Seit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 hat sich offiziell die Auffassung durchgesetzt, mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 seien die Deutschen befreit worden. Der entscheidende Satz von Weizsäckers lautete: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.
«Das, was für den früheren Bundespräsidenten – und für alle etablierten Parteien in Deutschland – als »Befreiung« gilt, sah General Dwight D. Eisenhower, im Zweiten Weltkrieg alliierter Oberkommandierender in Nordwesteuropa und nach Kriegsende der US-Besatzungstruppen in Deutschland, gänzlich anders. Er stellte ausdrücklich fest: »Deutschland wird nicht besetzt werden zum Zweck der Befreiung, sondern als besiegte Feindnation.« Eindeutiger Beleg dafür, daß weder die Alliierten im allgemeinen noch die US-Amerikaner im besonderen als Befreier nach Deutschland kamen, ist die anfangs von ihnen verfolgte Besatzungspolitik. Dabei bildete das vom berüchtigten Morgenthau-Plan geprägte Dokument mit der Bezeichnung »JCS 1067« die Grundlage. Dahinter verbirgt sich die Direktive der »Joint Chiefs of Staff« (JCS, vereinigte Stabschefs) an den Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen in Deutschland, die – bis Mai 1945 mehrfach überarbeitet – schließlich durch das Potsdamer Abkommen im August 1945 obsolet wurde. In der JCS 1067 findet sich der oben zitierte Satz Eisenhowers.
Wesentliche Punkte der Direktive waren zum einen das Fraternisierungsverbot und zum anderen die Senkung des Lebensstandards der deutschen Bevölkerung auf den niedrigsten europäischen Standard. Folge war eine um sich greifende Hungersnot, die noch nicht einmal durch Hilfslieferungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz oder von der UN-Hilfsorganisation zur Unterstützung von Flüchtlingen und Verschleppten gemildert werden durfte. Während Briten und Franzosen sich ab Jahresende 1945 über dieses US-Verbot hinwegsetzten, ließen Amerikaner und Sowjets Lebensmittellieferungen noch während des strengen Winters 1945 / 46 zurückgehen. Infolge des Hungers und des Mangels an Kohlen zum Heizen kamen in den vier Besatzungszonen bis 1948 rund vier Millionen Menschen ums Leben.
General Lucius D. Clay, von 1947 bis 1949 Militärgouverneur der US-Besatzungszone, verglich in seinen Memoiren später die Härten der ersten Phase der Besatzungspolitik mit der Behandlung Karthagos durch die siegreichen Römer nach dem Dritten Punischen Krieg. Die antike Stadt wurde 146 v.Chr. dem Erdboden gleichgemacht, die Bewohner wurden in die Sklaverei verkauft.
Menschenverluste – Nachkriegsverluste definierte das Statistische Bundesamt in seiner Dokumentation über die deutschen Vertreibungsverluste als diejenigen Menschenopfer, die nach dem Ende der Kampfhandlungen in Deutschland am 8. Mai 1945 in den betreffenden Gebieten zu verzeichnen waren. Das betraf nicht nur deutsche Zivilisten, sondern auch Menschen zahlreicher anderer Nationen: Kriegsgefangene der alliierten Staaten, Ost- und Zwangsarbeiter, Angehörige der vielen »fremdvölkischen« Verbände der Wehrmacht, »Hiwis«, Kosaken und ihre Familien.
Die im Potsdamer Abkommen festgelegte Vertreibung fast aller Deutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten östlich der Oder und Neiße, aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien usw. betraf rund 13,8 Mio. Menschen. Zirka drei Millionen von ihnen kamen dabei ums Leben.
Auch für die in Gefangenschaft geratenen Soldaten war die Lebensgefahr nach Kriegsende nicht beendet. Viele kamen zu Tode aufgrund unmenschlicher Zustände in alliierten Gefangenlagern (»Rheinwiesenlager«), starben auf Märschen in die Gefangenschaft an Entkräftung oder durch Gewalt des Wachpersonals, wurden sofort nach Gefangennahme durch russische Bewacher erschossen, verloren ihr Leben durch Mangelernährung, Zwangsarbeit und Krankheiten in Lagerhaft.
