Offene Tore, brennende Grenze: Zur erneuten Belagerung Griechenlands

von Andreas Karsten -- PDF der Druckfassung aus Sezession 95/ April 2020

Um die Mas­sen­mi­gra­ti­on nach Euro­pa war es, jeden­falls medi­al gese­hen, ein wenig (zu) still gewor­den. Denn auch in die­ser ver­meint­li­chen Ruhe­pha­se sicker­ten Monat für Monat tau­sen­de ille­ga­le Migran­ten nach Deutsch­land und in ande­re euro­päi­sche Län­der ein. Die Bil­der von Men­schen­mas­sen aber, die Grenz­zäu­ne erstür­men, ver­tei­digt nur durch eine Hand­voll ver­zwei­fel­ter Grenz­po­li­zis­ten und Sol­da­ten, waren bereits verblaßt.

Als am 28. Febru­ar die­ses Jah­res der tür­ki­sche Prä­si­dent Recep Tayyip Erdoğan erklär­te, sei­ne Gren­ze zur Euro­päi­schen Uni­on zu öff­nen und Migran­ten (Flücht­lin­ge sind nur ein klei­ner Teil von ihnen) von nun an unge­hin­dert pas­sie­ren zu las­sen, wur­den die alten Bil­der schlag­ar­tig wie­der aktu­ell. Zehn­tau­sen­de Migran­ten setz­ten sich in Marsch auf die grie­chi­sche Gren­ze, wenn sie nicht ohne­hin bereits im Grenz­ge­biet ausharrten.

Die wohl­fei­le Empö­rung über Erdoğans Ent­schei­dung war groß, stell­te sie immer­hin einen Bruch des – nicht wei­ter­ver­han­del­ten – Migra­ti­ons­pak­tes dar. Indes greift die ein­di­men­sio­na­le Abwäl­zung der Schuld auf den tür­ki­schen Prä­si­den­ten zu kurz.

Die EU hat­te im Jahr 2016 gehofft, sich einer­seits durch die Exter­na­li­sie­rung von Auf­ga­ben des Grenz­schut­zes und ande­rer­seits durch mone­tä­re Zuwen­dun­gen an die Tür­kei buch­stäb­lich frei­kau­fen zu kön­nen. So woll­te man die Migra­ti­ons­kri­se, die immer wie­der auf die tie­fer lie­gen­de Exis­tenz­kri­se des euro­päi­schen Grenz- und Migra­ti­ons­re­gimes bli­cken ließ, nach der Quick-and-dir­ty-Metho­de aus der Welt schaf­fen. Dabei wur­den ent­schei­den­de Punk­te ver­ges­sen: Die Schlag­wor­te »Flücht­lings­deal« und »Flücht­lings­pakt« mas­kie­ren die Tat­sa­che, daß es sich bei dem Abkom­men zwi­schen der EU und der Tür­kei nicht um einen recht­lich bin­den­den Ver­trag, son­dern ledig­lich um eine Absichts­er­klä­rung han­delt. Ers­te­rer hät­te frei­lich par­la­men­ta­ri­scher Zustim­mung bedurft.

Für die­ses poli­tisch wie juris­tisch höchst frag­wür­di­ge Kon­strukt, wel­ches der Tür­kei künf­tig die Rol­le als Tor­wäch­ter Euro­pas antrug, bezahl­te die EU einen hohen Preis. Man ver­pflich­te­te sich nicht nur zu einer Zah­lung von sechs Mil­li­ar­den Euro, ver­teilt auf die Jah­re 2016 und 2017, son­dern zur Auf­nah­me Zehn­tau­sen­der syri­scher Migran­ten. Fol­gen­rei­cher als die Aus­schüt­tung von Unsum­men an Steu­er­gel­dern ist die Auf­wer­tung der tür­ki­schen Ver­hand­lungs­po­si­ti­on und der Kon­troll­ver­lust, der mit der Exter­na­li­sie­rung des Grenz­schut­zes ein­her­geht. Man kann Erdoğans machia­vel­lis­ti­sche Macht­de­mons­tra­ti­on, mit der er sich auf einen Schlag eige­ner innen­po­li­ti­scher Pro­ble­me ent­le­dig­te, mora­lisch ver­ur­tei­len, das prak­ti­sche Instru­men­ta­ri­um hier­für gab ihm jedoch die EU höchst­selbst an die Hand.

