Im Kanon der abwertenden Begriffe ist der des Spießers sicher einer der am stärksten abgenutzten. Von den klassischen Linken zur Deklassierung eines Kleinbürgertums verwendet, das angeblich den Nährboden für den Nationalsozialismus gebildet habe, diente der Begriff im Zeitalter jugendlicher Subkulturen und Generationenbrüche zur Abgrenzung gegen alles (vermeintlich) Bürgerliche, als eine Negativfolie, die adoleszenten Individualisierungsbestrebungen– so einheitlich sie im Resultat auch waren – vorteilhafte Konturen verschaffen sollte. Spätestens ab dem Moment, in dem der Begriff als nur halbironisches Bekenntnis zu überschaubar geordneten Lebens- und Wohlstandsverhältnissen und zur Rückkehr in einen familiären Mikrokosmos rehabilitiert wurde (»Neo-Spießer«), hatte er seine Schärfe verloren.
In der heutigen Erwachsenenwelt fühlt sich durch ihn nur noch jene kleine Gruppe ernstlich beleidigt, die in jugendlich-alternativen Lebensentwürfen verhaftet geblieben ist. Und das ist bedauerlich, da der Begriff meines Erachtens hervorragend dazu geeignet ist, die Mentalität und Verfaßtheit der autochthonen Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben. Dies dürfte bereits deutlich werden, wenn wir als zentrale dem Spießer zugeschriebene Eigenschaft den Opportunismus benennen, aus dem sich weitere wohlvertraute Merkmale ergeben: Engstirnigkeit, Eigennutz, Heuchelei und Hang zum Denunziantentum. Wie sehr von einer Verspießerung der bundesrepublikanischen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur, ja von einer Spießer-Republik die Rede sein kann, soll im folgenden unter Rückgriff auf eine oft zitierte Definition aus der Feder Ödön von Horváths gezeigt werden; anschließend stellt sich die Frage, wie mit dem Spießer politisch umzugehen sei.
Der pazifistisch-antifaschistische, für seine unerbittlichen bis misanthropischen Figurenzeichnungen berüchtigte Literat Horváth, der sich dem »Aufzeigen des Bestialischen« im Menschen verschrieben hatte, stellte seinem Roman Der ewige Spießer die hier beigefügte Beschreibung eines Typus’ voran, auf den er sich spezialisiert hatte. Wie kaum ein anderer verstand es Horváth, die Selbstsucht, Bösartigkeit und Asozialität kleinbürgerlicher sowie der Mittelschicht angehörender Aufsteiger‑, Ausbeuter- und Mitläuferfiguren durch deren moralisierenden und relativierenden Jargon zu entlarven. Daß er damit antifaschistische Wirkungsabsichten verknüpfte, tut der Treffsicherheit dieser Portraitierungen keinen Abbruch. Stellt man das durchaus sensible Gerechtigkeitsempfinden in Rechnung, das Horváth zu eigen war, so kann kein Zweifel darüber bestehen, wo er den Spießer heute verorten würde. Die Überzeitlichkeit des Spießers resultiert ja gerade aus dessen äußerlicher Wandelbarkeit, die ihm die instinktmäßige Ausnutzung der jeweiligen politischen Konjunktur erlaubt. Für die Einschätzung des Spießers als Hindernis und Problem ist dieser Aspekt entscheidend.
Ein weiterer Vorteil der Horváthschen Definition liegt darin, daß sie es erlaubt, die Angehörigen der unkorrumpierten traditions- und heimatbewußten Milieus, die dem Spießer-Vorwurf gemeinhin reflexartig ausgesetzt werden, die Verwurzelten, Urteilsfähigen, Bodenständigen, Wohlgeordneten und Gemeinschaftsgebundenen – oder, modisch gesprochen, Kommunitaristen / »Somewheres« – auszuklammern: Jene Anständigen tauchen bei Horváth, dem selbst Entwurzelten, nicht auf und existierten für ihn wahrscheinlich auch nicht. Die Frage, ob das Spießertum eine anthropologische Konstante darstellt oder ob es sich bei ihm im Gegenteil um ein Produkt des bürgerlichen Zeitalters handelt, soll an dieser Stelle beiseitegelassen werden – ebenso wie die historischen Wurzeln des Begriffes, die uns allzu weit von Horváth und vom Spießer der Moderne wegführen.
