Elf Fragen zur kommenden Krise

von Guillaume Travers --PDF der Druckfassung aus Sezession 97/ August 2020

Die wäh­rend zwei­er Mona­te über die Bevöl­ke­rung ver­häng­te Aus­gangs­sper­re kann als Vor­zei­chen eines bei­spiel­lo­sen wirt­schaft­li­chen Zusam­men­bruchs gedeu­tet wer­den. Durch die bei­na­he völ­li­ge Ein­stel­lung der Pro­duk­ti­ons­ak­ti­vi­tä­ten ist ein gan­zes Geflecht von Klein­be­trie­ben und Geschäf­ten bedroht: jene Infra­struk­tur also, die in guten wie in schlech­ten Zei­ten den klei­nen Leu­ten den Lebens­un­ter­halt sichert. Ohne der apo­ka­lyp­ti­schen Ver­su­chung zu erlie­gen, wol­len wir eini­ge Hin­wei­se für eine mög­li­che Inter­pre­ta­ti­on der neu­en wirt­schaft­li­chen, sozia­len und geo­po­li­ti­schen Lage herausarbeiten.

1. Wie vie­le Unter­neh­men sind bankrott?

In einer sei­ner im Fern­se­hen über­tra­ge­nen Anspra­chen ver­kün­de­te Emma­nu­el Macron, daß »kein Unter­neh­men dem Insol­venz­ri­si­ko aus­ge­setzt sein wird«. Das ist aber allen­falls ein from­mer Wunsch. Auch wenn die ange­kün­dig­ten Maß­nah­men (Kurz­ar­beit etc.) rela­tiv groß­zü­gig sind, wer­den sie Hun­dert­tau­sen­de von Betrie­ben, die so schon kaum über die Run­den kom­men, nicht ret­ten kön­nen. Dies gilt um so mehr, als vie­le von ihnen selbst bei einer Wie­der­eröff­nung ihr Umsatz­ni­veau kaum errei­chen dürf­ten: Auch wäh­rend der kom­men­den Mona­te wer­den vie­le Leu­te nur mit gro­ßen Vor­be­hal­ten ihre alten Geschäf­te, Cafés etc. auf­su­chen. Para­do­xer­wei­se könn­ten die Betrie­be vor­erst mehr Geld ver­lie­ren, wenn sie wie­der öff­nen, als wenn sie geschlos­sen blie­ben – ein­fach des­halb, weil sie dann Löh­ne aus­zah­len müß­ten, ohne den ent­spre­chen­den Umsatz zu erzie­len. Außer­dem kann man mit Sicher­heit sagen, daß die­se Kri­se mas­si­ve Umver­tei­lungs­ef­fek­te zei­ti­gen wird … und zwar zuguns­ten der Groß­un­ter­neh­men. Die Regie­rung kann es sich auf­grund ihrer Ankün­di­gung (ver­ges­sen wir die Prio­ri­tä­ten nicht!) nicht erlau­ben, Groß­un­ter­neh­men ein­fach fal­len zu las­sen, deren Insol­venz zu Schlag­zei­len füh­ren wür­de. Des­halb ist davon aus­zu­ge­hen, daß unver­hält­nis­mä­ßig vie­le klei­ne und mitt­le­re Unter­neh­men, die kei­nen Zugang zum Ram­pen­licht der Mas­sen­me­di­en haben und, ihrem Schick­sal über­las­sen, bereits seit Jah­ren dahin­düm­peln, auf­ge­ben wer­den, ohne daß jemand groß Notiz davon neh­men wird. Ein sich lang hin­zie­hen­der Tod hat für unse­re poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger den Vor­teil, daß er geräusch­los verläuft …