Nun ist guter Rat teu­er: Statt kon­kre­ter Hand­lungs­stra­te­gien im Rah­men einer EU-wei­ten Ein­däm­mung der ille­ga­len Migra­ti­on wer­den von Sei­ten poli­ti­scher Amts­trä­ger wider­sprüch­li­che Absichts­er­klä­run­gen laut. Die pri­mär Leid­tra­gen­den sind die Grie­chen, dann aber auch die Migran­ten selbst, deren Uto­pie vom schö­nen Leben durch Erdoğans Appa­rat erst geför­dert und durch die – in Tei­len noch immer vor­han­de­ne – Bereit­schaft zur Ver­tei­di­gung der Gren­zen Euro­pas wie­der blo­ckiert wird. Ent­spre­chend groß ist ihre Frus­tra­ti­on und Wut. Der ange­stau­te Haß und die dar­aus ent­ste­hen­de Gewalt ent­la­den sich nun an den hel­le­ni­schen Grenz­zäu­nen und ihren gesetz­lich bestell­ten Verteidigern.

Till-Lucas Wes­sels ver­glich in einem Arti­kel, der kürz­lich auf Sezes­si­on im Netz erschien, den Ansturm auf die grie­chi­sche Gren­ze mit der Ent­schei­dungs­schlacht der Spar­ta­ner gegen das Heer des per­si­schen Herr­schers Xer­xes I. bei den Ther­mo­py­len im Jahr 480 v. Chr., in der sich eine klei­ne Alli­anz grie­chi­scher Kämp­fer der fern­öst­li­chen Erobe­rungs­macht hel­den­haft ent­ge­gen­warf und letzt­lich doch schei­tern muß­te. Die Bil­der von behelm­ten grie­chi­schen Poli­zis­ten, die sich mit ihren Schil­den aus Ple­xi­glas Wel­len von aggres­si­ven Nicht­eu­ro­pä­ern ent­ge­gen­stem­men, machen die­sen zwar weit her­ge­hol­ten, aber für einen Iden­ti­tä­ren natür­lich nahe­lie­gen­den Ver­gleich leben­dig. Er hinkt gleich­wohl aus­ge­rech­net an ent­schei­den­den Punk­ten. Die die­ser Tage anrü­cken­den Men­schen­mas­sen sind, obwohl sie zu gro­ßen Tei­len aus Män­nern im wehr­fä­hi­gen Alter bestehen, kei­ne orga­ni­sier­te Streit­macht unter der Füh­rung eines Feld­herrn, der ein klar umris­se­nes mili­tä­ri­sches Ziel ver­folgt. Das einen­de Ele­ment die­ser durch­aus hete­ro­ge­nen Bela­ge­rer ist ein­zig und allein ihre Migra­ti­ons­bio­gra­phie und ein vor­über­ge­hen­des, gemein­sa­mes Ziel: die Über­win­dung des Grenzzauns.

Der ame­ri­ka­ni­sche Sozi­al­phi­lo­soph Eric Hof­fer beschäf­tig­te sich in sei­nem 1951 erschie­ne­nen Werk The True Belie­ver ein­ge­hend mit poli­ti­schen Mas­sen­or­ga­ni­sa­tio­nen. Er stell­te fest, daß Migra­ti­ons­strö­me die­sen nicht unähn­lich sei­en. Migran­ten bil­den eine Mas­sen­be­we­gung, deren Ziel das »gelob­te Land«, im heu­ti­gen Fall: Mit­tel­eu­ro­pa, ist. Die Ver­hei­ßung des sor­gen­ar­men, wohl­stands­er­füll­ten Lebens und die Aus­sicht, per­sön­li­che Pro­ble­me in kür­zes­ter Zeit auf­lö­sen zu kön­nen, spornt die Men­schen nicht nur dazu an, die Stra­pa­zen einer unge­wis­sen, gefähr­li­chen Rei­se auf sich zu neh­men, son­dern ani­miert sie auch zu roher Gewalt gegen alle, die ihnen den Zugang zum Uto­pia, das ver­meint­lich am Hori­zont zu erken­nen ist, zu ver­weh­ren suchen.

