Schnellroda, 21. Februar 2020
Lieber Ivor,
als ich neulich in Berlin war und zwei Stunden herumbringen mußte, erwog ich einen Museumsbesuch. Aber: Ich mag Museen nicht, denn sie schneiden das, was sie zeigen, vom Leben, also: vom Fortgang des Lebens ab. Das Museale ist immer ein Beleg dafür, daß etwas im Weg herumstand. Ich setzte mich also in ein Café und las ein wenig in Rüdiger Safranskis gerade erschienener Hölderlin-Biographie, aber nicht lange: Im Grunde ist diese Biographie nämlich auch museal – ein Fertigwerden, Ausstellen und Ablegen. Man wird jetzt, im Jubiläumsjahr, auch mit Hölderlin und seiner Dichtung fertig, betrachtet das alles als abgeschlossenes Ding, als Gegenstand, und wenn man ein Stündchen durch die Verse spaziert ist, geht man wieder zum Ausgang, sagt »Auf Wiedersehen« (»Lebewohl« wäre zu unhöflich), läßt den Dichter und seinen Anspruch zurück, weiß aber jetzt ein bißchen mehr über ihn und ist deshalb mit sich selbst nicht unzufrieden.
Ich hatte aber, als ich über diesen abgelegten Hölderlin nachdachte, Deinen Satz im Ohr, den Du äußertest, als ich Dir vor Jahren von meiner Idee erzählte, eine belletristische Reihe bei Antaios aufzusatteln. »Nordost« könnte man diese Reihe nennen, hast Du damals gesagt, denn »Der Nordost wehet, / Der liebste unter den Winden / Mir, weil er feurigen Geist / Und gute Fahrt verheißet den Schiffern« – die ersten Verse aus »Andenken«, und man müsse immer mitdenken, daß Hölderlins Leben in eine Katastrophe gemündet sei, daß es einen katastrophalen Verlauf genommen habe. Aus bildungsbürgerlicher Sicht ist das mit Hölderlins Wahnsinn und seinen Turmjahren entweder das, was man nicht so genau wissen will oder was man unterschlägt oder eben musealisiert: der nette Turm, der nette Schreinermeister Zimmer, der nette Blick auf den Neckar, der nette Besuch von Gustav Schwab und Ludwig Uhland – das ganze auf Schwäbisch, dann klingt das fast schon nach Großonkel auf dem Sofa, den ein Hirnschlägle erwischt hat.
Also: Du weißt, was ich meine. Was heißt: Katastrophe? Und: Wie liest man ihn katastrophisch? Oder ist’s schon recht, wenn das jetzt abgelegt wird und Punkt?
Gruß!
Burg Schreckenstein, 22. Februar 2020
Lieber Götz,
Du schneidest hier eine Frage an, die mich schon länger beschäftigt, manchmal geradezu lähmt. Woher rührt die lange Faszination durch den armen Dichter Hölderle, der wir beide uns, glaube ich, noch immer nicht entziehen können? Eigentlich rührt diese Faszination doch schon aus einer musealisierten Überlieferung her: der Dichter auf dem Podest, im Regal des bürgerlichen Haushalts, dahinter die Blümchentapete, davor wir in Adorantenpose, beinahe hätte ich gesagt: in Adornopose – wie es photographisch so schön festgehalten ist bei den Stauffenberg-Brüdern anläßlich ihres Besuchs bei George im Pförtnerhaus in Berlin-Grunewald. Und wir heute als dritter Aufguß, kleine Möchtegern-Stauffenbergs, die ihren George suchen und nicht finden. Im Ernst: Je älter ich werde, je mehr ich erlebt, gesehen und gelesen habe, desto fragwürdiger, manchmal sogar lächerlicher werden mir viele solcher meiner Grundlagen.