2. Eine Prä­mie für Familienunternehmen?

Para­do­xer­wei­se dürf­ten sich im gegen­wär­ti­gen Deba­kel zahl­rei­che fami­li­är geführ­te Betrie­be und Gemein­schafts­un­ter­neh­men wohl am ehes­ten über Was­ser hal­ten. Wo sich Arbeit­ge­ber und Arbeit­neh­mer per­sön­lich ken­nen und die Zusam­men­ar­beit zu schät­zen wis­sen, kön­nen zeit­wei­lig fle­xi­ble­re Abma­chun­gen getrof­fen wer­den (bezüg­lich Arbeits­zeit, Arbeits­qua­li­tät, Urlaub etc.). In ähn­li­cher Wei­se rüh­ren Soli­da­ri­tät und gemein­sa­me Inter­es­sen aus jenen lang­jäh­ri­gen Bezie­hun­gen, die ein Unter­neh­men zu Kun­den und Lie­fe­ran­ten zu knüp­fen wuß­te. Betrie­be aber, die im Gegen­satz dazu auf die unper­sön­li­che Aus­beu­tung von Bil­lig­lohn­ar­bei­tern setz­ten, kom­men jetzt nicht in den Genuß die­ses »Sozi­al­ka­pi­tals«, das allein imstan­de ist, die Betei­lig­ten zur Ret­tung des Unter­neh­mens zu mobi­li­sie­ren. Zu gro­ße Unter­neh­men kön­nen sich über­dies in einen äußerst kost­spie­li­gen juris­ti­schen For­ma­lis­mus ver­stri­cken, der die Mög­lich­kei­ten ein­schränkt, in Kri­sen­zei­ten eine außer­ge­wöhn­li­che Hand­lungs­stra­te­gie in die Tat umzu­set­zen. Was die­sen Punkt betrifft, so wei­sen die Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler schon seit lan­gem dar­auf hin, daß die for­ma­le Para­gra­phen­rei­te­rei (Vor­schrif­ten und Ver­trä­ge) ein recht bruch­stück­haf­ter Ersatz ist für all den Reich­tum an infor­mel­len Bezie­hun­gen, die inner­halb einer Fami­lie oder einer Gemein­schaft existieren.

3. Kommt der Staatsbankrott?

Die Maß­nah­men zur Unter­stüt­zung der Wirt­schaft wer­den zu neu­en Rekor­den der Staats­ver­schul­dung füh­ren. Kön­nen Staa­ten folg­lich auch in Kon­kurs gehen? Von eini­gen weni­gen Aus­nah­men abge­se­hen, erscheint dies ganz und gar unwahr­schein­lich, und zwar aus ver­schie­de­nen Grün­den. Zunächst ein­mal sind Staats­schul­den im Gegen­satz zu Akti­en die ein­zi­gen von der Qua­si­to­ta­li­tät der Bevöl­ke­rung gehal­te­nen Ver­mö­gens­ge­gen­stän­de. Zwei­tens hät­te ein Staat, der sei­ne Schul­den nicht zurück­zah­len wür­de, Schwie­rig­kei­ten, sofort wie­der Kapi­tal auf­zu­neh­men – ein erheb­li­cher Nach­teil für Län­der mit struk­tu­rel­lem Defi­zit. Das wür­de die Staa­ten dazu zwin­gen, die Aus­ga­ben sofort und mas­siv zu beschnei­den (in Frank­reich ist seit 1974 kein ein­zi­ges Bud­get im Gleich­ge­wicht). Drit­tens ist die glo­ba­le Nach­fra­ge nach Staats­schul­den groß, sie kommt haupt­säch­lich von Län­dern wie Chi­na, wo der seit zwei Jahr­zehn­ten akku­mu­lier­te beträcht­li­che Reich­tum kaum Anla­ge­mög­lich­kei­ten fin­det. Die chi­ne­si­schen Spa­rer sind gera­de­zu ver­ses­sen auf die rela­tiv siche­ren euro­päi­schen und ame­ri­ka­ni­schen Akti­va: Die­se Nach­fra­ge erklärt auch, war­um die Zins­sät­ze – sogar vor der Kri­se – auf einem his­to­ri­schen Tiefst­stand waren bei einem gleich­zei­ti­gen his­to­ri­schen Höchst­stand der Ver­schul­dung. Schließ­lich wer­den die mas­si­ven Ankäu­fe von Staats­an­lei­hen durch die Zen­tral­ban­ken selbst­ver­ständ­lich den Kos­ten­an­stieg der Staats­schul­den begren­zen. Des­halb wer­den wir mit einem dau­er­haft höhe­ren Ver­schul­dungs­ni­veau leben müssen.