Die Angaben über die Kriegsgefangenenzahlen sind uneinheitlich. Deutsche Statistiken gehen von etwa elf Mio. deutschen Kriegsgefangenen bei Kriegsende aus. Die Masse von ihnen geriet erst in der letzten Kampfphase von März bis Mai 1945 in alliierten Gewahrsam. Davon befanden sich 3,6 Mio. in britischen, 3,09 Mio. in US- und 3,06 Mio. in sowjetischen Lagern. Jüngste russische Veröffentlichungen behaupten, im Verlauf des Krieges seien sogar 3 576 300 Angehörige der Wehrmacht in sowjetische Gefangenschaft geraten. Davon seien allerdings nur 442 100 in Lagerhaft ums Leben gekommen und 2 910 400 in die Heimat zurückgekehrt.
Nach dem von Erich Maschke, dem Leiter der wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte, herausgegebenen mehrbändigen Werks, Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, sind dagegen während des Krieges durchschnittlich 60 bis 70 Prozent der Gefangenen in sowjetischem Gewahrsam umgekommen. Nach Kriegsende hätten etwa 20 bis 25 Prozent den Tod gefunden. In den Jahren 1945 bis 1947 könne von einer Fortsetzung erhöhter Lebensgefahr für die Kriegsgefangenen gesprochen werden, wie sie bereits während des Krieges bestand. Danach sei die Todeskurve deutlich abgesunken und habe 1949 den Normalstand erreicht. Insgesamt seien etwa 1,1 bis 1,33 Mio. Gefangene in russischen Lagern gestorben.
Über die Zahl der in US-Haft umgekommenen deutschen Soldaten ist nach den Veröffentlichungen von James Bacque ein Historikerstreit ausgebrochen. Während der Kanadier die Todesfälle in den US-Camps in Deutschland auf 576 000 bis 793 000 Opfer schätzt, kommt Rüdiger Overmans lediglich auf 22 000 Tote. Andere Forscher veranschlagen die Zahl der Toten in US-Lagern auf 40 000 bis 200 000. Der Grund für die unterschiedlichen Angaben ist, daß die US-Armee keine sorgfältige Zählung ihrer Gefangenen durchführte und keine Stelle zur Koordinierung ihrer Arbeit einrichtete.
In Frankreich starben 115 000 von 937 000 Gefangenen vor allem durch Mangelernährung und Zwangsarbeit, beim völkerrechtswidrigen Einsatz bei der Minenräumung und an Seuchen. Viele Kriegsgefangene sahen im Eintritt in die Fremdenlegion die einzige Überlebenschance. Bald bestand die Legion zu 60 Prozent aus Deutschen, die ihr Leben dann vielfach auf den Schlachtfeldern Indochinas und Algeriens ließen.
Am schlechtesten erging es den Kriegsgefangenen in Jugoslawien. Von 194 000 gefangenen Deutschen starb rund die Hälfte, höchstwahrscheinlich sogar 100 000.
Heinz Nawratil macht in seinem Buch Die deutschen Nachkriegsverluste folgende Bilanz der Verluste an deutschen Gefangenen unter der Herrschaft der einzelnen Mächte auf: Sowjetunion – 1,33 Mio.; Frankreich – 115 000; Jugoslawien – 100 000; USA – 75 000; Polen und ČSSR – 22 000; macht insgesamt 1,647 Mio. Umgekommene.
Hinzu kamen zahlreiche weitere Opfer durch Verschleppung zur Zwangsarbeit, durch Massensuizide, willkürliche Erschießungen und Morde. In den Konzentrationslagern in der Sowjetischen Besatzungszone starben etwa 100 000 Menschen. Schwierig ist die Zuordnung von Opfern, wenn es um die alliierte Hungerpolitik nach 1945 geht. Heinz Nawratil beziffert sie auf etwa vier Millionen und kommt damit auf eine Gesamtzahl von 8,8 Mio. Deutschen, die nach dem 8. Mai ihr Leben lassen mußten. Aber selbst dann, wenn man diese Zahl um drei Millionen Opfer reduziert und den Hunger nicht als absichtsvolle Methode, sondern als furchtbare Begleiterscheinung im Nachkriegschaos wertet: Ausgehend von 5,14 Mio. deutschen Kriegsopfern – Opfer des NS-Terrorregimes, Opfer des Bombenkrieges und Gefallene – ergibt sich, daß nach Kriegsende mehr Deutsche sterben mußten als während des Krieges.
Territoriale Verluste – Auf der Londoner Konferenz vom 12. September 1944 wurde festgelegt, daß Deutschland – wie es in den Grenzen vom 31.Dezember 1937 bestanden hat – zum Zwecke der Besatzung in drei Zonen eingeteilt wird, von denen je eine einer der drei Mächte – Großbritannien, UdSSR, USA – zugewiesen wird, und in ein besonderes Berliner Gebiet, das der gemeinsamen Besatzungshoheit der drei Mächte unterworfen wird. Dieses Abkommen trat mit der Kapitulation der Wehrmacht in Kraft.