Nimmt man die politische Nomenklatur der Bundesrepublik sowie die Meinungsführer des Medienapparates und der sogenannten Zivilgesellschaft in den Blick, so müßte eine Typologie, die ihnen gerecht wird, aus meiner Sicht drei grobe Kategorien umfassen. Wir haben es einerseits, vor allem in Staat und Parteien, mit einem wirbellosen Funktionärstypus zu tun, den man unter anderem an der amphibischen Kälte erkennt, die er verströmt (Angela Merkel, Ursula von der Leyen, Thomas Haldenwang), andererseits, vorzugsweise in Medien und Zivilgesellschaft, mit dem genauen Gegenteil, dem pathologisch schwerstauffälligen und heißblütigen Fanatiker (Philipp Ruch, Carola Rackete, Jutta Ditfurth). Die mit Abstand größte und zumeist gut abgrenzbare Gruppe bildet allerdings, hier wie dort, der Spießer.
Wie dessen Ausprägungen in Horváths Werken – etwa Kobler und Schmitz in Der ewige Spießer, Alfred in Geschichten aus dem Wiener Wald oder Sladek der schwarze Reichswehrmann – zeichnet sich auch der Spießer der Gegenwart einerseits durch geistig-weltanschauliche Beliebigkeit, andererseits durch ungehemmte Anpassungs- und Aneignungsbereitschaft aus. Sein größtes Bedürfnis ist es, im Einklang mit seiner Zeit und deren konstitutiven Normen zu stehen. Dafür ist er bereit, jeden Mist zu beklatschen, solange es der richtige Mist ist. Sein hervorstechendes Merkmal ist die Dummheit, worunter aber keinesfalls Lebensuntüchtigkeit verstanden werden soll, sondern der Komfort geistiger Beschränktheit oder Selbstbeschränkung. Diese angeborene, anerzogene oder selbstverordnete Trägheit ist es, die ihm sein Dasein überhaupt erst ermöglicht, also ihn dessen innere Widersprüche hinnehmen läßt oder sie vor ihm verbirgt. Dies gelingt nicht immer. Gelegentlich beunruhigt ihn durchaus die Ahnung der eigenen Unzulänglichkeit: Je stärker ihm diese bewußt wird, um so unduldsamer wird er.
Lebt er auch von der Lüge, so lebt er meist nicht schlecht; folgerichtig ist er stets bestrebt, deren Herrschaft zu institutionalisieren. Da er nur vorgibt, ein Freiheits- und ein Gerechtigkeitsempfinden zu besitzen, ist er gegen Pervertierungen des Freiheits- und Gerechtigkeitsbegriffes ebenso unempfindlich wie sein Geruchssinn gegenüber der Verwesung. Dies mag nicht zuletzt mit einer eklatanten Phantasielosigkeit zusammenhängen, die sich an seiner austrocknenden Wirkung auf die deutsche Kulturproduktion anschaulich machen läßt: Hiervon legen die notorische Epigonerie und Falschheit des bundesrepublikanischen Film- und Medienbetriebes eindrucksvoll Zeugnis ab. Da er selbst bestenfalls durchschnittlich ist, sucht er auch sein Heil im Durchschnittlichen, bei seinesgleichen. Er trachtet danach, sich über den anderen, vor allem über den weniger Durchschnittlichen zu erheben, und diese Bestrebung wird um so stärker, je mehr Anlaß er zu dem Verdacht hat, daß der andere ihn durchschaut. Das Erhabene weckt sein Mißfallen insbesondere dann, wenn es sich seinen Konsumansprüchen entzieht. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang seine häufige Vorliebe für Profanisierungen, für sexualisierten Humor, für Furzwitze und Scheißhaussprüche, sein Gaffertum und seine Schadenfreude.
