Der Mensch, der sich in einer Situation gezwungen sieht, Widerstand zu leisten, ist jenen Kräften, die sich ihm in den Weg stellen, zunächst immer unterlegen. Unterlegenheit ist die Ausgangssituation des Widerstandskämpfers – Widerstand setzt Unterlegenheit voraus. Oder anders gesagt: Derjenige, der in die Lage gerät, Widerstand leisten zu müssen, ist zunächst gar nicht in der Lage, Widerstand zu leisten, und er ist es um so weniger, je mehr er sich durch seinen erzwungenen Aufenthalt im Zentrum der Zirkumvallation – auch den ringsum aufgestellten Truppenkranz einer Umschanzung nennt man im Lateinischen corona –, aus der es kein Entkommen zu geben scheint, dazu aufgerufen fühlt.
Ist dann aber, wenn Widerstand Unterlegenheit voraussetzt, nicht jeder Widerstand zwecklos? Nein, ganz im Gegenteil: Gerade hierdurch wird sein Zweck überhaupt erst gesetzt. Kraft und Widerstand, Agonist und Antagonist sind Korrelatbegriffe. Das eine kann ohne das andere nicht sein, beide setzen einander im wechselseitigem Ergänzungsverhältnis jeweils voraus und bedürfen einander, um überhaupt erst so etwas wie Entwicklung ermöglichen zu können. Ex negativo hilft hier der philosophische Begriff der Kontingenz weiter, welcher das »Nichtnotwendige und zugleich Nichtunmögliche« bezeichnet, insofern es hier darum geht, das Mögliche zu vollbringen, damit das Notwendige und zugleich Unmögliche erreicht werden kann. Gerade darin besteht der Auftrag des aufgrund seiner Unterlegenheit zum Widerstand Aufgerufenen: Dasjenige zu tun, was unmöglich ist, aber gerade deshalb versucht werden muß, weil es notwendig ist. Gerade Imminenz – das drohende Herannahen einer erkannten Gefahr – kann hier zu Emergenz führen, den Blick auf unbekannte Potentiale freilegen und das Inerscheinungtreten nicht nur unverfügbarer, sondern für unmöglich gehaltener Fähigkeiten ermöglichen. Der Unterlegene darf also gerade hier nicht desertieren. Er muß den unauflöslichen Widerspruch dieses zu seinen eigenen Ungunsten disparaten Kräfteverhältnisses hinnehmen und aushalten – aushalten lernen: nicht weil er dies an sich müßte, sondern weil er ansonsten nicht mehr viel mit jenem Typus Mensch zu tun hätte, um den es hier geht.
Das Ertragenkönnen der Spannung ist neben der Unterlegenheit eine weitere Voraussetzung seiner Fähigkeit zum Widerstand. Aber nicht thymós im Sinne von »Trieb, Gemütswallung, Zorn« oder gar óxythymía (Jähzorn) sollte dabei im Vordergrund stehen (hier wäre die Gefahr zu groß, auf sich anbietende Köder hereinzufallen), sondern vielmehr makrothymía – Langmut, die hier als Hilfstugend des Starkmuts (fortitudo) von entscheidender Bedeutung ist. Eine besonders präzise und knappe Definition dieser Kardinaltugend der Tapferkeit findet sich im Chambers Dictionary: »fortitude: courage in endurance«, »Mut in Ausdauer« – eine affektbefreite Tapferkeit also, die ihre Widerstandskraft aus langmütigem, beherrschtem Ertragenkönnen schöpft.
