Das Bildungsdesaster kennt jeder, der mit der deutschen Schule zu tun hat. Das Dilemma liegt seit Jahrzehnten offen zutage. Es müßte zu Furor führen, nur wirft sich bisher keine kritische Mehrheit dagegen auf, weil alle gut mit dem faulen Status quo fahren – Bildungsminister, Kultusbürokraten, Lehrer, Schulbuchverlage, sogar die Schüler und deren Eltern. Dies allerdings mit dem Ergebnis eines kaum mehr reparablen Schadens: Das deutsche Bildungssystem stellt seinen Absolventen nominell großzügige, aber an sich ungedeckte Schecks aus.
Mathias Brodkorb ist als einstiger und bisher einzig charismatischer Bildungsminister Mecklenburg-Vorpommerns ein Insider, den es ehrt, daß er am System des verwalteten Mißstands litt, obwohl er eine Zeitlang dessen höchster Verwalter war. Er hat nun gemeinsam mit Katja Koch – Professorin für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung an der Universität Rostock – eine Streitschrift gegen den »Akademisierungswahn« verfaßt. Beide fokussieren ihren Blick in die Bildungslandschaft auf das Abitur, das an zwei grundlegenden Problemen krankt: Zum einen leidet es an Niveauverlust, weil aus politisch motivierten Gründen – Stichwort »Bildungsgerechtigkeit« – immer mehr Schüler das Reifezeugnis erhalten sollen. Das führt zur Entwertung der nichtgymnasialen Schulabschlüsse, mithin dazu, daß dem Handwerk und der Industrie gute Lehrlinge und der Gesellschaft überhaupt die technischen und dienstleistenden Fachleute fehlen.
Um das Massenabitur für etwa die Hälfte aller Schüler zu ermöglichen, wurden über Reformen und Reförmchen die Anforderungen stetig gesenkt, die Leistungen daher schwächer, die Noten jedoch immer besser, so daß die Länder mit der höchsten Abiturientenquote zu jenen mit den schlechtesten Schülerleistungen gehören. An eine Korrektur dieses Etikettenschwindels ist nicht zu denken, weil die notwendige Rekonstruktion eines Abiturs, das wirklich als Reifeprüfung gelten kann, viel zu schmerzlich erschiene. Nachdem Jahrgänge durchgewunken wurden, indem man ihnen ein Abi-Light ausdruckte, würden alle Veränderungen in Richtung höherer Ansprüche als Operation ohne Narkose erlebt. Selbstverständlich streßt das »Abi« die Heranwachsenden, dies aber weniger aus Qualifizierungsdruck, sondern weil all die Quantifizierungen belasten, von der Wahl und Abwahl der Fächer bis zur zahlenmystischen Abrechnung der Kurse und Noten. Das aber lohnt sich: »Deutschland bastelt sich den Super-Abidurchschnitt. (…) Ob sie nun aus taktischen Gründen besser ›nur‹ Biologie wählen, nicht aber Physik, weil sie in ihrem Land nur eines von beiden ›belegen‹ müssen, oder ob sie die miserablen zwei Punkte des Erdkundekurses besser gar nicht ›ins Abi einbringen‹ – mit solchen Überlegungen zerbrechen sich unsere Abiturienten die Köpfe, und zwar desto mehr, je mehr Freiheiten ihnen die Regelungen dafür lassen.« Aber für 99 Cent kann sich jeder eine App herunterladen, die einem die optimale Kombination zeigt.
Zum anderen baut sich ein skandalöses Gerechtigkeitsproblem auf, insofern die Abschlüsse zwischen den Bundesländern überhaupt nicht vergleichbar sind. Die Autoren rufen dafür Günter Germann aus Halle auf, einen Mathematiklehrer, der einen realistischen Beispielfall konstruierte und über die möglichen Fächerbelegungen und Notenverteilungen zu dem Ergebnis fand, »daß der von ihm ersonnene Musterschüler sein Abitur in Hamburg und Berlin mit einer Abiturnote von 2,2 bestanden hätte, in Sachsen mit einem Notendurchschnitt von 2,7 und in Bayern oder Sachsen-Anhalt mit haargenau denselben Noten nicht einmal zur Prüfung zugelassen worden wäre.« So unterschiedliche Ergebnisse verursacht die von Land zu Land verschiedene Handhabung der Berechnung – mit frustrierenden Folgen für die oft ausschließlich vom Notenschnitt abhängende Studienzulassung. Weniger als ein Drittel der Zensuren unterliegen bundesweit einheitlichen Benotungsregeln. Schlechte Noten werden weitgehend neutralisiert: »Wenn Sie Ihre Fächer geschickt gewählt haben und die Noten richtig kombinieren, können Sie in den ›basalen Fächern‹ Mathematik und Deutsch in den letzten vier Schuljahren lauter Fünfen und in der Abiturprüfung sogar glatte Sechsen schreiben und bestehen trotzdem das Abitur.«
Den von der Kultusministerkonferenz selbst festgelegten sehr moderaten Regel-Standard, der von einer Mehrheit erfüllt werden müßte, erreichen in Mathematik nur 25 Prozent, in den Naturwissenschaften 20 Prozent und in Englisch 20 bis 30 Prozent. Da das Fach Deutsch in sich immer beliebiger bzw. degradiert wurde und zum Abitur auch keine Fehlerquoten mehr kennt, fällt es nicht weiter positiv oder negativ ins Gewicht; es verlor einfach seine Bedeutung. Inhalte, geschweige denn ein Kanon gelten als antiquiert, es zählen neuerdings nur »Kompetenzbeschreibungen«: »In einer Wissenschaftlergruppe für das Fach Deutsch wurden nicht etwa Werke ausgewählter Autoren mit darauf je bezogenen Zielvorgaben benannt, sondern lediglich die abstrakten Lernbereiche ›Sprechen‹, ›Schreiben‹, ›Umgang mit Texten und anderen Medien‹ sowie ›Reflexion über Sprache‹. Das war’s. Nein, das ist kein Scherz. Das steht da so. Mehr nicht.«