Kaum etwas fürchtet er mehr als Demaskierung und Deklassierung– höchstens vielleicht noch, beim Wort genommen zu werden. Risikofreudig ist er nur, wenn die Anreize entsprechend sind; er geht jedoch niemals mit einer verlorenen Sache zugrunde. Seine hypochondrische Veranlagung bricht stets dann offen aus, wenn er seine Pfründe bedroht sieht; sie ließ sich in der Vergangenheit jedoch zumeist in systemkonforme Bahnen lenken, etwa auf eine drohende Revolution von rechts, auf Pandemie‑, Klima- oder Atomkatastrophen. Damit ist er der entscheidende Resonanzboden für die Massenhysterien, die unsere Zeit prägen.
Fragt man nach den Ursachen hinter der Dominanz des Spießers im heutigen System, so ist der Hauptgrund wohl, wenig überraschend, in jenem schleichenden Prozeß zu sehen, der die traditionelle Herrschaftslegitimation der Eliten aushöhlte. Denn im gleichen Maße, wie der Gesinnungsmoralismus an die Stelle von nachprüfbarem Sachverstand, von Fähigkeiten, natürlicher Autorität und angewandten Tugenden trat, eröffnete sich dem Spießer ein immer breiteres Wirkungsfeld, bis er schließlich Parteien, Staat und Öffentlichkeit gänzlich durchdrungen hatte. Nach und nach schuf er sich ein Umfeld aus seinesgleichen, das für seine Verfehlungen und Schwächen, für Heuchelei und überführte Lügen, für private Exzesse, akademische Plagiate, Korruption und fachliche Inkompetenz ein Höchstmaß wohlwollender Nachsicht aufbringt und ihn, muß er auch mal ins zweite Glied zurücktreten oder das Betätigungsfeld wechseln, vor angemessener Sühne schützt. Der gesellschaftlich-kulturelle Gleichschaltungsprozeß ist somit auch ein Prozeß der Verspießerung gewesen.
Wie ist nun mit ihm umzugehen? – Zunächst einmal: Wer die Macht errungen und gefestigt hat, wird sich der Umarmung durch den Spießer kaum erwehren können. Dies ist ein gesondertes, aus gegenwärtiger Sicht ein Luxusproblem. Es besteht kein Zweifel, daß der Spießer die gleiche Fahne, die er jetzt noch mit Füßen tritt oder sich widerstandslos entwinden läßt, bei Veränderung der Machtverhältnisse mit Inbrunst wieder schwenken würde: Mehr noch, er würde Schwarz-Rot-Gold, wenn es die Lage erfordert, bedenkenlos gegen Schwarz-Weiß-Rot (oder Hammer und Sichel) tauschen, sich mit Eichenlaub, Tannengrün und Wehrmacht-Devotionalien umgeben (oder sozialistischem Realismus, Karl-Marx-Büste und Ostblock-Memorabilien) und sogar das Runen-Alphabet lernen (oder Russisch), wenn es seinem Vorankommen nützlich wäre. Hierin liegt natürlich auch eine gute Nachricht, denn einmal eingefangen, ist der Spießer leicht zu beherrschen (überflüssig zu erwähnen, daß man seine Machtbasis nicht auf ihm begründen darf).
Was nun den Weg dorthin angeht, so ist bereits deutlich geworden, daß der Spießer für revolutionäre Bestrebungen unbrauchbar ist. Zwar wird man ihn in jedem siegreichen Lager finden, doch ist es aussichtslos, ihn für eine Bewegung gewinnen zu wollen, die ihm Opfer abfordert, ohne sie umgehend zu kompensieren. Zu selbstlosem Verhalten kann er ohnehin nur durch die Dynamik und Sanktionsmacht einer Gruppe gezwungen werden, mit der er unlösbar verkettet ist.
Nun kann man mit einer gewissen Berechtigung argumentieren, daß er als maßgeblicher Teil des Problems nicht Teil der Lösung sein kann. Doch stellt der Spießer schon aufgrund seiner schieren Masse, die ein wahrhaft bundesrepublikanischer Züchtungserfolg ist, einen entscheidenden Adressaten für die politische und metapolitische Ansprache dar. Ohne Umschweife: Wer Deutschland retten will, kommt am Spießer nicht vorbei. Die Einbindung des Spießers bleibt gleichwohl ein Balanceakt, denn er wird seine schlechten Eigenschaften, nur weil er – offen oder verdeckt – ins oppositionelle Lager wechselt, kaum ablegen. Gibt man ihm Raum, so wird er diesen früher oder später nutzen, um seine Eigenschaften zu entfalten. Darum ist es auch schädlich, Überläufer der Systemparteien und ‑institutionen in exponierte Positionen des eigenen Lagers zu pflanzen; stattdessen sind eigene Eliten heranzuziehen und zu bevorzugen. Als Fußvolk indes ist der Spießer unverzichtbar. Darum muß man niedrigschwellige Angebote schaffen, die seine Beteiligung erheischen: Das Internet bietet hierfür bekanntlich die besten Voraussetzungen.