Das ungleiche Kräfteverhältnis, aus dem diese kraft »Muts in Ausdauer« zu ertragende Spannung resultiert, läßt sich auf mehreren Ebenen betrachten, wenn man das griechische Wort ánantagónistos zur Hilfe nimmt, welches einerseits »ohne Gegner, ohne Widerstand (zu erfahren)«, andererseits aber »keinen Widerstand leisten könnend, ohne Widerstandskraft« bedeutet. So ist also einerseits der Überlegene ein ánthrōpos ánantagónistos, insofern er keinen Gegner hat, der Widerstand leisten könnte, aber andererseits auch der Unterlegene, insofern er keine (ausreichende) Widerstandskraft hat. Der Unterlegene ist aber auch noch aus einem anderen Grund ánantagónistos: Er könnte nämlich auch deshalb außerstande sein, Widerstand zu leisten, weil er meint, keinen Gegner zu haben, weil er seinen Gegner nicht lokalisieren kann oder weil er den Falschen für seinen Gegner hält und seine gesamte Energie verbraucht, indem er sich demjenigen entgegenstellt, der gar nicht sein wirklicher Gegner ist. Und schließlich könnte er auch deshalb ánantagónistos sein, weil er eine bestimmte Form der Aktion für Widerstand hält, die zwar vielleicht nach Widerstand aussieht, aber gar kein Widerstand ist. Und genau deshalb ist auch der Überlegene wiederum ánantagónistos, weil er dadurch, daß ihn sein Gegner auf dem gesamten Spektrum möglicher Widerstandspunkte verfehlt, eben selbst keinen Gegner hat, der in der Lage wäre, sich ihm zu widersetzen. So stehen sich also zunächst zwei Gegner gegenüber, die – in einem gewissen Sinne – jeweils gar keinen Gegner haben. Der eine kann, der andere muß keine Widerstandskraft aufwenden– ein Umstand, der im übrigen die Möglichkeit eröffnet, die daraus resultierende Vakanz mit qua Computerdatenmodellierung identifizierten globalen Feinden zu besetzen, um alle »vereinten Kräfte« erneut von dem, wogegen eigentlich Widerstand angebracht wäre, abzulenken.
Es war der chinesische Militärphilosoph Sun Tsu aus dem Staate Wu, eine Art Erfinder der psychologischen Kriegsführung avant la lettre, der vor rund 2500 Jahren in seiner Abhandlung Die Kunst des Krieges feststellte: »Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen. […] Der Inbegriff des Könnens ist, den Feind ohne Gefecht zu unterwerfen«, was natürlich voraussetzt, daß man seinen Gegner überhaupt erst einmal identifiziert hat: »Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.« Wer seinen Gegner aber nicht nur schlecht, sondern gar nicht kennt, hat den Kampf bereits verloren, bevor er begonnen hat, oder besser gesagt: bevor er auch nur ansatzweise realisiert hat, passiver Kombattant einer antizipiertenAuseinandersetzung gewesen zu sein, deren Beginn und Verlauf er verschlafen hat. Der in den Künsten der Kriegsführung bewanderte Stratege ist dem agonistisch Unterlegenen gewöhnlich immer so weit voraus, daß letzterer den Konflikt erst realisiert, wenn dieser bereits zu seinen Ungunsten entschieden ist, wobei die Dauer seines Schlafzustandes der Inkubationszeit seiner Schachmattsetzung entspricht, also der Zeitspanne vom Beginn des Kampfes bis zum Auftreten jener Symptome, die seine Niederlage besiegeln. Das Bewußtsein, Widerstand leisten zu müssen, erwacht also zumeist erst an einem Punkt, wo der Unterlegene nicht mehr bloß unterlegen, sondern bereits besiegt ist.
Damit Widerstand möglich ist, müßte die Entfernung der zwei Punkte auf der Zeitachse sukzessive verringert, das heißt die Latenzzeit drastisch verkürzt werden. Gelingt dies aber nicht und dauert der Dämmerzustand zu lange an, befindet sich der Mensch in dem Moment, wo er aufwacht und zwar noch nicht unmittelbar zu sich, aber immerhin zwangsläufig auf die Idee kommt, jetzt sofort Widerstand leisten zu müssen, gewissermaßen im Aufwachraum für Kassenpatienten, an denen unter Verabreichung eines Cocktails aus süßlich-betörenden freiheitlich-demokratischen Vollnarkotika über längere Zeiträume hindurch psychologische Operationen durchgeführt wurden. Und mit Blick auf gerade ein solches klinisches Postanästhesie-Observatorium könnte gerade aktuell wieder beobachtet werden, wie sich das aufwachende Volk im Panikmodus verhält, ob es etwa erwartungsgemäß zu Demonstrationen aufruft und, in dem festen Glauben, mit diesem Zauberspruch auf magische Weise eine Verbesserung seiner prekären Lage bewirken zu können, »Wir sind das Volk« zu skandieren beginnt, ob es auf die Idee kommt, allerlei hashtag-Kampagnen und Online-Petitionen zu starten oder gar ins Kalkül zieht, eine neue Partei zu gründen.