Durch das Spiel mit ihren Hoff­nun­gen und Ängs­ten kön­nen die Migran­ten durch Poli­ti­ker wie Erdoğan als geziel­te Waf­fe und Druck­mit­tel im Spiel der euro­päi­schen und künf­tig mög­li­cher­wei­se auch nord­afri­ka­ni­schen und vor­der­asia­ti­schen Mäch­te ein­ge­setzt wer­den. Die EU hat dem wenig bis nichts ent­ge­gen­zu­set­zen. Der Ein­satz ein­zel­ner Grenz­schüt­zer wird ers­tens unter­lau­fen durch das Feh­len ernst­haf­ter poli­ti­scher Stra­te­gien im Umgang mit der weit­rei­chen­den Migra­ti­ons­pro­ble­ma­tik und zwei­tens durch die ver­ba­le Janus­ge­sich­tig­keit euro­päi­scher und ganz spe­zi­ell bun­des­deut­scher Poli­ti­ker. Ursu­la von der Ley­en lob­te Grie­chen­land jüngst als »Schutz­schild der EU« und stell­te die Ent­sen­dung einer »schnel­len Ein­greif­trup­pe« der EU-Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex in Aus­sicht. Die­se Rapid Bor­der Inter­ven­ti­on Teams (RABIT) sind aller­dings auf die Bereit­stel­lung von Per­so­nal aus den EU-Mit­glieds­staa­ten ange­wie­sen, da Fron­tex für die­se Auf­ga­ben kein eige­nes Per­so­nal zur Ver­fü­gung steht. Hin­zu kommt, daß sich der Hand­lungs­rah­men von Fron­tex in der Regel auf Über­wa­chung und Unter­stüt­zung bei der ope­ra­ti­ven Pla­nung beschränkt, da die hoheit­li­chen Auf­ga­ben der Grenz­si­che­rung noch immer bei den Mit­glieds­staa­ten lie­gen. Wie schnell eine sol­che Ein­heit tat­säch­lich akti­viert wer­den kann und wel­chen Effekt sie auf die Kri­sen­si­tua­ti­on haben kann, bleibt also abzu­war­ten; auch hier muß man bis zur Erbrin­gung eines Gegen­be­wei­ses von einer medi­al wirk­sa­men Absichts­er­klä­rung ausgehen.

Die Grü­nen machen der­weil Wer­bung für eine »Alli­anz der Wil­li­gen« in der EU und suchen Ver­bün­de­te, die bereit sind, Migran­ten auf­zu­neh­men. Unter­stützt und glei­cher­ma­ßen getrie­ben wer­den sie dabei durch mäch­ti­ge Lob­by­or­ga­ni­sa­tio­nen wie das Bünd­nis »See­brü­cke«, das vie­ler­orts mit der Paro­le »Wir haben Platz« für sich und sein Modell offe­ner Gren­zen und unbe­schränk­ter Migra­ti­on Wer­bung macht. Das Mot­to scheint aus­ge­spro­chen huma­nis­tisch, doch dahin­ter ver­birgt sich ein klas­si­scher Fall moral­po­li­tisch links­li­be­ra­ler Gesin­nungs­ethik: Man will qua Bekennt­nis­lust zu den »Guten« gehö­ren. Die real­po­li­ti­schen, demo­gra­phi­schen und sozia­len Fol­gen einer Auf­nah­me »aller« sind dabei über­haupt nicht abseh­bar und sind bei ihren Befür­wor­tern zum jet­zi­gen Zeit­punkt auch nicht aus­schlag­ge­bend. Nie­mand könn­te es den Grie­chen übel­neh­men, wenn sie ihre Bemü­hun­gen, die Gren­ze Euro­pas zu hal­ten, ange­sichts der dau­er­haf­ten Abwe­sen­heit ehr­li­cher ein­wan­de­rungs­po­li­ti­scher Rücken­de­ckung wei­test­ge­hend ein­stel­len wür­den und die Mas­sen gen Mit­tel­eu­ro­pa zie­hen las­sen. Die­se ver­track­te Lage wit­ternd, rich­te­te sich Erdoğan als Advo­ca­tus Dia­bo­li mit dem zyni­schen Vor­schlag an die Grie­chen, die Migran­ten ein­fach pas­sie­ren zu lassen.

Die Situa­ti­on an der grie­chisch-tür­ki­schen Gren­ze bil­det eine neue Eska­la­ti­on der inter­na­tio­na­len Migra­ti­ons­kri­se. Es han­delt sich hier­bei jedoch nicht um eine Wes­sel­sche Ent­schei­dungs­schlacht, die, im Fal­le eines erfolg­rei­chen Schut­zes der Gren­ze, Sym­pto­me und Pra­xis­fol­gen der Ein­wan­de­rungs­pro­ble­ma­tik für Euro­pa lösen wird. Es bleibt eben dies: ein Sym­ptom, mit­hin eine dunk­le Vor­ah­nung der Ereig­nis­se, die den Grenz­staa­ten des Schen­gen­raums in den nächs­ten Mona­ten und Jah­ren noch bevor­ste­hen. Erdoğan zün­delt, die EU-Nomen­kla­tu­ra fürch­tet den Rechts­ruck und ist in die­ser einen Fra­ge vor­erst stand­haft, wäh­rend wir alle zunächst Beob­ach­ter am Spiel­feld­rand blei­ben. Stär­ken Fron­tex und Co. die Gren­zen, bleibt der Damm­bruch zwar zunächst aus – das alles hat aber nichts mit Leo­ni­das’ 300 Spar­ta­nern oder gar einer Revi­si­on-im-Wer­den des »Gro­ßen Aus­tauschs« zu tun. So viel rea­lis­ti­sche Lage­ana­ly­se soll­te auch in emo­tio­na­li­sier­ten Zei­ten gebo­ten sein. 

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