Am Karfreitag 2020 veröffentlichte Microsoft auf YouTube einen Werbespot für ein »Mixed Reality«-Projekt der serbischen Performancekünstlerin Marina Abramović, das durch die 3D-Brille »HoloLens 2« ermöglicht wird: Im Zuge der neunzehnminütigen Performance »The Life« soll Abramović den Zuschauern als täuschend lebensechtes Hologramm erscheinen und sich sodann »in dünne Luft« auflösen. Die Performance soll im Oktober dieses Jahres in New York, Los Angeles und London aufgeführt und versteigert werden. Sie kann prinzipiell noch lange nach dem Tod der Künstlerin wiederholt werden und verleiht ihr somit eine Art virtueller Unsterblichkeit. »Ich glaube, daß die Kunst der Zukunft eine Kunst ohne Objekte ist. Sie ist eine reine Übertragung von Energie zwischen dem Betrachter und dem Künstler. Für mich ist Mixed Reality die Antwort«, so Abramović in dem Spot, während eine Skizze von Michelangelos »Erschaffung Adams« eingeblendet wird. Der Regisseur von »The Life« beteuert, was für eine »einzigartige Gelegenheit« es gewesen sei, mit der »legendärsten zeitgenössischen Künstlerin« zu arbeiten und ihr Abbild »für immer« festzuhalten. Der Vizepräsident von Christie’s Los Angeles versichert, daß es sich hier um ein »bahnbrechendes« Werk handle. Die von Microsoft produzierte Technologie ermögliche nicht nur »den reinsten Ausdruck künstlerischer Absichten«, sondern erstmalig auch den Erwerb der »Anwesenheit des Künstlers« für die eigene Kunstsammlung.
Innerhalb von drei Tagen erhielt der Spot über 24 000 negative Bewertungen (denennur 625 »Likes« gegenüberstanden), während sich die Kommentarspalten rasch mit zornigen und sarkastischen Einträgen füllten. Außerhalb des Milieus, das sie unermüdlich als epochale Lichtgestalt preist, wird Abramović nämlich von einem inzwischen sehr großen Publikum als zutiefst böse »Satanistin« wahrgenommen, als okkulte Hohepriesterin der globalistischen Eliten, zu denen sie enge Beziehungen pflegt, seien es Politiker, Pop- und Filmstars oder philanthropische Milliardäre mit Weltverbesserungsneigungen. Ein Wasserfall auf diese Mühlen ist die Tatsache, daß sie mitten in der »Coronaviruskrise« ausgerechnet mit jenem Konzern gemeinsame Sache macht, dessen Gründer und WHO-Sponsor Bill Gates zum Lieblingsfeindbild aller geworden ist, die befürchten, daß eine weltweite »Coronadiktatur« mit Zwangsimpfungen und Überwachungs-Apps bevorsteht. Der Gegenwind blies derart stark, daß sich Microsoft gezwungen sah, den Spot wieder vom Netz zu nehmen, während die New York Times Abramović mit einem Artikel in Schutz nahm. »Ich bin eine Künstlerin, keine Satanistin«, beteuerte sie. »Könnt ihr aufhören, mich zu belästigen? Seht ihr nicht, daß ich diese Art von Kunst seit fünfzig Jahren mache?«
Auch in Deutschland wird die laufende verschwörungstheoretische Pandemie von den Leitmedien als ernsthafte Gefahr betrachtet, befeuert durch bundesweite Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung des Coronavirus. Die »Verschwörungstheorien « bewegen sich dabei auf sehr unterschiedlichem Niveau, und ihre schrägsten Auswüchse werden gerne dazu benutzt, um begründete Zweifel und Kritik zu diskreditieren. Ihr Wuchern ist gewiß als Symptom zu werten: Es spiegelt das tiefe Mißtrauen wider, das wachsende Teile der Bevölkerung den tonangebenden wirtschaftlichen, politischen, medialen und kulturellen Eliten entgegenbringen, und das nicht nur in westlichen Staaten. Diese Eliten treten mit dem Anspruch auf, Bannerträger einer universalen, unantastbaren, progressiven, liberalen Moral sein, was wohl eine Ursache des psychologischen Bedürfnisses ihrer Gegner ist, sie moralisch so radikal wie möglich zu diskreditieren, ja buchstäblich zu dämonisieren. Die Eliten erscheinen dann als totalitäre Antichristen in der Maske von Erlösern, und sie werden verdächtigt, satanischen Orgien à la Gilles de Rais (»Blaubart«) inklusiv ritueller Kinderschändungen zu huldigen, was nach Aufdeckungder Vorgänge um Jeffrey Epstein und seinem »Lolita-Express« nicht mehr ganz an den Haaren herbeigezogen erscheint. Ein Vertreter dieses Genres ist etwa der einflußreiche YouTuber Oliver Janich (144 000 Abonnenten), der die »Coronakrise« als »satanische Freimaurerinszenierung« betrachtet.
