Um die Massenmigration nach Europa war es, jedenfalls medial gesehen, ein wenig (zu) still geworden. Denn auch in dieser vermeintlichen Ruhephase sickerten Monat für Monat tausende illegale Migranten nach Deutschland und in andere europäische Länder ein. Die Bilder von Menschenmassen aber, die Grenzzäune erstürmen, verteidigt nur durch eine Handvoll verzweifelter Grenzpolizisten und Soldaten, waren bereits verblaßt.
Als am 28. Februar dieses Jahres der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte, seine Grenze zur Europäischen Union zu öffnen und Migranten (Flüchtlinge sind nur ein kleiner Teil von ihnen) von nun an ungehindert passieren zu lassen, wurden die alten Bilder schlagartig wieder aktuell. Zehntausende Migranten setzten sich in Marsch auf die griechische Grenze, wenn sie nicht ohnehin bereits im Grenzgebiet ausharrten.
Die wohlfeile Empörung über Erdoğans Entscheidung war groß, stellte sie immerhin einen Bruch des – nicht weiterverhandelten – Migrationspaktes dar. Indes greift die eindimensionale Abwälzung der Schuld auf den türkischen Präsidenten zu kurz.
Die EU hatte im Jahr 2016 gehofft, sich einerseits durch die Externalisierung von Aufgaben des Grenzschutzes und andererseits durch monetäre Zuwendungen an die Türkei buchstäblich freikaufen zu können. So wollte man die Migrationskrise, die immer wieder auf die tiefer liegende Existenzkrise des europäischen Grenz- und Migrationsregimes blicken ließ, nach der Quick-and-dirty-Methode aus der Welt schaffen. Dabei wurden entscheidende Punkte vergessen: Die Schlagworte »Flüchtlingsdeal« und »Flüchtlingspakt« maskieren die Tatsache, daß es sich bei dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei nicht um einen rechtlich bindenden Vertrag, sondern lediglich um eine Absichtserklärung handelt. Ersterer hätte freilich parlamentarischer Zustimmung bedurft.
Für dieses politisch wie juristisch höchst fragwürdige Konstrukt, welches der Türkei künftig die Rolle als Torwächter Europas antrug, bezahlte die EU einen hohen Preis. Man verpflichtete sich nicht nur zu einer Zahlung von sechs Milliarden Euro, verteilt auf die Jahre 2016 und 2017, sondern zur Aufnahme Zehntausender syrischer Migranten. Folgenreicher als die Ausschüttung von Unsummen an Steuergeldern ist die Aufwertung der türkischen Verhandlungsposition und der Kontrollverlust, der mit der Externalisierung des Grenzschutzes einhergeht. Man kann Erdoğans machiavellistische Machtdemonstration, mit der er sich auf einen Schlag eigener innenpolitischer Probleme entledigte, moralisch verurteilen, das praktische Instrumentarium hierfür gab ihm jedoch die EU höchstselbst an die Hand.
Nun ist guter Rat teuer: Statt konkreter Handlungsstrategien im Rahmen einer EU-weiten Eindämmung der illegalen Migration werden von Seiten politischer Amtsträger widersprüchliche Absichtserklärungen laut. Die primär Leidtragenden sind die Griechen, dann aber auch die Migranten selbst, deren Utopie vom schönen Leben durch Erdoğans Apparat erst gefördert und durch die – in Teilen noch immer vorhandene – Bereitschaft zur Verteidigung der Grenzen Europas wieder blockiert wird. Entsprechend groß ist ihre Frustration und Wut. Der angestaute Haß und die daraus entstehende Gewalt entladen sich nun an den hellenischen Grenzzäunen und ihren gesetzlich bestellten Verteidigern.
Till-Lucas Wessels verglich in einem Artikel, der kürzlich auf Sezession im Netz erschien, den Ansturm auf die griechische Grenze mit der Entscheidungsschlacht der Spartaner gegen das Heer des persischen Herrschers Xerxes I. bei den Thermopylen im Jahr 480 v. Chr., in der sich eine kleine Allianz griechischer Kämpfer der fernöstlichen Eroberungsmacht heldenhaft entgegenwarf und letztlich doch scheitern mußte. Die Bilder von behelmten griechischen Polizisten, die sich mit ihren Schilden aus Plexiglas Wellen von aggressiven Nichteuropäern entgegenstemmen, machen diesen zwar weit hergeholten, aber für einen Identitären natürlich naheliegenden Vergleich lebendig. Er hinkt gleichwohl ausgerechnet an entscheidenden Punkten. Die dieser Tage anrückenden Menschenmassen sind, obwohl sie zu großen Teilen aus Männern im wehrfähigen Alter bestehen, keine organisierte Streitmacht unter der Führung eines Feldherrn, der ein klar umrissenes militärisches Ziel verfolgt. Das einende Element dieser durchaus heterogenen Belagerer ist einzig und allein ihre Migrationsbiographie und ein vorübergehendes, gemeinsames Ziel: die Überwindung des Grenzzauns.