Schon der olle Schiller hatte, nach anfangs großer Erwartung, seinem Freund Goethe gegenüber den Hölderle als überspannt, subjectivistisch und einseitig beurteilt, und der Schiller war ein klarer Geist. Zu diesem Überspannten paßt auch, daß Hölderlin vor allem von Überspannten wie Nietzsche und den Leuten um Stefan George »wiederentdeckt« worden ist. Folglich müssen wir uns selbst fragen, ob nicht auch wir überspannt sind mit unserer innigen Zuneigung zu Hölderlin, freilich ohne das Genialische der großen Überspannten, mit dem man deren Überspanntheit immer rechtfertigen kann. Ist der Bogen überspannt, bricht er – wohl dem Bogen, der bei angemessener Spannung weite und genaue Schüsse hervorgebracht hat, bevor er dann doch brach.
Wenn ich Dich richtig verstehe, willst Du aber gerade auf dieses Überspannte, auf das Brechen des Bogens hinaus, und zwar in einem positiven Sinne, denn Du bringst ja das Katastrophische gegen das Abgelegte und Abzulegende ins Spiel, das katastrophische Lesen. Da müßten wir zuerst einmal über die Bewertung nachdenken: Was spricht denn überhaupt für ein »katastrophisches Lesen«? Wir haben beide, das weiß ich wohl, einen Affekt gegen die Verklassikerung von Autoren, die uns beschäftigen, weil wir damit unterstellen, man wollte »unsere« Texte harmlos machen, indem man sie in Leder und Goldschnitt, in Gesamtausgaben und behutsam schwafelnde Kommentare einsargt. An diesem Affekt will ich schon festhalten, der ist gesund. Aber mit Blick auf Hölderle? Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus? Das Werden im Vergehen? Den Tod fürs Vaterland? Den Hyperion? Die Hälfte des Lebens? Den armen Hölderle kennt heute, außer uns beiden und noch ein paar anderen überspannt Ältergewordenen, außer ein paar jungen Überspannten, kein Schweine- und erst recht kein Hammelfresser mehr – frag mal einen Deutsch-Leistungskurs oder die, die in den germanistischen Einführungsvorlesungen hocken. Die Zeiten sind perdu, in denen ein aus Thüringen kommender Linker in Westdeutschland eine zweite sauteuere Hölderlin-Großausgabe anregen und durchziehen konnte, nur um »seinen«, den republikanischen Hölderlin aus der – unter Goebbels begonnenen – Stuttgarter Ausgabe zu befreien und für eine linke Zukunft der BRD zu retten.
Hölderlin ist heute abgelegt, lieber Götz. Ich frage Dich – und mich – daher: Was wollen wir heute mit Hölderlin? Seine Katastrophe war ein Scheitern zu Lebzeiten: kaum Anerkennung als Dichter, keine freie und einige deutsche Republik vor Augen, keine Aussicht, aus dem Turm zu entkommen – und auch kein Weib und keine Kinder zur Hälfte des Lebens, just dann, wenn wir zu erkennen beginnen, daß Weib und Kinder wesentlich sind. Hölderlins Erlösung war der Tod, sein Gelingen ein posthumes im Werk, seine Hoffnung allein, »daß gepfleget werde / Der feste Buchstab, und Bestehendes gut / Gedeutet.«
Willst Du Hölderlin heute so lesen (und lesen lassen), daß wir in der Lektüre den Sturz in den Krater suchen oder gar einüben?
Grüße!