Denn überall hier müßte zunächst die Frage geklärt werden, ob es sich dabei überhaupt um authentischen, souveränen Widerstand handeln kann oder nicht vielmehr davon ausgegangen werden muß, daß einer auf sofortige Problemlösung drängenden Ungeduld als Resultat einer viel zu spät erfolgenden, einer Mischung aus Ohnmacht und Trotz entspringenden Reaktion die Tendenz innewohnt, immer wieder zu den gleichen stereotypen Formen ritualisierter Widerstandssurrogate zu greifen, die dem überlegenen Gegner erst recht stets aufs neue dazu dienen, die Neutralisierung von Widerstandspotential bewerkstelligen zu können. Denn ausgeschlossen werden kann es nicht, daß Rebellionen, die sich bisher solcher stromlinienförmigen Stereotype bedienten und scheinbar Erfolg hatten, nur deshalb Erfolg hatten, weil sie Erfolg haben sollten – weil ein übergeordnetes Interesse bestand, den Eindruck einer erfolgreichen Widerstandsbewegung entstehen zu lassen, mit dem Nebeneffekt, daß die hierbei eingesetzten Mittel fortan als valide Formen erfolgsversprechender Auflehnung gelten konnten. Doch immer wieder gilt es zu beachten: cum hoc non est propter hoc (»Mit diesem ist nicht deswegen«).
An dieser Stelle liegt es nahe, auf den gern in Managementseminaren kolportierten Mythos des Frosches zu verweisen, der sich nicht rechtzeitig retten kann, wenn das Wasser, in dem er schwimmt, langsam erhitzt wird, bis es schließlich kocht und der Frosch stirbt, weil er den Zeitpunkt verpaßt, zu welchem er springen hätte müssen. Tatsächlich reagiert der Frosch nämlich sehr wohl rechtzeitig und hat zum Zeitpunkt, an dem sein »kritisches thermales Maximum« erreicht ist, bereits längst alle Anstrengungen unternommen, um dem drohenden Inferno zu entkommen. Beim Menschen sieht dies jedoch deshalb anders aus, weil die gegen ihn gerichteten Angriffe kraft anästhesierend und immunsuppressiv wirkender Adjuvantien seine Feindortungssysteme lahmlegen. Ausgefeilte soft-power-Techniken, also unsichtbare Techniken zur Durchsetzung von Machtinteressen, die ohne Einsatz physischer Gewalt auskommen, werden deshalb nicht wahrgenommen, weil sie wie psychoinvasive Viren wirken, die im Tarnkappenmodus die Bewußtseinsschwelle unterlaufen, auf dem Radar unseres psychomentalen Immunsystems daher nicht aufscheinen und wirksame Abwehrreaktionen deshalb ausbleiben.
Während der Frosch rechtzeitig springt und entwischt, bevor sein kritisches thermales Maximum erreicht ist, sonnt sich der Mensch so lange in Illusionen, bis sein kritisches liberales Minimum unterschritten ist. Da hat es der Frosch natürlich wesentlich leichter, denn anders als der Mensch läßt er sich eben nicht so einfach mit dem Argument, es handle sich hier wohl um eine »Verschwörungstheorie«, von seinem untrüglichen Gefühl einer real existierenden Gefahr abbringen.
