Die Entschleierung oder Entzauberung der Welt war ein Ziel der Aufklärung. Die Verschleierung hingegen ist eine Praxis, die nach dem schwindenden Sieg der Aufklärung wieder an Bedeutung gewinnt und die auch unter der Bezeichnung Political Correctness bekannt ist. Das dabei betriebene Verwirrspiel und seine Mechanismen sind uralt, und es beginnt mit der Präsentation der Akteure – insbesondere mit geschönten Biographien führender Politiker. Die Vorgehensweisen hinter diesen Lebensbeschreibungen gleichen sich und können lange zurückverfolgt werden. Ein Anfangspunkt für ein besseres Verständnis ist in den Heiligenlegenden zu finden. Der politische Bezug der Hagiographien erschließt sich unmittelbar: Der Begründer der modernen PR, Edward Bernays (1891 – 1995), wies darauf hin, daß sich unser Wort Propaganda von der katholischen Congregatio de propaganda fide herleitet, deren Aufgabe im 17. Jahrhundert die Verbreitung des katholischen Glaubens gewesen war.
Das Leben der kirchlichen Heiligen wird traditionell in propagandistisch aufbereiteten Biographien beschrieben, den sogenannten Hagiographien. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, aus dem Gründer des Jesuitenordens, dem ungebildeten und fanatischen Kriegskrüppel Ignatius von Loyola, ein körperlich unversehrter, vom Heiligenschein umgebener Ordensführer von überragender Weisheit. Dieses Konzept hatte bereits in der Antike ein Vorbild. Sargon von Akkad (um 2300 v. Chr.), der mutmaßliche Sproß einer Tempelhure, stilisierte sich zum Sohn einer Jungfrau. Er löste damit eine wahre Flut von fiktionalen Biographien antiker Götter und gottgleicher Menschen aus, die von Jungfrauen geboren worden sein sollen. Die Liste umfaßt bekannte Namen wie Herakles, Mithras, Dionysos oder Adonis. Dieses so vorgeführte Konzept der Hagiographie fand stets sein Abbild im politischen Bereich: Die Vorstellung von der Gottgleichheit oder wenigstens Gottesgnade der herrschenden Klasse wurde möglichst widerspruchslos erzählt, um den gemeinen Sterblichen die psychischen und physischen Defekte des Adels zu verschleiern und diese mit Legenden zu umgeben, die denen der Heiligen nicht unähnlich waren.
Das Motiv der Verschleierung der Herkunft war mit der Propagierung der Jungfrauengeburt in die Welt gesetzt und fand in der Neuzeit eindrücklich Anwendung in der offiziellen Darstellung der Abstammung Napoleons. Dank mächtiger Helfer aus dem Kreis des Salons der Kurtisane Madame Tallien konnte er seine Herkunft aus den Tiefen der korsischen Unterschicht verschleiern. Das Potential für legendenhafte Überhöhungen war gegeben, denn wie Apollon, der von einer Insel kam, hatte auch Napoleon drei Schwestern. Mit der magischen Anzahl von zwölf Marschällen war Napoleon Herr über eine wiedererstandene Tafelrunde des weisen Herrschers Artus. Der Prototyp der modernen politischen Hagiographie war geboren.
In Deutschland war es Adolf Hitler, dessen offizielle Biographie unter den Aspekten der politischen Hagiographie publiziert wurde. Die verworrene Familien- und Herkunftsgeschichte Hitlers wurde verschleiert. Bis heute ist unklar, ob Adolfs Mutter Klara auch Adolfs Cousine war. Ganz typisch für diesen Typus der Hagiographie ist das Schweigen der frühen sozialen Kontakte des zentralen Akteurs. Aussagen, die zu einer Vermenschlichung führen würden, müssen unterdrückt werden, um die Legende nicht zu beschädigen.