Schnellroda, 25. Februar 2020
Lieber Ivor,
Du weißt genau, daß man öffentlich über den Sturz in den Krater nur am Rande des Kraters sprechen sollte – wie Empedokles eben in Hölderlins Dramenfragment. Steht man nicht am Rande des Kraters, sitzt man im Sessel oder am Schreibtisch und ruft Kraterränder in sich und für die Leser auf. Eine solche Selbsterregung ist natürlich legitim, aber man sollte sie besser für sich behalten. Kennen wir ja beide: so Runden, in denen die Leute im Halbsuff schon bis kurz vor Moskau marschiert waren, obwohl man ihren Wampen ansah, daß sie es zu Fuß nicht einmal quer durchs Saarland schaffen würden (oder gar auf den Spuren Hölders nach Bordeaux). Georg Trakl berichtete in einem Brief, er habe sofort den Raum verlassen, als einer in seinem Beisein Gedichte vortrug, die mehr als peinlich genau seinen eigenen Zeilenstil nachahmten. Er habe sich diese Form nämlich in großem Leid abgerungen, und nun äffte das einer nach, als wäre es bloß der neueste Reim-Kniff …
Also: Es darf uns in unserer Hölderlin-Lektüre (und ebensowenig in unserer Jünger- oder Benn- oder Büchner-Lektüre) nicht um eine Pose gehen, um eine Aura des gefährdeten Hölderlin-Verstehers am Rande des Kraters. Denn, das wissen wir ja in unserem gestandenen Alter: »Beim Phantasieren geschieht alles sofort – sieht man davon ab, daß gar nichts geschieht.«
Ich nehme nun den Ball auf, den Du gespielt hast, indem Du auf die Hölderlin-Ausgabe anspielst, die im Frankfurter Verlag Roter Stern von einem radikal Linken herausgegeben wurde. Ich habe diese Ausgabe immer als Entstaubungsvorgang verstanden, als Versuch, der Verschweinslederung Hölderlins entgegenzuarbeiten, und so siehst Du das ja auch: Die radikale Linke las Hölderlin damals zum einen als einen in den Wahnsinn entwichenen, weil gescheiterten, antibürgerlichen Revolutionär, zum anderen bezog sie Adornos Diktum »Das Ganze ist das Unwahre« auf die fragmentarischen späten Gedichte und anderen Entwürfe. Es könne angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen und der eliminatorischen jüngsten Geschichte kein abgeschlossenes, gültiges Sprechen mehr geben, sondern nur noch ein offenes, unbeholfenes, mit Aussetzern und holprigem Rhythmus, und es ist wiederum sehr modern (oder bereits postmodern), sich selbst und sein Hineinlesen in den Vordergrund zu rücken. Hölderlins Gedichte sind dabei nur noch der Lückentext im Hintergrund.
Fragen, Ivor, Fragen: Wollen wir entstaubend über Hölderlin schreiben und ihn in unsere Richtung bürsten? Wie könnte das aussehen? Es gab ja schon einmal Feldausgaben für die Beintasche, und »Der Tod fürs Vaterland« sollte vor Stalingrad in dem Bewußtsein gelesen werden, daß fürs Vaterland »nicht einer zuviel gefallen« sei. Aus »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« wurde eine Durchhalteparole, und vielleicht bog dieses vom hohen Gesang auf die Erde herabgeholte »Rettende« in Form eines Tiger-Panzers dann tatsächlich um die Ecke …
Die Vernutzung Hölderlins zum Propagandamittel – so etwas käme für uns nicht in Frage, zumal deswegen nicht, weil uns die zynischen Visagen derjenigen zuwider sind, die auf diese Weise an der Dichtung herumwirtschaften, oder? Formierte Gesellschaft, in Form gebrachte Kolonnen – das ist immer eine Entstaubung hin ins Unterkomplexe, in die mobilisierende Parole, in die eindeutige Deutung, die Handlungsanweisung.
Also: Lesen wir verbindlich nur für uns selbst? Und wenn ja: Was geben wir dadurch auf und was bedeutet es: nicht vernutzend hinzuhören?
Gruß!