Seine endgültige Form erhielt der Teilungsplan mit dem Potsdamer Protokoll vom 2. August 1945. Frankreich wurde zusätzlich einbezogen und erhielt sein Besatzungsgebiet von den USA und Großbritannien durch Verkleinerung ihrer Zonen und Sektoren. Das Londoner Protokoll hatte eine Unterstellung Ostdeutschlands – Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien – unter fremde Verwaltung noch nicht vorgesehen. Erst im Potsdamer Protokoll wurde Ostdeutschland aus der der Sowjetunion zugewiesenen Ostzone herausgelöst und polnischer und russischer Verwaltung unterworfen. Damit wurde Ostdeutschland de facto von Polen bzw. der Sowjetunion annektiert.
Die deutsche Bevölkerung war in der Masse entweder mit Einmarsch der Roten Armee geflüchtet oder nach der Besetzung von den neuen Machthabern vertrieben worden. Deutschland verlor damit 114 296 Quadratkilometer (24,26 Prozent) von den 471 159 Quadratkilometern des Territoriums von 1937. Im einzelnen waren das Ostpreußen mit 36 996 Quadratkilometer, Pommern mit 31 301 Quadratkilometer, Ostbrandenburg mit 11 329 Quadratkilometer, Schlesien mit 34 529 Quadratkilometer und ein Zipfel Ostsachsens mit 142 Quadratkilometer.
Hinzu kommen die Gebiete Ostdeutschlands, die aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages 1918 / 19 abgetreten werden mußten und 1937 völkerrechtlich nicht zu Deutschland gehörten, aber mehrheitlich von Deutschen bewohnt und ab 1938 wieder ins Deutsche Reich eingegliedert wurden: das Memelgebiet mit 2 656,7 Quadratkilometer, Westpreußen mit 25 578 Quadratkilometer, die Freie Stadt Danzig mit 1914 Quadratkilometer, das nach der Teilung Oberschlesiens am 21. Oktober 1921 an Polen gefallene Gebiet mit 3214 Quadratkilometer.
Das bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörende, mehrheitlich von Deutschen bewohnte Sudetenland war nach einem Viermächteabkommen zwischen Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien am 1. Oktober 1938 aus der Tschechoslowakei herausgelöst und an Deutschland abgetreten worden. Dieses Gebiet mit 28 943 Quadratkilometer kam 1945 wieder zur Tschechoslowakei zurück.
Ein abgewendeter Verlust – Im Westen wurde das Saarland mit 1926 Quadratkilometer der französischen Besatzungszone zugeteilt, aber 1946 von Frankreich mit dem Ziel der Annexion aus seiner Besatzungszone ausgegliedert. Nach der von der Besatzungsmacht initiierten Verfassung des Saarlandes war das Gebiet seit dem 17. Dezember 1947 ein von Deutschland gelöstes Land und als »Autonomes Saarland« dem französischen Wirtschafts- und Währungsgebiet angeschlossen. 1954 vereinbarten Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Ministerpräsident Pierre Mendès France, daß nach vorheriger Volksabstimmung ein europäisches »Saarstatut« innerhalb der Westeuropäischen Union verabschiedet und das Saarland endgültig von Deutschland getrennt werden sollte. Die Bevölkerung allerdings lehnte am 23. Oktober 1955 das Saarstatut mit 67,7 Prozent der Stimmen ab. Am 1. Januar 1957 trat das Saarland als zehntes Bundesland der Bundesrepublik Deutschland bei.
Kultur‑, Technik- und Wissensverluste – Während der Kriegsjahre hatten deutsche Forscher wichtige Entdeckungen auf vielen Gebieten, vor allem im Bereich der Militärtechnik, gemacht, mit denen sie ihren Kollegen auf Feindseite weit voraus waren. Die bekanntesten Projekte sind wohl Düsentriebwerke und Raketentechnik.
