Wendet man sich Heidegger zu, gibt es heute grundverschiedene Ansätze:… Man kann ihn nach wie vor – um von langweiliger Apologie zu schweigen – als großen Philosophen lesen, man kann ihn wohlfeil politisch denunzieren oder psychologisch pathologisieren, man kann ihn aber auch historisch kontextualisieren.
Letzteres unternimmt cum grano salis der in England lehrende Historiker Thomas Rohkrämer, dem es emphatisch nicht um Heideggers philosophische Originalität geht, sondern um die Einordnung in die Kultur seiner Zeit. Nicht die Ausnahmeerscheinung Heidegger steht daher im Vordergrund, sondern derjenige Heidegger, der in vielfacher Verbindung zu Tendenzen seiner Zeit stand. Das Grundproblem ist also, wie ein als Unzeitgemäßer gehandelter (und sich auch so inszenierender) Denker zugleich doch eine so erstaunliche Resonanz finden konnte – und zwar über politische Systeme und Zeitgeistwandlungen hinweg. Damit steht Rohkrämer auch gegen eine auf den Nationalsozialismus verengte Sichtweise, die es oft genug unternimmt, Heidegger »von allgemeinen Prinzipien oder der Gegenwart her den Prozess zu machen«. Das hindert den Autor jedoch nicht daran, selbst zu erklären, Heideggers Philosophie habe diesen »nicht vor grundsätzlich falschen politischen Positionierungen« geschützt, was ja nichts anderes bedeutet, als Heidegger von allgemeinen Prinzipien her zu kritisieren. Wie problematisch das ist, erhellt leicht daraus, daß es nicht schwerfällt, zahlreiche Philosophen der Gegenwart zu finden, die auch nicht durch ihre Philosophie vor »falschen Positionierungen« geschützt werden.
Für Rohkrämer besteht aber die entscheidende Herausforderung darin zu verstehen, »wieso ein politisch fragwürdiger Philosoph zugleich gehaltvolle und produktive Gedanken entwickeln konnte«. Man könnte aber genauso gut und vielleicht mit mehr Recht fragen, »wieso nicht?« Seit wann hängt die Produktivität eines Denkers von den zeitbedingten politischen Meinungen ab, die er auch noch hatte? Denn auch wenn die Verbindungen Heideggers zu einem modernitätskritischen und konservativ-revolutionären Gedankengut evident sind, erscheint der Kern seiner Zeitkritik oft nur zufällig mit einer »rechten« Option verbunden zu sein. Das gehaltvolle und produktive Denken Heideggers hat sein Gewicht deshalb, weil es sich sehr wohl auf reale Probleme bezieht, die zwar nicht vorschnell, letztlich aber eben doch beantwortet werden müssen. Wenn Heidegger die Massengesellschaft mit ihrem Konformismus analysiert, sieht Rohkrämer darin die »Attitüde des elitären und kulturkritischen Mandarins«, obwohl er selbst erkennt, daß sich Adornos Kritik der manipulativen Kulturindustrie davon nicht signifikant unterscheidet. Und ein Kontext Heideggers ist hier weniger die zeitgenössische, als vielmehr die schon bei Kierkegaard entfaltete Kulturkritik.
Rohkrämer skizziert nun in groben Zügen, ohne sich allzusehr auf philosophische Details einzulassen oder gar neue Quellen zu erschließen, die Entwicklung Heideggers von einem stark im katholischen Milieu verankerten Theologen zum »heimlichen König« (Hannah Arendt) der Philosophie, dessen Sein und Zeit sich sehr wohl in die »Verhaltenslehren der Kälte« im Sinne Lethens einordnen läßt.
Schließlich feierte Heidegger nach dem zeitweisen Engagement zugunsten des Nationalsozialismus (den Rohkrämer als in sich durchaus diversen »Glaubensraum« erkennt) sein philosophisches Comeback als Denker der Gelassenheit und als Kritiker der Technik. Hier aber war Heidegger auch keineswegs besonders zeittypisch, da er, wie Rohkrämer zeigt, sich deutlich von denjenigen Konservativen unterschied, die wie Freyer, Gehlen und Schelsky ihren Frieden mit der Industriegesellschaft gemacht hatten. Anders auch als Klages oder Friedrich Georg Jünger habe sich Heidegger gegen eine Dämonisierung der Technik gestellt.
Rohkrämer hält es zurecht für »nicht sinnvoll, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Heidegger und dem Nationalsozialismus zu bestimmen, indem man sich auf bestimmte Begriffe und Konzepte konzentriert«, denn diese Details der NS-Weltanschauung interessierten den Denker gar nicht. Ihm ging es vielmehr um die »Dynamik, mit der die Bewegung eine neue historische Situation hervorbrachte.« An diesem Punkt kommt auch die Differenz Heideggers zu jedem Konservatismus zum Tragen, wenn er bei der Erörterung von Feindbestimmungen von dem Grunderfordernis spricht, den Feind nicht nur zu finden, sondern »gar erst zu schaffen«. Auch Rohkrämer muß aber trotz einiger antisemitischer Aussagen in den Schwarzen Heften vor allem um 1940 herum konstatieren, daß Heidegger in seinen öffentlichen Äußerungen keinen Antisemitismus zum Ausdruck bringt. Auffällig ist zudem, daß die meisten »Haßtiraden« Heideggers sich auf Christentum und Katholizismus bezogen, weshalb er auch katholische Habilitanden wie Gustav Siewerth und Max Müller als weltanschauliche Feinde ansah.
Rohkrämers Darstellung, die viel Bekanntes resümiert, ist dort am stärksten, wo sie auf die Ambivalenzen in Heideggers Texten aufmerksam macht, etwa im Ursprung des Kunstwerks; denn hier erzeugt der Philosoph eine »Suggestivität gleichsam poetischer Natur, die auch jene Anschlußfähigkeit« begründet, die erst im Aktivismus des NS und dann auch in der Gelassenheitsrhetorik der späteren Jahre eine jeweils völlig andere Gestalt annehmen konnte.
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