Burg Schreckenstein, 27. Februar 2020
Lieber Götz,
in Karl Ritters Film Stukas von 1941 zitiert O. E. Hasse als Arzt einer Stukastaffel einige Verse aus dem »Tod fürs Vaterland«, als man dort den politisch korrekten Brief einer Mutter zum Fliegertod ihres Sohnes erhalten hatte – diese Szene fand ich, bei aller Begeisterung für die Flieger, immer abstoßend, als verlogenes Schauspiel und Verwurstung des Gedichts zur Phrase in einem. Man muß Hölderlins Ode gewiß in einen historischen Kontext einordnen, als Versuch einer deutschen Marseillaise etwa, oder man kann daran zeigen, daß auch die Nationalsozialisten Erben der Französischen Revolution sind und ihre Lesart Hölderlin nicht mehr oder weniger verfehlt als die der Internationalsozialisten – doch für unsere Frage danach, was wir in seinen Schriften für uns heute Verbindliches finden können, ist das eher unergiebig. Deine Frage nämlich, ob wir verbindlich immer nur für uns selbst lesen, bejahe ich ohne Zögern – wenn wir im Schopenhauerschen Sinne als Selbstdenker zu lesen versuchen: Es fesselt uns letztlich nur das ans Gelesene, das in uns eine Saite zum Klingen bringt oder eine Frage rumoren läßt, also wenn der Text auf etwas in uns trifft, das schon da, für ihn bereit ist. Du hast ja das gute Wort vom »vernutzenden Lesen« geprägt – und wenn wir Hölderlin »in unsere Richtung bürsten« wollten, wäre genau das eine solche Vernutzung des armen Hölderle. Der programmatische Vorsatz, einen Text ideologisch ausbeuten zu wollen, entspricht dem Verfahren manches Adepten der gerade modischen »Digital Humanities« – man scannt Texte maschinell nach bestimmten Begriffen oder Sequenzen, liest diese damit als Einzelstellen isoliert, nimmt also den Text gleichsam punktuell wahr und verfehlt das, was sich oft erst mäandernd, in einer langsamen, Zeile für Zeile durchmessenden Lektüre als Sinn in uns bilden kann. Freilich suchen wir beim Lesen immer etwas, das wir aus uns heraus verstehen und wo wir einhaken können – nehmen wir Dietrich E. Sattler, den Kopf hinter der legendären »Frankfurter Ausgabe«: »Hölderlin«, so schrieb Sattler, »litt an der Nacht, die ihn umgab. Während andere den Blitz des neuen Zeitalters vergaßen und als Normale weiterlebten, trieb ihn das Fortbestehen gesellschaftlicher Umnachtung aus den unerträglich Anpassung fordernden Verhältnissen an den Rand.« Sattler liest hier natürlich seinen Hölderlin, mit der Sympathie dessen, der sich in den 1970er Jahren in der BRD ähnlicher gesellschaftlicher Umnachtung ausgesetzt sieht, ähnlichem Anpassungszwang angesichts von Radikalenerlaß und Stabilität des kritisierten »Systems«. Mit dem historischen Blick sehen wir heute, daß es der radikalen Linken in diesen Jahren gelungen ist, sich den Weg aus einer vermeintlich »bleiernen Zeit« heraus auf Universitätsprofessuren, in einstmalige Leitmedien und in Regierungsämter zu bahnen. Und so banal, mollusk oder widerwärtig manche dieser Gestalten sein mögen – der Sattlersche Zugriff auf Hölderlin bleibt ein ehrlicher, guter und richtiger, weil die Texte des Tübinger Stiftlers auf das Ganze gehen, wenn ich auch glaube, daß dessen freie und einige deutsche Republik gewiß keine »sozialistische« sein sollte.
Wenn nun ich, als sogenannter Rechter, meinen Hölderlin lese, und ich habe nicht einmal ansatzweise die Klasse Sattlers, dann fesselt mich das Rätselhafte seiner Verse, die zugleich in mir klingen. Den »Prototyp des geöffneten Dichters« hatte ihn in den 1920er Jahren einmal einer genannt: eine schmerzhafte, eine gebrochene Offenheit erfahre ich nicht nur in seinen »vaterländischen Gesängen« und Oden – ein Tasten, ein Ringen um ein Eigenes, Bleibendes, das sich immer dem Sog des Verschwindens ausgesetzt weiß, ein absoluter Gegensatz zum selbstgewissen Moralbourgeois zu allen Zeiten: »Das Ungebundne reizet und Völker auch / Ergreifft die Todeslust und kühne / Städte, nachdem sie versucht das Beste.«
Auch wenn ich die recht geschlossene Hymne »Andenken« lese, klingt das alles jedes Mal mit – das Gelingen einer Gemeinschaft, das sich aber sofort als verloren erweist, in Gesang und Erzählung indessen noch einmal erfahrbar wird: »Es reiche aber, / Des dunkeln Lichtes voll, / Mir einer den duftenden Becher, / Damit ich ruhen möge.«
Mein Hölderlin ist einer, der zwischen Zweifel und Gewißheit über das Eigene und dessen Sinn ausgespannt war, und der möglicherweise unter dieser Spannung gerissen ist. Bei diesem Hölderlin sehe ich für mich noch keinen Abgrund, sondern ein beständiges, formal gebändigtes Nachdenken über etwas, das freilich abgründig werden kann.