Der bürgerliche Name und seine Abwandlungen gewannen als Symbol oder Markenzeichen im medial geprägten 20. Jahrhundert mit der Abschaffung der Adelstitel zunehmend an Bedeutung. Die Macht von Sprache und Wort – das alte hermeneutische Prinzip des altägyptischen Thot wurde wichtiger denn je. Worte bedeuteten im alten Ägypten Leben, und die Streichung eines Namens auf Monumenten kam ewiger Verdammnis gleich. Basierend auf diesem Prinzip, wurden im 20. Jahrhundert Namen von Politikern nun zu Programmen. Namenswechsel gaben einer Person neues Leben.
Der unter seinem Kampfnamen Lenin bekannt gewordene Wladimir Iljitsch Uljanow, dessen Bruder als Revolutionär in einem Hof der schaurigen Schlüsselburg im Ladogasee hingerichtet worden war, wo noch heute ein Apfelbaum an das Geschehen erinnert, unternahm viel, um seine Herkunft aus dem niederen Adel ebenso zu verschleiern wie die Identitäten seiner kapitalistischen Geldgeber. Während Lenin als Prototyp des ewigen Revolutionärs sämtliche Klischees in diesem Genre bediente, strebte sein Nachfolger Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili nach mehr. Als Josef Wissarionowitsch Stalin ließ sich der kleinkriminelle Sohn eines Schusters als »Väterchen Stalin« feiern und verehren. Sein Personenkult ersetzte die Anbetung der Heiligen in den unter seiner Schreckensherrschaft geschlossenen orthodoxen Kirchen und Klöstern.
Ein überraschender Personenkult existiert im Zusammenhang mit Winston Churchill, einem dem Alkohol zugeneigten Spieler, dessen politische Hagiographen seine Verantwortung für die Hungerkatastrophe von 1943 in der britischen Bengal Presidency Nordindiens bis heute vehement bestreiten. An seinem Geburtsort, dem Schloß Blenheim, existiert eine Ausstellung über seine Kindheit, die den Staatsmann in die Nähe des heilsbringenden Kindes rückt, was auf manche Besucher befremdlich wirkt. Churchill hatte sich mit der Übernahme des symbolischen Handzeichens der englischen Langbogenschützen des ewigen Heldenmythos von Agincourt bemächtigt. Er war kein mit heiligem Öl gesalbter König, sondern, wie einst der legendenumwobene Robin Hood, ein einfacher Adliger, der das Volk vor der sicheren Knechtschaft durch fremde Mächte errettete. Mit der Einverleibung dieser wirkmächtigen Mythen war der Weg zur Heldenverehrung geebnet.
Herbert Ernst Karl Frahm, in zerrütteten Familienverhältnissen bei seiner ungeliebten Mutter aufgewachsen, nahm mit dem Namen Willy Brandt auch eine neue Identität als sozialistischer Freiheitskämpfer an, die es seinen Biographen ermöglichte, einige weniger schöne Passagen und Neigungen aus seinem Leben zu übertünchen. Brandts Wirken als Freiheitskämpfer war weder von Heldentum oder Aufopferung noch von besonderen Erfolgen gekennzeichnet. Eine Spur von zerrütteten Beziehungen kennzeichnete diese Phase. Als Regierender Bürgermeister in West-Berlin bot sich ihm endlich die Chance, medial wirksam in Erscheinung zu treten. Politische Botschaft und Name verschmolzen bei Brandt schließlich zu einer neuen Symbiose. Inhalte traten hinter der messianischen Figur als zweitrangig zurück.
Joseph Martin Fischer, der sich Joschka nennt, versuchte, seine linksradikale und militante Vergangenheit mit dem Nimbus des verkannten Intellektuellen zu überhöhen, der sich heimlich in Vorlesungen der Frankfurter Schule schlich. Mit dem Bruch der bisherigen Kleiderordnung im Bundestag signalisierte Fischer den Anbruch einer neuen Phase. Fischers Turnschuhe sollten auf den jugendlichen Elan hinweisen und wurden zu einem Symbol für den Angriff auf die alte Ordnung. Der ehemalige Taxifahrer, der sich in seiner Jugend an den Geschichten über den Henker von Paris ergötzt hatte, vollendete seine Metamorphose endgültig mit der Mutation hin zum Zerrbild eines professoralen Welterklärers mit den passenden Attributen (dreiteiliger Anzug und Hornbrille).