4. Stür­zen uns die Zen­tral­ban­ken in die Hyperinflation?

Wei­te­re zur Unter­stüt­zung der Wirt­schaft ein­ge­setz­te Akteu­re sind die Zen­tral­ban­ken, die ihrer­seits außer­ge­wöhn­li­che Maß­nah­men in Aus­sicht gestellt haben. So kün­dig­te bei­spiels­wei­se die Euro­päi­sche Zen­tral­bank (EZB) an, Anlei­hen im Umfang von 750 Mil­li­ar­den Euro zu kau­fen. Es gibt vie­le, die sol­che Anlei­he­käu­fe mit dem Anwer­fen der »Noten­pres­se« gleich­set­zen und des­halb eine Hyper­in­fla­ti­on pro­gnos­ti­zie­ren. Doch lie­gen die Din­ge etwas kom­pli­zier­ter. Sicher­lich wer­den die­se kolos­sa­len Sum­men ex nihi­lo geschaf­fen. Und den­noch han­delt es sich um einen Mecha­nis­mus, der sich erheb­lich von der »Noten­pres­se« unter­schei­det, denn die­se Beträ­ge wer­den genutzt, um Anlei­hen zu kau­fen. Wenn also die EZB der Wirt­schaft eine Liqui­di­täts­sprit­ze von 750 Mil­li­ar­den Euro ver­ab­reicht, zieht sie doch gleich­zei­tig 750 Mil­li­ar­den Euro an Anlei­hen ab. Die Geld­men­ge wird kaum ver­än­dert, und das Gespenst der Infla­ti­on ist in wei­ter Fer­ne. Die­ser Mecha­nis­mus erklärt übri­gens auch, war­um die seit 2008 / 09 ein­ge­führ­ten viel­fäl­ti­gen Pro­gram­me der »quan­ti­ta­ti­ven Locke­rung« (quan­ti­ta­ti­ve easing) trotz der beträcht­li­chen Sum­men, die in Umlauf gebracht wur­den, kei­ne Aus­wir­kung auf die Infla­ti­on hat­ten. Was hin­ge­gen die Situa­ti­on ändern könn­te, wäre die Ein­füh­rung von Geld ohne Gegen­leis­tung, das direkt an die Haus­hal­te aus­ge­zahlt wird (heli­c­op­ter money). Wir wür­den damit in die »Notenpressen«-Politik kip­pen – mit womög­lich ver­hee­ren­den Folgen.

