliche Zusagen und nicht als abwartende Interessenbekundungen. Wie Brutus übersah er, daß zwischen innerer Opposition und offenem Aufbegehren ein weites Feld liegt. In der Wahl seiner Mitverschwörer besaß er ebenfalls kein Gespür. Er entschied sich für Wolfang Kapp als seinen politischen Arm. Der Generallandschaftsdirektor aus Königsberg war jedoch nur ein mittelmäßiger Netzwerker und besaß keine visionäre Überzeugungskraft. Der von Kapp mitgegründeten »Nationalen Vereinigung« gehörten zwar mit Erich Ludendorff und Waldemar Pabst bekannte Gegner der Republik an, doch besaß die Organisation wenig Einfluß. Selbst bei natürlichen Verbündeten wie der nationalkonservativen DNVP stieß ihr Putschvorhaben auf ablehnende Skepsis.
Lüttwitz ließ sich davon jedoch nicht beirren und überschritt seinen Rubikon am ersten Märztag 1920. Dort hielt er eine Rede vor der Marinebrigade Ehrhardt, in der er klarstellte, daß unter seinem Kommando keine Truppenteile aufgelöst werden würden. In den folgenden Tagen versuchte Lüttwitz noch bei Reichspräsident Ebert eine Aufhebung des Auflösungsbefehls zu erwirken. Als dies abgelehnt und General Lüttwitz durch Ebert aufgrund von Befehlsverweigerung zur Disposition gestellt worden war, setzte dieser in der Nacht auf den 13. März die Marinebrigade Ehrhardt nach Berlin in Marsch. Der Kapp-Putsch – der eigentlich Lüttwitz-Putsch heißen müßte – hatte begonnen.
Das übereilte und schlecht abgestimmte Vorgehen offenbarte sich jedoch schon in den ersten Stunden des Umsturzversuchs. Die Brigade Ehrhardt konnte die Regierung unter Reichskanzler Bauer nicht in Berlin festsetzen: diese blieb nach ihrer Flucht von Stuttgart aus weiter handlungsfähig. Kapps Ausrufung zum Reichskanzler blieb weitestgehend ungehört, und ein Großteil der Wehrkreisbefehlshaber wartete in Ruhe ab, welche Seite die Oberhand gewinnen würde. Endgültig gescheitert war der Putsch am 15. März, als sich deutschlandweit der größte Generalstreik in der deutschen Geschichte (und der erste, dem sich die Ministerialbürokratie vollständig anschloß) vollzog. Die Putschisten waren nun vollständig isoliert, besaßen keine finanziellen Mittel und konnten aufgrund der bestreikten Bahnstrecken keine weiteren Freikorps in Bewegung setzen. Zwei Tage später floh Kapp nach Schweden, und Lüttwitz brach im Zuge eines Amnestieversprechens den Putsch ab.
Anders als während der Operation Walküre gab es 1920 keine innere Dramatik der Ereignisse. Zu keinem Zeitpunkt war der Verlauf der Geschichte offen, keine Zufälle oder Schicksalsfügungen erhoben Anspruch auf den Erfolg des Unternehmens. Da Geschichte jedoch niemals sinnlos ist, offenbart gerade die Deutlichkeit, mit der Lüttwitz und Kapp scheiterten, die realpolitischen Zustände der frühen Weimarer Republik und dient dadurch als Beweisführung für die Richtigkeit metapolitischer Kernsätze.
1. Nicht einmal im Kapp-Putsch wurde an die Rückkehr des Kaisers gedacht.
Der Umsturzversuch resultierte aus entschiedener Ablehnung der republikanischen Erfüllungspolitik, verband das aber nicht mit einem ausdrücklichen Wunsch nach monarchistischer Restauration. Die Wiederherstellung der Monarchie wurde nie durch die Putschisten in Aussicht gestellt und wäre, wenn überhaupt, in einer sehr eingeschränkten Weise erfolgt. Dies zeigt, wie brüskiert auch weite Teile der Rechten über den als »Fahnenflucht« wahrgenommenen Exilgang des Kaisers waren. Dieser hatte das Haus Hohenzollern nachhaltig desavouiert und schloß eine Rückkehr jenseits symbolischer Repräsentation vollständig aus. 1918 war in mancher Hinsicht ein Bruch, der sich nicht mehr kitten ließ.