In jedem Falle gut, ja manchmal rettend, lieber Götz, ist aber »ein Gespräch und zu sagen / Des Herzens Meinung, zu hören viel / Von Tagen der Lieb’, / Und Thaten, welche geschehen.« Vor allem: »zu sagen / Des Herzens Meinung«. Auch das bleibt mir mein Hölderlin, die Stimme des Volks.
Grüße!
Schnellroda, 1. März 2020
Lieber Ivor,
ich habe mich einmal mit Hölderlins Dichtweise beschäftigt, und zwar anhand der vielen Vorstufen seiner Gedichte und dem Schriftbild seiner Entwürfe. Nur soviel: Hölderlin verfertigte seine Gedichte nicht, er empfing sie eher – zumindest kann man das so deuten: Man sieht an seiner Handschrift, daß da ein Rhythmus, ein rhythmischer Zustrom aufs Papier floß, erkennbar daran, daß er dort, wo der Strom schon da war, die Worte aber noch fehlten, einfach mit der Hand weiterfuhr und sozusagen ein paar Takte unausgefüllt ließ.
Das kann man übertragen: Hölderlin ist der unfertige, der fragmentarische, der nicht zu Rande kommende Dichter, und woran mochte das liegen? War das Thema zu groß, diese Lockrufe an die ferngerückten Götter? Wollte er zuviel auf einmal, war das, was er fabrizierte, in einem ganz praktischen Sinne unbrauchbar, nicht anknüpfungsfähig? Auch damals gab es ja einen Wissenschafts- und einen Literaturbetrieb. Schelling und Hegel, seine Freunde aus dem Tübinger Stift, überliefen ihn, weil sie das, was sie begannen, zu Ende brachten und an der Universität Jena einspeisen konnten. Und Hölderlin? Vielleicht ist es bei ihm wie bei den Mystikern oder anderen Formen der Ich-Verschmelzung: Im Moment des Erlebens, der Hochgestimmtheit ist alles ganz klar, ganz gefügt. Aber solche Zustände halten ja nicht lange an: Was ist dann danach, wenn diese Versöhnungsmomente »formal gebändigt« werden sollen durch den Dichter, wie Du das in Deinem letzten Brief ausgedrückt hast? Es kommt mir so vor, als sei unserem Hölder sehr oft sehr vieles banal geworden, als seien die Worte weit weg von dem gestrandet, was er zuvor, schwärmend-versunken, schon erreicht hatte.
Man findet diese Unvermittelbarkeit der Gemütslagen und der Wahrnehmungszustände in dem schockierenden Gedicht »Hälfte des Lebens« ohne jede Feierlichkeit und ohne jeden Zwischenton ausgedrückt. Auf die Stimmigkeit der warmen Einbettung ins Verheißungsvolle folgt die Stimmigkeit der kalten Hoffnungslosigkeit, der Zurückweisung und Erstarrung – kein Platz für Kompromißlösungen, für Graustufen, für Angebot und Nachfrage, für Veröffentlichungsstrategien und Karriereplanungen.
Aufgrund dieser Ausgangslage ist das Scheitern im Lebensvollzug von vornherein angelegt – ebenso aber die totale, die lebensverändernde Wirkung im Nachhinein, oder nicht? Weißt Du, was ich mich frage? Würden wir Hölderlin erkennen, wenn er jetzt des Weges käme? Und wäre er uns willkommen, beispielsweise als katastrophischer Hauslehrer für unsere Kinder, von dem sie – seinen Unfertigkeiten ausgesetzt – unmögliche Lebenswege ebenso beigebracht bekämen wie großartige, verdichtete Lebensmomente, kurzum: Alltagsuntauglichkeit? Ich nippe, wenn ich das frage, nicht an einem Weinglas und lehne mich nicht selbstgefällig zurück. Denn das ist eine Schlüsselfrage: wie Potsdam und Tübingen zugleich in einem wirken können, ohne daß immer Tübingen vergewaltigt wird oder nur das berühmte Schweißtuch ist, mit dem man sich in der Kühle des Abends den Anflug der Verwegenheit von der Stirn wischt.
Gruß!