Geht man davon aus, daß hinter der Fassade der Demokratie ein demokratisch nicht legitimierter Machtapparat existiert, ein »tiefer Staat«, eine »unsichtbare Regierung«, eine von Legislaturperioden und anderen rechtsstaatlichen Errungenschaften weitgehend unabhängig operierende »permanente Regierung«, ein Apparat, der permanenten Widerstand gegen die Staatsgewalt ausübt, aber von oben, dann liegt es nicht nur auf der Hand, daß man einen falschen Gegner vor sich hat, wenn man »auf die Straße geht«, um sich der Willkür der eigenen Regierung zu widersetzen (und dies noch dazu unter Berufung auf ein Verfassungsrecht, das einem einräumt, ein Recht zu haben, sich jenem Regime zu widersetzen, von dessen Rechtsauslegung es abhängt, ob der Anwendungsfall dieses Widerstandsrechts im Fall seiner Anwendung überhaupt gegeben ist), sondern auch, daß die dahinterstehenden Kräfte zwecks Stabilisierung und Expansion ihrer Macht stets bestrebt sein müssen, einerseits eine generelle Schwächung der Widerstandskraft ihrer Untergebenen und andererseits eine Neutralisierung dennoch vorhandenen Widerstandspotentials zu bewerkstelligen. Und wenn man, diese Annahme im Hinterkopf, den Erfolgskurs der (angewandten) Psychologie und Soziologie im 20. Jahrhundert, insbesondere des Behaviorismus und dessen selbsterklärtes Forschungsziel berücksichtigt, nämlich »die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten«, wie es in der 1913 publizierten Programmschrift des damaligen Tierpsychologen und Funktionalisten J. B. Watson wörtlich heißt, dann läßt sich hierzu mit hinlänglich evidenzbasierter Berechtigung ergänzen, daß theoretischen Erkenntnissen immer auch die Tendenz innewohnt, in die Praxis umgesetzt zu werden, sofern sie sich als nützlich erweisen könnten, um eigene Interessen durchzusetzen. Insofern mit der faktischen Möglichkeit der Verhaltenskontrolle gleichzeitig auch Wirkkräfte entfesselt werden, die permanent auf ihre Schöpfer zurückwirken, so daß gerade deren eigenes – von diesen Kräften kontrolliertes und folglich von Machtstreben geleitetes – Verhalten vorhersagbar wird, tritt hier das Schema einer Funktionsumkehr zu Tage, das sich auch auf andere Bereiche ausweiten ließe. Ausgehend vom Wissen um die menschliche Schwäche, den Versuchungen der Macht nicht widerstehen zu können, erscheint es jedenfalls als unvernünftig, den Protagonisten der machtelitären Globalphilanthropie sowie all jenen, die auf ihrer Gehaltsliste stehen, zu unterstellen, gerade sie, die diesen Versuchungen besonders stark ausgesetzt sind, wären auch in besonderem Maße in der Lage, ihnen standzuhalten.
Wirksamer Widerstand könnte heute in einer Neutralisierung des Elitenbehaviorismus in Form einer disruptiven psychologischen Technik bestehen, die jedoch nur von unten und nur individuell entwickelt und angewendet werden kann. »Disruptiv« deshalb, weil es dabei darum ginge, die Einfallstore für verhaltenskontrollierende disruptive Technologien, die den Menschen von dem trennen, was ihn wirklich ausmacht, zu schließen und bestehende Leitungen zu kappen, die ihnen als Transmitter dienen. Eine solche Disruption der Disruption würde freilich die individuelle Bereitschaft zum Erlangen von Fähigkeiten voraussetzen, durch Konditionierung und Bequemlichkeit erworbene Verhaltensmuster abzulegen und Betätigungen möglichst zu unterlassen, die Verhaltensdaten produzieren, um Algorithmen zu füttern, die wiederum der Verhaltenskontrolle dienen. Auch was diesen Datenstrom betrifft, müßte der ánthrōpos antagónistos – also der widerstandsfähige Mensch – lernen, gegen den Strom zu schwimmen. Das Wort »Komfort« kommt von lat. confortare, was soviel bedeutet wie »(kräftig) stärken«. Auf jeden Komfort zu verzichten, der dieser ursprünglichen Bedeutung widerspricht, würde auf Askese und in weiterer Folge auf die Formel hinauslaufen: Widerstand = Askese. Askese z. B. in Hinblick auf digitale Endgeräte, die im Englischen terminal devices heißen. Terminal bedeutet auch »unheilbar, im Endstadium befindlich« oder »hoffnungslos, unlösbar«. Und das englische device stammt vom Partizip-Perfekt-Stamm des lateinischen Verbs dividere ab und bedeutet »geteilt, gespalten, getrennt«. Die Sprache ist eben oft verräterisch.