5. Ist eine Zwangs­ab­ga­be auf Spar­ein­la­gen in Sicht?

Um die Kri­sen­be­wäl­ti­gung zu finan­zie­ren (sie wird not­wen­di­ger­wei­se eine finan­zi­el­le Kom­po­nen­te haben, denn zahl­rei­che Unter­neh­men müs­sen die Zah­lun­gen ihrer Bank­schul­den aus­set­zen), wird manch­mal der Vor­schlag einer Zwangs­ab­ga­be auf Spar­ein­la­gen ins Spiel gebracht. Es ist aber aus­ge­spro­chen unwahr­schein­lich, daß man damit dem Übel gene­rell bei­kom­men könn­te. Zunächst ein­mal gibt es für Ein­la­gen bis zu 100.000 Euro eine staat­li­che Garan­tie. Nur Gut­ha­ben über 100.000 Euro kön­nen geschröpft wer­den, wie der Zypern-Fall 2013 zeigt. Dies aber betrifft eine ver­schwin­dend klei­ne Anzahl von Per­so­nen, vor allem da die Garan­tie für jedes Kon­to gilt und nicht für die Gesamt­erspar­nis­se einer Per­son (jemand mit 200.000 Euro Spar­ein­la­gen kann auf Num­mer Sicher gehen, wenn er bei zwei Ban­ken Kon­ten eröff­net). Wenn die Ban­ken in gro­ßen Schwie­rig­kei­ten ste­cken, wer­den die Gut­ha­ben über 100.000 Euro allein es nicht erlau­ben, die Haus­halts­lö­cher zu stop­fen. Was aber die Spar­ein­la­gen unter­halb der 100.000-Euro-Grenze betrifft, wür­de ein sol­cher Ein­griff so gefähr­li­che sozia­le und poli­ti­sche Fol­gen zei­ti­gen, daß sich die Regie­run­gen wohl kaum dazu ent­schlie­ßen wer­den. Es liegt in ihrem Inter­es­se, stets indi­rek­te und weni­ger offen­sicht­li­che Mit­tel zu fin­den, um den Ban­ken auf­zu­hel­fen, sei es durch direk­te (Sub­ven­tio­nen, Reka­pi­ta­li­sie­rungs­maß­nah­men) oder indi­rek­te (laxe Geld­po­li­tik) Hilfs­leis­tun­gen. Um der Ban­ken­ret­tung wil­len die ein­zel­nen Haus­hal­te durch Steu­ern statt durch eine Son­der­ab­ga­be auf Spar­ein­la­gen zu schröp­fen, bedeu­tet für unse­re Füh­rungs­kräf­te einen ent­schei­den­den Vor­teil – alles bleibt im Vagen.

6. Auf dem Weg zur Plün­de­rung des Immobilienvermögens?

Um neue Geld­quel­len zu erschlie­ßen, ist also eine Erhö­hung der Steu­er­last am wahr­schein­lichs­ten, wobei die­se his­to­risch gese­hen für Frie­dens­zei­ten ohne­hin bei­spiel­los hoch ist. Die Wahl könn­te viel­leicht auf die fis­ka­li­sche Plün­de­rung der Immo­bi­li­en­ei­gen­tü­mer fal­len. Sol­che Maß­nah­men haben für unse­re Füh­rungs­kräf­te meh­re­re Vor­zü­ge. Zunächst ein­mal kann sich Immo­bi­li­en­ei­gen­tum im Gegen­satz zum Kapi­tal, das in Akti­en und ande­re Finanz­an­la­gen inves­tiert wird, nicht ins Aus­land ver­flüch­ti­gen. Die­ser »seß­haf­te« Cha­rak­ter des Immo­bi­li­en­ei­gen­tums erklärt auch die Tat­sa­che, daß es bereits besteu­ert wur­de, ins­be­son­de­re in der moder­nen Zeit, für die nicht mehr Grund und Boden Grund­la­ge der sozia­len Ord­nung ist (wie in den tra­di­tio­nel­len euro­päi­schen Gesell­schaf­ten), son­dern Wert­pa­pie­re, die genu­in »noma­disch« und ohne phy­si­schen Ort sind. Die­se Bevor­zu­gung des »noma­di­schen« Kapi­tals kommt über­dies der domi­nan­ten Ideo­lo­gie gera­de zupaß, die bereits die Reform der Ver­mö­gens­steu­er (frz. impôt sur la for­tu­ne, ISF) initi­iert hat­te, mit der nur noch die »unpro­duk­ti­ven« Immo­bi­li­en, nicht aber die »pro­duk­ti­ven« Wert­pa­pie­re belegt wer­den. Schließ­lich heißt Besteue­rung des Immo­bi­li­en­ver­mö­gens dies: Dem klei­nen Mann, für den sein Stück Land oft die ein­zi­ge Ver­an­ke­rung bedeu­tet, wird das Rück­grat gebro­chen – sol­che Besteue­rung soll ihn ent­wur­zeln, ihn leich­ter in Bewe­gung set­zen und pau­pe­ri­sier­te Noma­den- und Migran­ten­mas­sen schaf­fen, beweg­li­cher selbst im eige­nen Land und eher dazu bereit, bil­li­ge »Gele­gen­hei­ten«, da, wo sie sich bie­ten, zu ergreifen.