Das Ende des Kalten Krieges mit dem Zusammenbruch der bis dato gültigen Weltordnung, schuf auch in Westeuropa einen neuen Typus an Politikern, die ihre eigenen Hagiographien pflegen. Ein Beispiel gibt der ewige Musterschüler Emmanuel Macron mit der mütterlichen Lehrerin an seiner Seite. Zusammen ergeben sie das Bild der Jungfrau mit dem Kinde, was Macron ebenfalls in die Position des Heilsbringers rücken soll. Ein anderes Beispiel ist die Darstellung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihr Vater, Horst Kasner, der eigentlich Horst Kazmierczak hieß und der die Englisch- und Lateinlehrerin Herlind Jentzsch geheiratet hatte, ging mit seiner jungen Familie als Märtyrer freiwillig in die Knechtschaft der SBZ. Hier wuchs die in Hamburg geborene Tochter Angela, also die Engelsgleiche, im Waldhof bei Templin auf. In der Abgeschiedenheit des Waldes, in dem heiligen Ort der Germanen, dem Wald der Wunder, der Märchen und dem Rückzugsort der weisen Frauen, wuchs sie auf. Danach begann die Verschleierung durch Namenswechsel, von Kazmierczak über Kasner zu Merkel. Ein Leben im Elfenbeinturm der physikalischen Chemie folgte, welches zwar wenig wissenschaftlichen Output erbrachte, aber als biographisches Element von unschätzbarem Wert ist. Ihre Dissertation, die sie als Physikerin im Fach Chemie vorlegte und deren überwiegende Quellen amerikanischen Ursprungs sind, die damals in diesem Umfang in der DDR eigentlich nicht vorhanden waren, unterstreicht ihre geistige Überlegenheit. Die Ehe mit Joachim Sauer, einem der wenigen DDR-Forscher, der in die USA reisen durfte und der Merkels Dissertation kritisch durchsah, eröffnete die Möglichkeit für einen weiteren Namenswechsel, der jedoch ausblieb. 2017 stellte sie sich dem NSA-Untersuchungsausschuß sogar als Angela Dorothea Kasner vor.
Trotz des langen Aufenthalts in akademischen Kreisen finden sich in Merkels Wortschatz bemerkenswerterweise keine Redewendungen, Ausdrücke oder anderen verbalen Bezüge, die eine besondere Nähe zu den Naturwissenschaften nahelegen. Diese Loslösung von jedem wissenschaftlichen Gedankengut erlaubt ein volksnahes Auftreten und in politischen Entscheidungen die vollständige Negation wissenschaftlicher Realitäten.
Es war am Abend des Mauerfalls 1989, den Angela in der Sauna verbrachte. Dies war die Geburtshöhle der Politikerin. Hier vollzieht jene Angela das Ritual der Enthüllung und erscheint dann jenseits der alten Grenzen als etwas Neues. Was folgte, war die Vertreibung aus dem sozialistischen Paradies, in dem ihr Vater Zuflucht gesucht hatte. Ihren Aufstieg auf der Bühne der Politik verdankte sie ihrem Lehrer der politischen Magie, dem Übervater Helmut Kohl. Nun konnten die Stufen der Wandlung einsetzen. Zu diesen Wandlungen gehörte die Rolle Merkels als Erlöserin, indem sie Deutschland vom Atomstrom befreite. Man könnte dies so interpretieren, daß der Entscheid im Sinne der politischen Hagiographie und gegen naturwissenschaftliche Logik fiel. In einer weiteren Wandlungsstufe stieg Merkel hagiographisch zur Heilsbringerin auf, indem sie 2015 die Grenzen Deutschlands öffnete und gleich mehrere Rollen einnahm. Eine war die paradoxe Rolle der kinderlosen Mutter oder »Mutti«, als die sie bereits zuvor betitelt worden war. Im Zuge der Grenzöffnung 2015 stieg sie jedoch endgültig zur Magna mater auf, die in der Antike auch als Kybele verehrt worden war. Der Höhepunkt des historischen ekstatischen Kybele-Kultes war übrigens die öffentliche Selbstentmannung der Kybele-Anbeter. Ein Phänomen, das zumindest im übertragenen Sinn beobachtet werden kann.