Mit Einmarsch der alliierten Kampfverbände in Deutschland folgten ihnen auf dem Fuße Spezialtruppen mit der Bezeichnung CIOS (Combined Intelligence Objectives Sub-Commitee). Sie gehörten zur Joint Intelligence Objectives Agency (JIOA) und sollten die »Operation Paperclip« durchführen. Es handelte sich dabei um ein großangelegtes Unternehmen, um geistiges Eigentum zu sichten und gegebenenfalls zu beschlagnahmen. Die CIOS-Spezialisten waren Techniker und Wissenschaftler, die in über 33 000 deutsche Fabriken, Universitäten, Laboratorien, Bibliotheken und Büros eindrangen und tonnenweise Dokumente, Materialproben, Warenzeichen, Patentschriften und Maschinen beschlagnahmten, deutsches Spitzenpersonal verhörten und verschleppten. Allein im Reichspatentamt wurden 186 000 Akten entwendet. Besonders begehrt waren Unterlagen zur Herstellung von synthetischem Treibstoff, Gummi und Schmieröl, Kunstfasern für Textilien, Plastik, Dieselmotoren, Optiken, Druckpressen, Infrarot-Zielgeräten, Insektiziden, künstlichem Blutplasma usw. Der größte Teil des entwendeten Materials hatte nichts mit Rüstung und Kriegswesen zu tun. Der Wert aller Beschlagnahmungen belief sich auf rund 30 Mrd. DM (Stand 1952).
Reparationen – Die Besatzungsmächte entnahmen aus ihren Zonen Sachwerte als Reparationen. Aus den Westzonen wurden bis 1947 Kohlen im Wert von 200 Mio. Dollar (Stand 1938) und Holz exportiert. Aus Industriedemontagen und deutschen Auslandsvermögen gewannen sie 520 Mio. Dollar. Aus der Ostzone demontierte die UdSSR Maschinen und Anlagen im Wert von 1,6 Mrd. Dollar. Hinzu kamen Holzeinschlag, Reparationen aus der laufenden Produktion, Gleisabbau, enteignete Lokomotiven usw. Der Gesamtwert aller Reparationen für den Zeitraum 1945 bis 1950 belief sich auf 10,7 Mrd. Dollar.
Kulturraub – Die Menge der nichtkriegsbedingten Verluste an deutschem Kulturgut ist riesengroß. Bemerkenswert ist, daß nach der Kapitulation mehr verlorenging als durch die Kriegsauswirkungen selbst. Bekannte Beispiele sind die Originalhandschrift des »Liedes der Deutschen« von Hoffmann von Fallersleben, die jetzt in Polen ist oder der durch Heinrich Schliemann ausgegrabene »Schatz des Priamos«, der dem Bestand des Eremitage-Museums im damaligen Leningrad einverleibt wurde. Aber nicht nur Sowjetsoldaten bis hinauf zu Marschall Georgij Schukow plünderten deutsche Kulturgüter und verschleppten sie in die UdSSR, auch die Westalliierten machten wertvolle Beute.
Der Quedlinburger Domschatz wurde 1945 durch einen US-Offizier geraubt. Nach seinem Tod wollten die Erben das Diebesgut versilbern und boten es der deutschen Kulturstiftung der Länder an, die es 1990 / 91 für etwa 2,6 Mio. Dollar zurückkaufte. Mutmaßlich US-Soldaten entwendeten Originalhandschriften Martin Luthers, das Manuskript zu Robert Schumanns Zweiter Sinfonie und aus Schloß Schwarzenburg zwei Porträts von Albrecht Dürer, Werke von Franz von Lenbach, Caspar David Friedrich und Lukas Cranach d. Ä.
Die von Weimar in einen Bunker bei Jena gebrachten Zinksärge Goethes und Schillers waren von US-Soldaten aufgebrochen worden; die sechs auf Goethes Brust befindlichen Orden wurden gestohlen. Ende April 1945 plünderten Angehörige der 83. US-Infanterie-Division Kunstdepots im Kloster St. Florian in Österreich und entführten auf fünf Lastern wertvolle Gemälde, antike Möbel und einen keltischen Goldschatz. Die Handschrift des Hildebrandsliedes, des ältesten germanischen Heldenliedes in deutscher Sprache, entwendeten US-Soldaten 1945 aus Bad Wildungen.
Der materielle Wert des wohl für immer verlorenen deutschen Kulturgutes ist unermeßlich. Viel größer ist allerdings der ideelle Wert. Einzelne Soldaten rauben, um sich persönlich zu bereichern. Siegermächte rauben, um Selbstbewußtsein und Identität des besiegten Volkes zu beschädigen. Das Verhalten der Alliierten nach dem 8. Mai 1945 zeigt deutlich, daß Deutschland nicht besetzt wurde zum Zweck der Befreiung, sondern als besiegte Feindnation.