Der amerikanische Sozialphilosoph Eric Hoffer beschäftigte sich in seinem 1951 erschienenen Werk The True Believer eingehend mit politischen Massenorganisationen. Er stellte fest, daß Migrationsströme diesen nicht unähnlich seien. Migranten bilden eine Massenbewegung, deren Ziel das »gelobte Land«, im heutigen Fall: Mitteleuropa, ist. Die Verheißung des sorgenarmen, wohlstandserfüllten Lebens und die Aussicht, persönliche Probleme in kürzester Zeit auflösen zu können, spornt die Menschen nicht nur dazu an, die Strapazen einer ungewissen, gefährlichen Reise auf sich zu nehmen, sondern animiert sie auch zu roher Gewalt gegen alle, die ihnen den Zugang zum Utopia, das vermeintlich am Horizont zu erkennen ist, zu verwehren suchen.
Durch das Spiel mit ihren Hoffnungen und Ängsten können die Migranten durch Politiker wie Erdoğan als gezielte Waffe und Druckmittel im Spiel der europäischen und künftig möglicherweise auch nordafrikanischen und vorderasiatischen Mächte eingesetzt werden. Die EU hat dem wenig bis nichts entgegenzusetzen. Der Einsatz einzelner Grenzschützer wird erstens unterlaufen durch das Fehlen ernsthafter politischer Strategien im Umgang mit der weitreichenden Migrationsproblematik und zweitens durch die verbale Janusgesichtigkeit europäischer und ganz speziell bundesdeutscher Politiker. Ursula von der Leyen lobte Griechenland jüngst als »Schutzschild der EU« und stellte die Entsendung einer »schnellen Eingreiftruppe« der EU-Grenzschutzagentur Frontex in Aussicht. Diese Rapid Border Intervention Teams (RABIT) sind allerdings auf die Bereitstellung von Personal aus den EU-Mitgliedsstaaten angewiesen, da Frontex für diese Aufgaben kein eigenes Personal zur Verfügung steht. Hinzu kommt, daß sich der Handlungsrahmen von Frontex in der Regel auf Überwachung und Unterstützung bei der operativen Planung beschränkt, da die hoheitlichen Aufgaben der Grenzsicherung noch immer bei den Mitgliedsstaaten liegen. Wie schnell eine solche Einheit tatsächlich aktiviert werden kann und welchen Effekt sie auf die Krisensituation haben kann, bleibt also abzuwarten; auch hier muß man bis zur Erbringung eines Gegenbeweises von einer medial wirksamen Absichtserklärung ausgehen.
Die Grünen machen derweil Werbung für eine »Allianz der Willigen« in der EU und suchen Verbündete, die bereit sind, Migranten aufzunehmen. Unterstützt und gleichermaßen getrieben werden sie dabei durch mächtige Lobbyorganisationen wie das Bündnis »Seebrücke«, das vielerorts mit der Parole »Wir haben Platz« für sich und sein Modell offener Grenzen und unbeschränkter Migration Werbung macht. Das Motto scheint ausgesprochen humanistisch, doch dahinter verbirgt sich ein klassischer Fall moralpolitisch linksliberaler Gesinnungsethik: Man will qua Bekenntnislust zu den »Guten« gehören. Die realpolitischen, demographischen und sozialen Folgen einer Aufnahme »aller« sind dabei überhaupt nicht absehbar und sind bei ihren Befürwortern zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht ausschlaggebend. Niemand könnte es den Griechen übelnehmen, wenn sie ihre Bemühungen, die Grenze Europas zu halten, angesichts der dauerhaften Abwesenheit ehrlicher einwanderungspolitischer Rückendeckung weitestgehend einstellen würden und die Massen gen Mitteleuropa ziehen lassen. Diese vertrackte Lage witternd, richtete sich Erdoğan als Advocatus Diaboli mit dem zynischen Vorschlag an die Griechen, die Migranten einfach passieren zu lassen.
Die Situation an der griechisch-türkischen Grenze bildet eine neue Eskalation der internationalen Migrationskrise. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine Wesselsche Entscheidungsschlacht, die, im Falle eines erfolgreichen Schutzes der Grenze, Symptome und Praxisfolgen der Einwanderungsproblematik für Europa lösen wird. Es bleibt eben dies: ein Symptom, mithin eine dunkle Vorahnung der Ereignisse, die den Grenzstaaten des Schengenraums in den nächsten Monaten und Jahren noch bevorstehen. Erdoğan zündelt, die EU-Nomenklatura fürchtet den Rechtsruck und ist in dieser einen Frage vorerst standhaft, während wir alle zunächst Beobachter am Spielfeldrand bleiben. Stärken Frontex und Co. die Grenzen, bleibt der Dammbruch zwar zunächst aus – das alles hat aber nichts mit Leonidas’ 300 Spartanern oder gar einer Revision-im-Werden des »Großen Austauschs« zu tun. So viel realistische Lageanalyse sollte auch in emotionalisierten Zeiten geboten sein.