Burg Schreckenstein, 4. März 2020
Lieber Götz,
daß der Dichter ein Gefäß sei, das im Zufluß des Göttlichen auch überlaufen oder bersten kann, ist ein alter Gedanke, der von manchen Dichtern selbst gepflegt und unters Volk gebracht wurde. Bei meinem Hölderlin scheint mir’s indessen eher, daß er in mühsamer Arbeit Gefäße als Gemäße zu formen suchte, daß sie all das, was ihn umtrieb, erfüllte oder quälte, richtig zu fassen vermochten. Seine Sammelhandschriften zeigen wohl, wie er Eingebungen notierte, die er dann aber offenbar penibel bearbeitet hat: daher auch Fassungen und Fragmente – ein Kopf- und Textarbeiter halt, mit Tendenz zum Perfektionismus. Und er war ein Philosoph, was damals noch hieß: das Ganze zu bedenken, und das gründlich. Ich will damit eine Reserve gegen das Bild des rauschhaft-mystischen Dichters anmelden: Rhythmus und Bilderkraft der Sprache paaren sich bei ihm immer wieder mit einer lapidaren Härte, schlichte und klare Zeilen mit dunklen, abstrakt-anspielungsreichen Passagen. Es ist eben oftmals auch ein grübelndes Dichten, das ergrübelt werden will.
Der Hegel, der Schelling und der Hölderlin kamen ja, wie viele dieser Schwaben, aus pietistischen Familien – Meyers Neues Konversations-Lexikon definierte Pietismus 1866 als »eine krankhafte Form der Frömmigkeit«; da schaut der rationale Positivist auf diese mit Inbrunst Gläubigen, die sich über jede Zeile der Heiligen Schrift den Kopf zerbrachen, um ihr Leben danach einzurichten, und das in einer Zeit, in der die hellsten Köpfe die Welt und deren Sinn im Licht der neuen Wissenschaften philosophisch ergründen wollten. Das war schon die Lage, als Hölderlin und seine Freunde diese Welt zu entdecken begannen, Kant und Klopstock lasen – aus der pietistischen Herkunftswelt jenseitiger Verheißung ins verheißungsvolle Dieseits neuer Dichtung, Philosophie und Wissenschaft: Sie waren ihnen ein praktischer und theoretischer Weg aus dem theologisch-tüchtigen Tübinger Stift »ins Offene«, der Glutkern ihres Kinderglaubens befeuerte ihren Ernst, ihre Versuche, das Religiöse und das Wissen ihrer Zeit zusammenzudenken zu etwas Neuem – und dieses auch zu leben.
Wer aber aus einer behütenden Enge ins Offene und Freie tritt, geht zunächst ins Ungeschützte, setzt sich aus, und das kann gefährlich werden: Nicht jeder gefährdet sich dabei wie Hölderlin oder auch Kleist, gewiß nicht zuletzt ist das auch eine Typenfrage. Im »Frankfurter Plan« zum »Empedokles« formt Hölderlin diesen Philosophen ja selbst als einen gefährdeten Typus – »schon längst zu Kulturhaß gestimmt, zu Verachtung allzu sehr bestimmten Geschäfts«, ist dieser dort »ein Todfeind aller einseitigen Existenz und deswegen auch in wirklich schönen Verhältnissen unbefriedigt, unstet, leidend« – er braucht den »großen Akkord mit allem Lebendigen«. Das ist freilich einer, der’s im praktischen Leben immer schwer hat und sich’s schwer macht; nein, ich würde ihn nicht als Hauslehrer meiner Kinder haben wollen. Geistern wie Hölderlin oder Kleist muß man, meine ich, lesend selbst verfallen oder sie ablehnen, sie können und dürfen nicht zur bürgerlichen Norm werden. Ob wir ihn heute erkennen würden, stünde er vor unserer Türe? Ich weiß es nicht – in unserem Alter vielleicht ähnlich wie Schiller: die große Begabung sehend, von der Anmaßung und dem Überspannten befremdet? In ihm unsere eigene Überspanntheit und deren Scheitern ahnend?