7. Neue sozia­le Unruhen?

Ent­ge­gen den Unken­ru­fen jener Pro­phe­ten, die bereits neue apo­ka­lyp­ti­sche Ret­tungs­pa­ke­te für Staat und Ban­ken kom­men sehen, erscheint es wahr­schein­li­cher, daß sich die Lage all­mäh­lich nor­ma­li­sie­ren wird, wie­wohl am Ran­de – und ohne daß dies jemand zur Spra­che bräch­te – die Übel, an denen das Frank­reich der Unter­klas­se krankt, zuneh­men wer­den: etwas mehr an abs­trak­ten Abga­ben, etwas weni­ger an öffent­li­chen Dienst­leis­tun­gen, noch mehr von den sich selbst über­las­se­nen, stum­men Peripherien.

Daß halb­her­zi­ge Maß­nah­men nichts brin­gen, stellt für unse­re blut­lee­ren Regie­run­gen kein Pro­blem dar: Ihr Ziel ist ja bei­lei­be nicht, irgend etwas auf­zu­bau­en– sie wol­len nur andau­ern. Noch ein Weil­chen über­dau­ern, indem sie die Ver­wer­fun­gen in der Gesell­schaft noch ein Weil­chen län­ger ver­schwei­gen. Sol­che Logik prallt jedoch gegen eini­ge unvor­her­ge­se­he­ne Ereig­nis­se, wie etwa die Bewe­gung der Gelb­wes­ten. Im Prin­zip dürf­te die jet­zi­ge Kri­se die Ungleich­ge­wich­te nur ver­schär­fen und zukünf­ti­gen Unru­hen Nah­rung geben. Wann wer­den sie aus­bre­chen? Nie­mand weiß es. Aber es schwelt im Unter­grund. Unse­ren poli­ti­schen Füh­rern bleibt allein die Hoff­nung, daß es der Coro­na­vi­rus-Psy­cho­se gelun­gen sein könn­te, den Nach­bar dem Nach­barn ver­däch­tig zu machen und eine Pho­bie vor Men­schen­an­samm­lun­gen zu schaffen.

8. Relo­ka­li­sie­rung der Großkonzerne?

Ein wei­te­rer Skan­dal ist in Sicht: Zahl­rei­che Unter­neh­men, die seit drei Jahr­zehn­ten ihre Pro­duk­ti­on mas­siv ins Aus­land ver­la­gert haben, ste­hen im Begriff, staat­li­che Hilfs­gel­der ein­zu­strei­chen. Sol­che Unter­neh­men sind im Zeit­al­ter der Glo­ba­li­sie­rung die Kehr­sei­te der ille­ga­len Ein­wan­de­rung: Pro­fi­te wer­den erzielt, indem man die natio­na­len Vor­schrif­ten und Fis­kal­las­ten umgeht, und Ver­lus­te wer­den aus­ge­bü­gelt, indem man sei­nen Her­kunfts­staat um Hil­fe angeht. Ein Bei­spiel gefäl­lig? Renault. Des­sen Pro­duk­ti­ons­stand­or­te wur­den haupt­säch­lich nach Ost­eu­ro­pa und Nord­afri­ka aus­ge­la­gert, und der Sitz der Alli­anz mit Nis­san befin­det sich in den Niederlanden.