Dies führt uns zurück zu Marina Abramović, der 1946 in Belgrad geborenen Performance-Pionierin, die seit dem sogenannten »Pizzagate«-Skandal zentrale Figur etlicher Spekulationen über die Machenschaften der »Kabale« geworden ist. Ursprung waren private E‑Mails von John Podesta, dem Wahlkampfleiter von Hillary Clinton, die von Wikileaks im Oktober und November 2016 veröffentlicht wurden. Diese enthielten etliche seltsam anmutende Stellen, die von Amateurinvestigatoren als Codes für pädophile Umtriebe gedeutet wurden. In der Tat bestand eine direkte persönliche Verbindung zwischen Clinton und Podesta zu dem Besitzer einer Pizzeria in Washington, der sich in hohen Regierungskreisen bewegte und auf seinem Instagram-Konto Bilder mit unleugbar perversem und pädophilem Subtext postete. Eine Mail aus dem Jahr 2015 enthielt eine Einladung von Abramović an John Podesta und seinen Bruder Tony – einen wohlhabenden Sammler makabrer Kunst –, an einem »spirit cooking dinner« bei ihr zu Hause teilzunehmen, das nach Aussage der Künstlerin am Ende nie stattfand und nichts weiter gewesen wäre als ein normales Abendessen. Diese E‑Mail wurde im Zusammenspiel mit anderen Fundstücken zum Ausgangspunkt wüster Gerüchte, die im Endspurt des US-Präsidentschaftswahlkampfs gezielt lanciert wurden, um Clinton zu schaden. Hauptventilatoren der Behauptung, die Mail Abramovićs an Podesta würde die Verstrickung der »Eliten« in satanische Rituale belegen, waren YouTuber wie Paul Joseph Watson, Stefan Molyneux und Mike Cernovich.
Hinter diesem »Geisterkochen« schienen sich außerordentlich sinistre Dinge zu verbergen. »Spirit Cooking« war der Titel eines 1996 erschienenen Portfolios surrealer »Rezepte« Abramovićs, die beispielsweise so lauteten: »Mische frische Muttermilch mit frischer Spermamilch, trink sie in Erdbebennächten«, »Schneide dir mit einem scharfen Messer tief in den Mittelfinger deiner linken Hand. Iß den Schmerz« oder »Frischer Morgen-Urin. Besprenkle damit Alpträume der Nacht«. »Spirit Cooking« war auch der Titel eines Videos aus dem Jahr 1997, das sich auf YouTube findet und Abramović zeigt, wie sie diese »Rezepte« mit Schweineblut auf eine weißgekalkte Wand malt. Das mag an die Ingredienzen eines Hexenkessels à la Macbeth erinnern, und hat auch gewisse Ähnlichkeiten mit Zutaten (Menstruationsblut, Honig, Öl) der »Hostie« der »Gnostischen Messe« Aleister Crowleys, wodurch das Gerücht entstand, Abramović wäre bekennende Anhängerin des berüchtigten Okkultisten. Etliche weitere Schockbilder tauchten auf: 2011 war sie Gestalterin einer dekadenten Fundraising-Party des Museum of Contemporary Art in Los Angeles (MoCA), an der achthundert Gäste aus der Kunst‑, Mode‑, Film- und Popwelt teilnahmen, zu Eintrittspreisen, die von 25 000 bis 100 000 Dollar reichten. Jeder Tisch war drapiert mit einer nackten, mit einem Plastikskelett bedeckten Frau (eine Anspielung auf eine Performance von Abramović), während aus Löchern in der Tischplatte die Köpfe von lebendigen jungen Menschen hervorlugten, deren Job es war, in dieser Position stundenlang regungslos zu verharren. Als Höhepunkt wurden zwei Torten in Menschengestalt angeschnitten, die Abramović und der Sängerin Debbie Harry glichen.
2013 erschien sie mit der Popsängerin Lady Gaga auf einer Glamour-Party des Theaterregisseurs Robert Wilson unter dem Motto »Devil’s Heaven«. Die beiden wurden photographiert, wie sie an dem dunklen Honig naschten, der blutähnlich den Körper einer nackten Frau bedeckte, die mit starrem Blick in einer sargartigen Kiste lag – eine Performance einer wenig bekannten Künstlerin mit dem Titel »Funérailles de miel« (»Honigbegräbnis«). Für die ukrainische Ausgabe der Modezeitschrift Vogue posierte Abramović 2014 im diabolischen Dracula-Look: pechschwarzes Haar, blutrotes Kleid, leichenweiße Haut, in den Händen einen gehäuteten Bocksschädel haltend. Schon zu Beginn ihrer Karriere hatte sich eine komplett nackte Abramović in einer Performance mit einer Rasierklinge ein auf dem Kopf stehendes Pentagram in den Unterbauch geritzt, das in anderen Versionen der Aktion allerdings auch als Sowjetstern interpretiert werden kann.