Die Bildungsministerien und eine ausufernde Kultusbürokratie verwalten diesen katastrophalen Zustand mit euphemistischem Politsprech. So wird etwa mit Hinweis auf das »Zentralabitur« der Eindruck erweckt, es handele sich dabei um anspruchsvolle Prüfungen, aber statt eines Kanons erfand man sich ein »Kerncurriculum«, das die Festlegung konkreter Inhalte gerade vermeiden soll. Ferner erfolgt die Bildungsregie nicht mehr im Sinne einer »Input-Steuerung« durch Lehrpläne, sondern soll als »Output-Steuerung« nurmehr auf die Lernergebnisse ausgerichtet sein. Diesen »Output« beurteilen die von der KMK herbeigezogenen Wissenschaftler anhand von »Bildungsstandards«, die angeblich der Sicherung inhaltsübergreifender »Kompetenzen« dienen. Wiederum ist das besonders deutlich in den »Bildungsstandards« des Faches Deutsch zu erkennen: »Statt einer Einigung auf bestimmte Werke oder Werkauszüge (…) wird rein formal das Ziel ausgegeben, sich mit literarischen Texten auseinandersetzen zu können. Das Dumme ist nur, daß es mit dem Können nicht immer so leicht ist. Denn ohne verfügbares Wissen entsteht auch kein praktisches Können.«
Für die kompetenzorientierte Bildungsforschung wurde eigens das »Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen« geschaffen. Gemessen daran, was es bringen kann und überhaupt bringen darf, ein Millionengrab für Steuergelder. Das Institut befaßt sich unter anderem aufwendig mit einem bundesweiten Aufgabenpool für Abiturprüfungen, das von den Ländern allerdings nur mit geringem Zugriff und dabei stark modifiziert genutzt wird, um weiterhin bei der »Mogelpackung Zentralabitur« niemanden zu überfordern und möglichst alle durch die Prüfungen zu winken. »Ein Abiturbetrug, ersonnen, um der Bevölkerung Aktivitäten vorzutäuschen, die deren bildungspolitischen Erwartungen entsprechen. Allerdings geschieht das nur zu einem Zweck: um die heilige Kuh des Bildungsföderalismus gegen den Willen der Bevölkerung vor ihrer Schlachtung zu bewahren.«
Der Skandal besteht gerade darin, daß die sogenannte offene Gesellschaft, die Demokratie in Gegenwart und Zukunft nicht zu regulieren vermag, was im Sinne einer ganz prinzipiellen Veränderung dringlichst reguliert werden müßte, damit Deutschland nicht vollends verliert, was es einst geradezu als Kulturnation kennzeichnete – umfassende Bildung nämlich, die durch Leistung, Fleiß und gründliches Üben errungen wird. Als Grund für den Systemschaden machen die Autoren völlig richtig das System selbst aus – in Gestalt des »als eine Art Lebensversicherung der Demokratie inszenierten« Bildungsföderalismus, der angeblich, als Lehre aus den Verbrechen des Nationalsozialismus, einer zentralstaatlichen Diktatur vorbeuge, zudem Vielfalt und sogar Wettbewerb garantiere. Die Autoren weisen nach, wie absurd diese Argumente sind, und zeigen, welche Steuergeldverschwendung und vor allem welchen Verlust kultureller Bestände dieser hochgehaltene Föderalismus verursacht.
Was ist zu ändern? Zunächst: Zwanzig Prozent Abiturienten wären genug. Den besonders Talentierten bliebe das Gymnasium vorbehalten, das dann ohne bisherigeVerrenkungen auskäme; die anderen Schularten erfreuten sich klügerer Schüler, die schwächere mitzögen und denen die Grundlagen für technische und Industrieberufe vermittelt würden. Damit erschienen die nichtgymnasialen Schulen aufgewertet und kämen aus dem Stigma der Resteschulen heraus. Ferner bräuchte es einen Bildungskanon, der klare Verbindlichkeiten festschriebe. Mit einheitlichen Plänen und Stundentafeln wäre für ein genau vereinbartes Anforderungsniveau und für nachvollziehbare Bewertungsmaßstäbe gesorgt, die Abschlüsse endlich vergleichbar gestalteten. Zentrale Abschlußprüfungen, ein leistungsabhängiger Übergang in den gymnasialen Bildungsgang und letztlich die einheitliche Lehrerbildung stellten genau die Gerechtigkeiten her, die der Bildungsföderalismus ständig verspricht, aber nicht zu gewährleisten versteht. Gut – all die Institute, Studien, die vermeintlichen Qualitätssicherer und Dauerreformen bräuchte es dann nicht mehr, was insofern problematisch ist, als daß in diesen Bereichen eben jene Kräfte agieren, deren fragwürdige Beschäftigung teuer bezahlt wird und die daher ein starkes Beharrungsvermögen entwickeln und sich mit den genannten Totschlagargumenten gegen das große Aufräumen und die notwendigen Klärungen sperren.