Der 150. Geburtstag des Kaiserreichs war für die Bundesrepublik des Jahres 2021 eine fremde Angelegenheit. Die Ansprache des Bundespräsidenten lief darauf hinaus, das Kaiserreich im Anschluß an Heinrich August Winklers Geschichtsdeutung als vordemokratisches Konstrukt des Militarismus zu charakterisieren, mit dem uns glücklicherweise nicht mehr allzuviel verbinde.
Aber neben der Sorge, daß der »Anblick von Reichskriegsflaggen auf den Stufen des Reichstagsgebäudes« ein Menetekel des Un-tergangs der BRD sein könnte, kam auch der Bundespräsident nicht umhin, die Modernität und die Dynamik des Kaiserreichs zu erwähnen. Neben der Erzählung vom Obrigkeitsstaat als Vorläufer des NS-Staates hat sich eine Deutung etabliert, die dem Kaiserreich ein zweites Gesicht gönnt. Der Historiker Jens Jäger (*1965), der in Köln lehrt, widmet sich dieser zweiten Erzählung. Auch wenn er das mit den floskelhaften Begriffen »Vernetzung« und »Globalisierung« tut, so muß man ihm zugute halten, daß er nicht den Fehler des Bundespräsidenten macht, jedem positiven Aspekt des Kaiserreichs sofort einen negativen an die Seite zu stellen.
Jäger erzählt die Geschichte eines jungen Staates mit langer Geschichte, dessen Grenzen keinen natürlichen Schutz boten und der aufgrund seines wirtschaftlichen und demographischen Wachstums nicht nur eine unglaubliche Dynamik entwickelte, sondern auch darauf achten mußte, die sozialen Fliehkräfte im Zaum zu halten. Neben der Landflucht drohte die Auswanderung von fast drei Millionen Deutschen das Reich um die Früchte des Wachstums zu bringen. Die Mobilität schlug sich nicht nur in den zunehmenden Reisemöglichkeiten nieder, sondern auch in einem Boom der Kommunikationsmittel. Die Postkarte trat ihren Siegeszug in diesen Jahren an, in denen auch die Mediengesellschaft geboren wurde. Sie schaffte es mit ihrem ausdifferenzierten Angebot an Publikationen, die Massengesellschaft mit der Idee des Kaisertums zu versöhnen. Nicht ohne Grund ging Wilhelm II. als Medienkaiser in die Geschichte ein.
Die weltweite Vernetzung, die sich nicht nur im Reisen (was nur wenigen möglich war), sondern vor allem in der Berichterstattung niederschlug, führte aber nicht zum Universalismus, wie man es sich heute zu erwarten angewöhnt hat, sondern zu einem sich verstärkenden Nationalgefühl. Weil das Deutsche Reich ein Bundesstaat war, der die Traditionen seiner Gliedstaaten respektierte, kam der Impuls dazu aus der »Mitte« der Gesellschaft, während der Staat sich pragmatisch zurückhielt. Verlusterfahrungen gab es auch damals. Die Heimatschutzbewegung organisierte sich gegen die Globalisierung, um die Verwerfungen der industriell geprägten Massengesellschaft zu heilen.
Erstaunlich ist Jägers nüchterne Darstellung der kolonialen Bemühungen des Reiches, die von ihm in den Kontext der damaligen Auffassung von Wirtschaft und Kulturmission gestellt werden. Zwei Exkurse beleuchten die Internationalisierung der Strafverfolgung und der Frauenbewegung, woran sich die Prozesse der Vernetzung gut beschreiben lassen. Letztendlich sieht Jäger in den heute gemeinhin als Defizit betrachteten, mangelnden politischen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger den Impuls für die Vernetzung untereinander, die das Gründen von Vereinen und das bürgerschaftliche Engagement zu nie wieder erreichter Blüte brachten. Das Kaiserreich war damit nicht nur modern, sondern hält auch für unsere Zeit zumindest einige bedenkenswerte Lektionen bereit: Der Parteienstaat erstickt das Engagement der Bürger. Vernetzung und Globalisierung sind keine Einbahnstraße zum Universalismus.
– – –
Dieses Buch können Sie auf antaios.de bestellen.