Aus diesen und anderen Indizien entstand die kannibalistische Hexenmeisterin von »Pizzagate«, während die Abramović der internationalen Kunstszene als numinose »Ikone« gilt, deren Karriere ähnlich wie bei Joseph Beuys vor allem auf ihrer Selbstinszenierung als charismatische Visionärin beruht. Abramović ist ein Musterbeispiel für eine dominante Strömung der modernen Kunst, die sich einerseits vom auratischen Abglanz und Stellenwert der »alten« Kunst nährt, andererseits den Kunstbegriff ins nahezu Beliebige erweitert und von Objekten wie Gemälden, Skulpturen, Architekturen abgelöst hat. Der Zerstörung des traditionellen Kunstbegriffs folgt ein Sinnvakuum, das der Künstler als um sich selbst kreisender, gnostischer Guru füllt. Er ist nicht mehr der Schöpfer »schöner« Objekte, sondern wird selbst zum Kunstwerk, zum »Schamanen«, der unsichtbare Geisteskräfte channelt, zum direkten Spender jener Transzendenz (Abramović: »Energie«), die einst durch die Schönheit oder Vollkommenheit des Werkes vermittelt wurde. Es ist weniger von Bedeutung, was der Künstler kann (als »artisan«), als was er (vorgeblich) ist, nämlich ein Vermittler von spirituellem Mana und Manna. Kunst als »Performance« hat rituellen Charakter und ist darum mit dem Tanz und dem Theater ebenso verwandt wie mit Initiationsriten, Messen oder Zeremonialmagie – weshalb sich Aktionskunst auch gut zur Subversion eignet, wie schon in den sechziger Jahren die Wiener Aktionisten demonstrierten.
»Performance-Kunst«, die aufgrund fehlender verbindlicher Maßstäbe häufig banal und beliebig ausfällt, fördert den Narzißmus des Künstlers und wird heute vorwiegend zu »dekonstruktiven« Zwecken benutzt. Die Unverständlichkeit und Absurdität der Performance soll dazu dienen, »Sinnfragen zu stellen«, »verkrustete Denkmuster zu sprengen« oder was auch immer an Rechtfertigungen vorgebracht wird. In dem 3D-Projekt »The Life« wird eine in feierliches Rot gekleidete Abramović gleichsam nekromantisch beschworen; »Kunst« ist das nur deswegen, weil eine Künstlerin erscheint und nicht etwa eine x‑beliebige Putzfrau oder ein Taxifahrer oder Bill Gates. Abramović hat es so weit gebracht, daß schon ihre bloße Anwesenheit als »Kunst« gehandelt wird. So adelte sie ihre Lebenswerk-Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art im Jahre 2010, die ihren Durchbruch in den Mainstream markierte, mit der Aktion The Artist is Present: Drei Monate lang saß sie acht Stunden pro Tag, sechs Tage pro Woche, schweigend auf einem Holzstuhl vor einem leeren Tisch, ihr gegenüber ein weiterer Stuhl, an dem die Besucher Platz nehmen und mit ihr Augenkontakt aufnehmen konnten, solange sie wollten. Der gleichnamige Film über die Ausstellung zeigt, wie manche Menschen buchstäblich in Tränen ausbrachen, zutiefst erschüttert von der »Präsenz« dieses überirdischen Wesens. Gewiß können selbst ihre Verächter Abramović kaum den Respekt für ihre geradezu übermenschliche körperliche und mentale Zähigkeit versagen. Ihr »legendärer« Ruf basiert weitgehend auf Aktionen aus den siebziger Jahren, deren berühmteste, »Rhythm 0« (1974), als eine ähnlich beunruhigende Offenbarung der menschlichen Natur gilt wie etwa das Milgram- oder das Stanford-Gefängnis-Experiment. Abramović verharrte sechs Stunden lang vor einem Tisch mit 72 Gegenständen, deren Anwendung an ihrem Körper dem Publikum völlig freigestellt war: darunter eine Federboa, eine Rose, ein Hammer, eine Axt, Scheren, Nägel, Skalpelle, Weinflaschen, Gürtel, Peitschen und eine geladene Pistole, die am Ende, als die Künstlerin bereits mit Schnittwunden übersät war, tatsächlich von einem Besucher an ihren Kopf angelegt und ihm in letzter Sekunde entrissen wurde. In der Tat wird niemand, der diese Geschichte gehört hat, sie je vergessen und ihre mythische Wirkung steigert sich noch dadurch, daß es außer ein paar Fotos keine Aufzeichnung gibt und sie tatsächlich zur »Legende« geworden ist, die durch das Weitererzählen lebt, wie auch einige andere ihrer Taten, etwa ihr Marsch entlang der chinesischen Mauer, in deren Mitte sie auf ihren »Seelenzwilling«, den deutschen Künstler Ulay traf, um sich nach zwölfjähriger Partnerschaft von ihm zu verabschieden.