Der Triumph Merkels war damit nicht abgeschlossen. Denn so, wie es ihr gelang die östliche und westliche Hemisphäre in der Flüchtlingskrise scheinbar zu einigen, wurde sie zur modernen Kleopatra. Das hagiographische Steigerungspotential ist auf dieser Stufe nur noch gering – doch gelang Merkel eine weitere Wandlung, nämlich hin zur Ariadne, die dem Volk den Weg aus dem Labyrinth der Corona-Pandemie weist. In der womöglich seit Jahren durchgeplanten Covid-19-Inszenierung erreicht Merkel sogar den Status der Erleuchtung. Wie ein Buddha in sich ruhend, entscheidet sie, wem sie ihre Weisheit zukommen läßt. Nicht immer sind die Ministerpräsidenten erlaucht genug, dieser Weisheit teilhaftig zu werden. Eine wunderbare Krönung dieser Hagiographie.
Ein wesentliches Element jeder Hagiographie sind die Attribute und die Gesten des Akteurs. Auch hier gibt es bei Merkel einen unverwechselbaren Gestus. Es ist die mit den Händen geformte Raute, die als alchimistisches Symbol für die Erde nach unten weist und die starke Erdverbundenheit Merkels unterstreicht. Wer einen Heiligkeitsstatus wie Angela Merkel erreicht hat, darf sich nicht allein mit nationalen Symbolen begnügen. Vor diesem Hintergrund dürfte es niemanden verwundert haben, wie zornig Merkel ihrem damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe im September 2013 auf einer Wahlparty vor laufenden Kameras eine Deutschlandfahne entriß, um sie am Bühnenrand zu entsorgen. Das war ein Akt von hoher symbolischer Tragweite.
Als Gegenspieler im Sinne des ahrimanischen Prinzips erhielt die Lichtgestalt Merkel den US-Präsidenten Donald Trump – beide werden dargestellt wie mithräische Fackelträger. Merkel wird dank Trump zu einer noch helleren Erscheinung. Umkreist werden die beiden vom dämonisierten russischen Staatspräsidenten Putin, der hier die Trinität komplettiert. Künftige Politiker werden es schwer haben, eine vergleichbare Hagiographie zu konstruieren.
In der Zusammenschau stellt sich die Frage, was das Konzept der politischen Hagiographie ermöglicht, außer der Verschleierung vermeintlicher oder tatsächlicherDefizite des überhöht präsentierten Politikers, und warum es verwendet wird. Die Erklärung liegt darin, daß dieses Ablenkungs- und Erhöhungsmanöver Möglichkeiten in der Politik eröffnet, die den Akteuren sonst verwehrt wären. Willy Brandt wirkte aufgrund seiner verbreiteten Biographie authentisch bei seinem Kniefall in Warschau, der es unter anderem erlaubte, Augenzeugenberichte von Greueltaten an Deutschen unauffällig in den Archiven verschwinden zu lassen. Brandts Tragik ist es, daß der Legendenumwobene selbst von einem Mann mit Legende zu Fall gebracht wurde: Günter Guillaume. Barack Obama erhielt mit dem Attribut des Friedensnobelpreisträgers freie Hand für den nahezu uneingeschränkten Drohnenkrieg. Merkel blieb selbst in der Entscheidungslosigkeit unantastbar.