Bei Hölderlin kam ja noch die Politik hinzu, wie bei vielen auch von uns – die Revolution der Franzosen, die Hoffnung auf ein Überschwappen, einen Aufbruch zum Reich der Deutschen, zur freien Republik – und dann die Ernüchterung durch das Weiterlaufen des Betriebs allenthalben: Bittere Tränen habe es ihn gekostet, als er sich entschloß, sein Vaterland gen Bordeaux zu verlassen. »Denn was hab’ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen« – ihn, den Dichter des Vaterlands. Johannes R. Becher sieht Hölderlin 1934, natürlich gegen die nationalsozialistische Konkurrenz, als »Sänger der national-revolutionären Befreiung, als tiefzornigen Kritiker der deutschen Misere und als Verkünder einer größeren und reineren gesellschaftlichen Welt der Zukunft«, und 1944 legt er noch einmal nach: sein Werk atme »den Geist der Volkserhebung, und seine begeisterte Liebe zum Vaterland war bei ihm aufs innigste verbunden mit einem begeisterten Haß gegen jede Art von Despoten-Willkür und Tyrannen-Terror.« Das ist, Expressionist hin, Kommunist her, zwar plakativ, aber gut getroffen – doch fangen die Fragen hier eigentlich erst an: Warum das Opfer für ein ideales Vaterland als »heilig Herz der Völker«, das realiter beharrlich von einem merkwürdigen Volk geformt wird, »so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen«, wie es Goethe, mit bitterem Schmerz, einmal sagte? Woher die Hoffnung auf »das Schweigen im Volk«? Was aber bleibet, sind doch immer die satten, selbstgefälligen Fressen der Mächtigen, die kein Recht kennen, kein Volk und keine Götter, Vernutzer und Vernichter, wie sie auch jetzt wieder ein Jubiläum feiern werden.
Bitte entschuldige, lieber Götz, mir geht der Gaul durch, das ist ein langer und subjectivistischer Brief geworden. Tübingen und Potsdam liegen nicht weit auseinander, in Hölderlins Vaterland, das es auch zu seiner Zeit so nicht gab und vielleicht nie geben wird. Er ist aber, anders als Kleist, nicht in den Krater gesprungen, als er’s gewagt mit Sinnen hatte; er hat sein Leben ausgehalten, dann einfach bis zum bitteren Ende ausgehalten. Wir müssen das auch tun. Mir gibt Hölderlin dabei ein beständiges Fragen mit in den Turm, und manchmal auch ein Einleuchten. Was will ich mehr von einem Dichter?
Grüße!
Schnellroda, 9. März 2020
Lieber Ivor,
laß mich abbinden, es ist jetzt viel gesagt, und wir haben etwas ausgeleuchtet. Wir werden Hölderlin nicht vernutzen, das steht längst fest. Ich will bloß eines noch erzählen: Ich kenne ja Ordensleute, Mönche vor allem, aber auch eine angehende Benediktinerin. Diese junge Frau las Hölderlin existentiell, mit großer Intensität, las ihn vollständig und beschäftigte sich zuletzt mit dem späten Gedicht »Der Einzige«, in dem Hölderlin im Grunde zurückkehrt zu Christus. Du kannst Dir vorstellen, daß dieses Gedicht von einer werdenden Ordensschwester anders gelesen wird als von uns. In einem Gespräch darüber verwies sie aber darauf, daß sie auch wegen dieser schweren und immer wieder neu ansetzenden Gedankenlyrik mehr und mehr ihren Eichendorff liebgewinne: Die Dinge seien oft und zum Glück so einfach wie seine Verse. Dann sagte sie seinen »Adler« aus dem Gedächtnis auf.
Diese Wendung wiederholte sich in einem Mönch, den ich gut kenne und der in seinem Kloster das Amt des Diakons versieht und auch den Garten betreut. Er weiß um meine Hölderlin-Lektüre und spricht stets geradeaus: Er habe das auch gelesen, nicht sehr viel und ohne rechten Zugang. Eichendorff habe das doch alles viel schlichter und stärker durchlebt und menschenliebender gesagt.
Beide Male unabhängig voneinander dieselbe Bestätigung der Hölderlin-Verse »Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.« So etwas gibt mir sehr zu denken, Ivor. Nächstens mehr.
Gruß!