Heute ist Abramović, die noch vor dreißig Jahren kaum ihre Stromrechnungen bezahlen konnte, Multimillionärin und Superstar eines internationalen Kunstbetriebs, der kaum mehr Kunstwerke oder gar Schönheit hervorbringt, sondern einerseits zumMarkt von Scharlatanerien, Banalitäten und Scheußlichkeiten, die jeder Beschreibung spotten, geworden ist, andererseits als Sprachrohr globalistischer Ideen und Slogans dient.
So lernen auch die per Marina-Abramović-Methode mental und physisch gestählten Performance-Studenten am Marina-Abramović-Institut in Hudson, New York über »zeitgemäße Sichtweisen auf Politik, Feminismus, Intitimät, Gender, Neurowissenschaft, rassische Identität, Psychologie und Verwundbarkeit« zu debattieren. Die Marschrichtung ist klar: Es handelt sich im Kern um dasselbe Evangelium, das heute unisono von unzähligen Stiftungen, Instituten, medialen Netzwerken, Think-Tanks und übernationalen Organisationen bis hin zur UNO verkündet wird. Was die »satanische« Ikonographie betrifft, die von vielen Verschwörungstheoretikern für bare Münze genommen wird wie einst Heavy-Metal-Platten von christlichen Fundamentalisten, so hat sie eine lange Tradition in der Moderne und reicht bis zum Schlachtruf »Épater le bourgeois« (etwa: »Schockt den Bourgeois!«) der poètes maudits des 19. Jahrhunderts vom Schlage eines Baudelaire, Rimbaud oder Lautréamont zurück. Die Identifikation mit »Luzifer« als Archetyp des prometheischen Rebellen bedarf keines Glaubens an übernatürliche, dämonische Mächte. »Satan« wird zum Symbol des Widersachers, Umstürzlers, Nonkonformisten. Wie Beuys versteht sich auch Abramović als anthropologische Revolutionärin. »Kunst kann nur in destruktiven Gesellschaften gemacht werden, die neu aufgebaut werden müssen«, sagte sie in einem Interview. Es ist eine alte Idee der modernen Kunst, daß das Althergebrachte zerstört werden muß, um zu etwas Neuem zu gelangen, das noch nicht in Worte gefaßt und nur in einer mystisch-suggestiven Sprache und Formensprache ausgedrückt oder angedeutet werden kann.
Im spirituellen Gepäck hat Abramović weniger Crowley oder Huysmans als einen synkretistischen Mix zum Zwecke der Selbst- und Realtranszendenz, der sich nahtlos mit den humanistischen und transhumanistischen Selbstvergottungsversuchen durch die Technologie kurzschließen läßt, wie sie etwa Yuval Harari in Homo Deus darstellte. Im Gegensatz zu Baudelaire und anderen »satanischen« Künstlern sucht man bei Abramović vergeblich nach Schönheit oder Dienst am künstlerischen Handwerk, ungeachtet ihres relativen Formwillens und der unfaßbaren Strapazen, die sie sich selbst auferlegt. Daß sie von der subversiven Extremaktionistin, die mit Ulay jahrelang in einem alten Lastwagen lebte, zum millionenschweren Idol der globalistischen Klasse aufgestiegen ist, ist eine erstaunliche und aufschlußreiche Entwicklung. Die Vergnügungen und Geschmäcker der letzteren haben sich trotz ihrer demokratischen, humanitären und egalitären Rhetorik zum Teil weit von dem entfernt, was für einen Durchschnittsmenschen noch nachvollziehbar ist, und wer den Teufel derart deutlich an die Wand malt, darf nicht erwarten, nur wohlwollende und kunstgeschichtlich informierte Reaktionen zu ernten. Aus dem Eck der Reichen, Schönen, Mächtigen, Kosmopolitischen wirkt das »épater le bourgeois« nicht nur witzlos und überholt, sondern geradezu wie ein Treten nach unten. Den »populistischen« Gegendruck bekam Microsoft deutlich zu spüren, und er hat nicht nur mit Banausentum oder Paranoia zu tun, sondern mit einer deutlichen Entfremdung unterschiedlicher Lebenswelten und Klassen innerhalb sehr ungleicher Machtverhältnisse.