2. Die entscheidende Bedrohung der jungen Republik kam von links.
Der Kapp-Putsch war ein verzweifeltes Aufbäumen alter Eliten, die den eigenen Machtverlust zu verhindern suchten. Viel aufschlußreicher hingegen sind die Ereignisse, welche sich ab dem 15. März 1920 abspielten. Der Generalstreik verhinderte auf vergleichsweise gewaltfreie Weise Lüttwitzs Absichten, zugleich diente er jedoch als Mobilmachung sämtlicher Rotfrontkräfte im gesamten Reich. Die linken Republikfeinde waren in der Weimarer Frühzeit deutlich zahlreicher, besser vernetzt und vor allem gewillt, ihre politischen Vorstellungen umzusetzen. Alleine die Rote Ruhrarmee stellte dazu über 100 000 Mann auf. Der Kampf um die Kontrolle von Ruhrgebiet, Sachsen und Thüringen bestimmte das Jahr 1920. Ironischerweise war die Reichsregierung darauf angewiesen, die Aufstände mit Hilfe von Freikorps und der soeben noch putschenden Brigade Ehrhardt zu bekämpfen. Der Kapp-Putsch, der Marsch auf die Feldherrenhalle und Fememorde, all das waren aussichtslose Unterfangen, welche die Republik in ihren frühen Jahren nie substantiell gefährden konnten.
3. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Eine der rätselhaftesten Rollen spielte der Chef der Heeresleitung Seeckt. Die erste Reaktion dieser Sphinx in Uniform war es, sich krank zu melden. So stand er nicht offiziell in der Verantwortung, den Aufstand anderer Offiziere niederzuschlagen. Er ließ ihn einfach ins Leere laufen. Sein berühmter Ausspruch »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr« wurde zwar immer wieder als Unterstützung der Putschisten durch Unterlassung mißverstanden. Seeckt war sich jedoch im klaren darüber, daß ein Putsch die Verkörperung der Frage nach dem Ausnahmezustand darstellt. Sein Spiel bestand in der Beschwörung der Eskalation und dem anschließenden Versuch, als einzig legitime Ordnungsmacht im gestifteten Chaos zu reüssieren. Genau diesen Ausnahmezustand aber verweigerte Seeckt den Aufständischen. Indem er nicht auf die Herausforderung Lüttwitz’ reagierte, sprach er ihm die Feindschaft ab. Er marginalisierte den Putschversuch, indem er ihm keine Gewalt entgegensetzte (die wiederum sicherlich weitere Freikorps und Wehrkreisbefehlshaber auf Lüttwitz’ Seite getrieben hätte). Seeckt aber demonstrierte in diesen Tagen durch Unterlassung die wahre Souveränität. Das war kein unentschlossenes Abwarten, sondern kalte Berechnung.
4. Der Machtrevolution muß die Kulturrevolution vorausgehen.
Im bürgerlichen Industriestaat läßt sich die Souveränität nicht durch bloße Gewalt ergreifen. Das lineare Vorgehen von Lüttwitz – Marsch auf Berlin, Festsetzen der Regierung – hätte vielleicht 1848 zum Erfolg geführt, 1920 aber war die Zeit eine andere. Der Kapp-Putsch stellte die Bürger vor vollendete Tatsachen und erwartet deren Fügung in das Unvermeidliche. Der Generalstreik, dezentraler ziviler Widerstand und Lahmlegung der Infrastruktur überraschten Lüttwitz vollkommen. Die kulturelle Hegemonie lag während der Märziden 1920 längst nicht mehr bei den vorrepublikanischen Rechten. Im Vorfeld des Umsturzversuchs war keine Kulturrevolution erfolgt, keine Besetzung von Begriffen, keine Propagierung zukünftiger Staatsgestaltung. Im modernen Industriestaat stellt dies jedoch das wichtigste Fundament einer Revolution dar. Der Kapp-Putsch kam aus dem Nichts und verschwand dort wieder schnell. Die Rechte wurde der Weimarer Republik erst substantiell gefährlich, also sie es vermochte, mit dem Nationalsozialismus ein alternatives Gesellschaftsmodell zu präsentieren.