Gregor Schöllgen, Gerhard Schröder: Letzte Chance.

Es entspricht einer Art bundesdeutscher Tradition, daß unkonventionelle und richtungweisende Bekenntnisse von Bundeskanzlern...

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

erst dann geäu­ßert wer­den, wenn sie ihr Amt längst auf­ge­ge­ben haben. Hel­mut Schmidt (1918 – 2015) kann als das pro­mi­nen­tes­te Bei­spiel für die­se The­se gel­ten. Noch heu­te wer­den etwa sei­ne Mah­nun­gen vor über­bor­den­dem Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus auch rechts der Mit­te aner­ken­nend zitiert –doch natür­lich unter­nahm auch Schmidt nichts gegen ent­spre­chen­de Ent­wick­lun­gen, die bereits in sei­ner Amts­zeit durch neue Migra­ti­ons­schü­be an Fahrt auf­nah­men. Ger­hard Schrö­der, wie Schmidt gele­gent­lich als ein »Sozi­al­de­mo­krat alter Schu­le« ver­klärt, ist ein wei­te­res Bei­spiel. Ahm­te Schrö­ders rot-grü­ne Koali­ti­on 1999 noch den west­le­ri­schen, US-gepol­ten Inter­ven­tio­nis­mus gegen wider­spens­ti­ge Natio­nen wie Ser­bi­en nach, als man sich – völ­ker­rechts­wid­rig, wie Schrö­der 2014 ein­räu­men muß­te – in den Koso­vo­krieg stürz­te, prä­sen­tiert er sich heu­te als ein­sichts­vol­ler Geo­po­li­ti­ker, der für Frie­den, Frei­heit und Sou­ve­rä­ni­tät aller Natio­nen in einer neu­en Welt­ord­nung eintrete.

Dies ent­spricht denn auch der Leit­li­nie sei­ner neu­en Publi­ka­ti­on, die er mit dem eige­nen Bio­gra­phen, dem Erlan­ger His­to­ri­ker Gre­gor Schöll­gen, vor­ge­legt hat. Auf­wind dürf­ten durch Letz­te Chan­ce zunächst jene Schrö­der-Kri­ti­ker erhal­ten, die sein Enga­ge­ment für rus­si­sche Staats­un­ter­neh­men grund­sätz­lich ver­wer­fen. Schrö­der sei ein »bes­se­rer Han­dels­ver­tre­ter Wla­di­mir Putins«, so for­mu­lier­te es jüngst der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Albrecht von Lucke (Blät­ter für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik 2/2021). Und natür­lich fin­det Ruß­land auch im neu­en Buch statt: Schöll­gen und Schrö­der posi­tio­nie­ren sich gegen wirt­schaft­li­che Sank­tio­nen und Boy­kot­te. Ent­spre­chen­des Han­deln sei kei­ne sinn­vol­le Opti­on, weil man nur der Bevöl­ke­rung scha­de (man ver­mißt die­se kate­go­ri­sche Aus­sa­ge spä­ter, als es um Syri­en geht: Hier repro­du­ziert das Autoren­paar alt­be­kann­tes Rau­nen gegen­über Damas­kus). Man müs­se Ruß­land als Part­ner begrei­fen, ob bei Nord Stream 2 oder in Fra­gen euro­päi­scher Sicher­heits­po­li­tik; der Kal­te Krieg sei vor­bei; die US-Welt­po­li­tik­in­ter­pre­ta­ti­on kei­nes­wegs bin­dend für Deutschland.

Das alles bewegt sich im Rah­men ange­mes­se­ner inter­es­sen­po­li­ti­scher Posi­tio­nen –Putin-Ver­eh­rung oder Ruß­land­ver­klä­rung sucht man ver­geb­lich, ja die Krim-Anne­xi­on wird sogar als »Bruch des Völ­ker­rechts« auf­ge­faßt. Ein Ärger­nis ist viel­mehr die Anein­an­der­rei­hung von All­ge­mein­plät­zen über fast 170 Sei­ten hin­weg. Man hat das alles schon gele­sen, gehört, gese­hen; man hat es pha­sen­wei­se regel­recht satt, über die dut­zend­fach auf­ge­ar­bei­te­ten Kri­sen des Wes­tens, die Geschich­te der NATO oder auch das Trei­ben ver­schie­de­ner US-Prä­si­den­ten auf­ge­klärt zu werden.