Das grundlegende metapolitische Angebot an den Spießer, der Normalisierungspatriotismus, liegt bereits auf dem Tisch und sollte beharrlich wiederholt werden. Doch darf man sich keinen Illusionen hingeben: Der Spießer wird in der Mehrzahl erst danach greifen, wenn sich entweder das Systemversagen empfindlich auf seine Lebensverhältnisse auswirkt oder ihm ausreichende materielle Anreize geboten werden (Ämter, Entscheidungsbefugnisse). Davon, ihn mit letzteren zu ködern, ist aus den oben geschilderten Gründen abzuraten; auch darf er nie zu offensichtlich umworben werden, da er andernfalls glauben wird, die Regeln bestimmen zu dürfen. Zweckmäßiger wird es sein, kontinuierlich und gezielt, durch Publizistik und Aktionismus, seine hypochondrischen Neigungen zu stimulieren, ihn bei seinen Verlustängsten zu packen und, wo immer möglich, darauf zu stoßen, daß die Katastrophe, die er ja selbst in lichten Momenten ahnt, mitunter schon heraufziehen sieht, nicht erst in Jahrzehnten, sondern in Kürze bevorsteht, daß sie mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zurollt und ihn unter sich begraben wird, wenn er sich jetzt nicht ermannt. Hier muß mit grellen Farben gemalt werden, die seiner Überreizung und Abstumpfung Rechnung tragen. Für Katastrophenszenarien ist er grundsätzlich empfänglich, da sie für ihn zugleich lust- und angstbesetzt sind; solange man ihm erlaubt, sich als Opfer zu fühlen (obgleich Sie und ich wissen, daß er schuldig ist), wird er sich mental auf das Kommende vorbereiten lassen und abzuwägen beginnen, wie und wo er sich unter den verändernden Bedingungen positionieren soll. Das gespaltene Bewußtsein, das daraus resultiert (»links reden – rechts leben«, oder zumindest: »rechts wählen«), und dessen seit 2015 fortschreitende Verbreitung sind vielfach beobachtet und beschrieben worden.
Kommen wir zuletzt auf ein langfristiges Ziel zu sprechen. Die Überwindung des Spießers, d. h. die Umkehrung der gesellschaftlichen Verspießerung kann selbstredend nur auf metapolitischem Wege erreicht werden. Es gilt, den Spießer unter das Dogma einer neuen Leitkultur zu zwingen, die jener »geistig-moralischen Wende« entsprechen könnte, die Helmut Kohl den Westdeutschen in den frühen 1980er Jahren verordnen wollte. Dabei liegt es auf der Hand, daß gemeinschaftstaugliche Werte, Treue und Ehrgefühl nicht von oben durchgesetzt werden können. Um sie überhaupt zu begreifen, müssen sie erfahren werden – und sei es aus der Ferne. Daß integre, authentische Köpfe aus dem oppositionellen Milieu dank virtueller Kanäle und Plattformen auf eine breite Zuschauerschaft einwirken und, ungehindert durch Verzerrungen der Systemmedien, ihre Strahlkraft entfalten können, ist ein Hoffnungszeichen für diejenigen, die das Überleben dieser Republik und eine Erneuerung unseres Volkes für möglich halten. In dem Moment, indem die Toleranz gegenüber Blendertum, Scheinheiligkeit und Mediokrität ein Ende nimmt, in dem nicht mehr die Worthülse zählt, sondern das Wort, nicht mehr die Absichtserklärung, sondern die Tat, und nicht mehr die Versprechung, sondern deren Einlösung, wird auch das Spießertum nach Horváth an jenen Platz verwiesen sein, an den es gehört.