Doch dann folgt eine Kehrt­wen­de der Autoren. Wohl stär­ker als Schrö­der dürf­te es der Kriegs­for­scher Schöll­gen (Krieg. Hun­dert Jah­re Welt­ge­schich­te, Mün­chen 2017) sein, der dem Buch doch noch sei­nen Stem­pel auf­drückt (der Leser erfährt das nicht, die ein­zel­nen Kapi­tel sind nicht nament­lich gezeich­net). Es geht um man­nig­fal­ti­ge Krie­ge und Kon­flik­te in ver­schie­de­nen Win­keln Afri­kas mit oft­mals unter­schätz­ten Rück­wir­kun­gen auf Euro­pa. Man lernt eini­ges über Stam­mes­feh­den und Mas­sa­ker, Res­sour­cen­po­li­tik und Roh­stoff­aus­beu­tung, Kolo­ni­al­nach­wir­kun­gen und heu­ti­ge Hand­lungs­ka­ta­stro­phen der auto­chtho­nen afri­ka­ni­schen Eli­ten. Der Wes­ten, so begreift man, hat dabei trotz aller Bür­ger­krie­ge und Flücht­lings­wel­len nicht viel gelernt: »Es gel­ten sei­ne Spiel­re­geln, es gilt sein Ver­ständ­nis von Rechts­staat­lich­keit, Demo­kra­tie und frei­er Markt­wirt­schaft«, und zwar »ganz gleich, ob das alles in ande­ren Kul­tur­krei­sen eins zu eins umsetz­bar ist oder nicht«.

Schöll­gen und Schrö­der legen die­se scho­nungs­lo­se Ana­ly­se geschei­ter­ter Staa­ten Afri­kas aber nicht vor, ohne aus ihr eine eige­ne poli­ti­sche Con­clu­sio abzu­lei­ten: Deutsch­land und Euro­pa müß­ten fort­an eine stär­ker gestal­ten­de Rol­le in der Afri­ka- und der Welt­po­li­tik spie­len und am Auf­bau einer neu­en Ord­nung offen­siv arbei­ten. Das impli­ziert für das Autoren­duo zunächst eine Los­lö­sung von US-Nar­ra­ti­ven (ja!), eine euro­päi­sche Ein­heits­ar­mee (unter gege­be­nen Ver­hält­nis­sen: wie?), eine »Poli­ti­sche Uni­on« Euro­pas (ohne Kor­rek­tur der Grün­dungs­feh­ler: war­um?) und – lang­fris­tig – eine »Soli­dar­ge­mein­schaft der glo­ba­len Welt« (inwie­fern real?).

Ver­mi­schen sich hier klu­ge und vol­un­t­a­ris­ti­sche Gedan­ken zu einer geo­po­li­ti­schen Absichts­er­klä­rung der Welt­har­mo­nie auf Augen­hö­he, las­sen es sich die Autoren nicht neh­men, am Ende noch Schrö­ders Nach­fol­ge­rin Ange­la Mer­kel einen Sei­ten­hieb zu ver­pas­sen: Ange­sichts der anstei­gen­den Flücht­lings­be­we­gun­gen sei es nicht mög­lich, einer Mehr­heit poten­ti­el­ler Migran­ten Hil­fe auf euro­päi­schem Boden ange­dei­hen zu las­sen. Man müs­se vor Ort, in den Kriegs- und Kri­sen­län­dern, stär­ker agie­ren. Denn Euro­pas Kapa­zi­tät zur Auf­nah­me von Migran­ten sei begrenzt, eine Ober­gren­ze somit obli­ga­to­risch. Doch bedau­er­li­cher­wei­se habe man kei­ne »funk­tio­nie­ren­de Asyl‑, Flücht­lings- und Migrations‑, mit­hin auch kei­ne Abschie­be- bezie­hungs­wei­se ›Rückführungs‹-Politik, die die­sen Namen ver­dient«. Das ist kor­rekt. Nur: Wer war doch gleich in Regie­rungs­ver­ant­wor­tung in den Jah­ren 1998 bis 2005, besaß eine soge­nann­te Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz und orga­ni­sier­te nichts davon? Es bleibt, wie es ist: Extra­or­di­nä­re Erkennt­nis­se schei­nen erst Jah­re nach der Amts­ab­tre­tung eines Kanz­lers durchzuschlagen.

– – –

Gre­gor Schöll­gen, Ger­hard Schrö­der: Letz­te Chan­ce. War­um wir jetzt eine neue Welt­ord­nung brau­chen, Mün­chen: DVA 2021. 256 S., 22 €

 

Die­ses Buch kön­nen Sie auf antaios.de bestellen.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)