Die aktu­el­le Lage bie­tet nun den Staa­ten die ein­ma­li­ge Gele­gen­heit, das Heft wie­der in die Hand zu neh­men, indem sie den Unter­neh­men Hilfs­leis­tun­gen nur unter der Bedin­gung einer Relo­ka­li­sie­rung der indus­tri­el­len Akti­vi­tä­ten gewäh­ren. Sol­che Ent­schei­dun­gen zu tref­fen setzt aber einen kla­ren poli­ti­schen Wil­len und gro­ßen Mut vor­aus. Wenn eini­ge Unter­neh­mens­grup­pen eine Relo­ka­li­sie­rung ihrer Akti­vi­tä­ten erwä­gen soll­ten, so tun sie das wohl kaum unter poli­ti­schem Druck, son­dern weil sie sich schlicht und ein­fach ein­ge­ste­hen, wie anfäl­lig zu lan­ge, zu frag­men­tier­te und zuglo­ba­li­sier­te Pro­duk­ti­ons­ket­ten sind. Wenn die Ein­zel­tei­le, die man zur Her­stel­lung eines Pro­duk­tes braucht, aus 150 ver­schie­de­nen Län­dern stam­men, und man kei­nen­Vor­rat ange­legt hat (zu teu­er), zwingt jede noch so win­zi­ge Stö­rung des Welt­han­dels zu einem Ein­stel­len der Pro­duk­ti­on. Die­se »sys­te­mi­sche« Anfäl­lig­keit ist die ers­te Leh­re, die die Groß­kon­zer­ne aus der Kri­se zie­hen werden.

9. Wird sich die Ent-Glo­ba­li­sie­rung durchsetzen?

Die Coro­na­kri­se ist ein Pro­dukt der Glo­ba­li­sie­rung: der welt­wei­ten Güter- und Per­so­nen­ver­schie­bun­gen, der Pro­duk­ti­ons­aus­la­ge­rung stra­te­gi­scher Güter (90 Pro­zent der Medi­ka­men­te wer­den in Chi­na her­ge­stellt). Doch wäre es illu­so­risch zu glau­ben, daß sich die Ent-Glo­ba­li­sie­rung »auf natür­li­che Wei­se« durch­set­zen wird. Eine sol­che kann nur von Dau­er sein, wenn sie die Frucht eines poli­ti­schen Wil­lens ist, der sich sowohl den kapi­ta­lis­ti­schen Inter­es­sen (die, nach­dem sie erschüt­tert wur­den, bald wie­der nach neu­en Mit­teln der welt­wei­ten Pro­fit­ma­xi­mie­rung suchen wer­den) als auch den impe­ria­lis­ti­schen Gelüs­ten der im Auf­stieg begrif­fe­nen Groß­mäch­te zu wider­set­zen ver­mag. Jene, die glau­ben, eine Relo­ka­li­sie­rung der Akti­vi­tä­ten kön­ne auf natür­li­chem Wege erfol­gen, ver­deut­li­chen ledig­lich die aktu­el­le Schwä­che unse­rer Zivi­li­sa­ti­on: Wir wün­schen etwas, haben aber weder den poli­ti­schen Wil­len noch den Mut, es zu ver­wirk­li­chen. Uns wäre lieb, wenn alles laut- und rei­bungs­los ver­lie­fe, ohne daß wir etwas zu sagen oder zu tun brauch­ten – dies läuft aber schlech­ter­dings immer auf ein »Lais­ser-fai­re«, also Nach­läs­sig­keit hin­aus. Die gro­ße Lek­ti­on aus der Coro­na­kri­se ist die­se: Mäch­tig sind vor allem die zu einem poli­ti­schen Wil­len fähi­gen Völ­ker. Ange­sichts eines geschwäch­ten Euro­pas liegt Chi­na jeg­li­che Absicht zur Ent-Glo­ba­li­sie­rung fern: Chi­na besitzt den Ehr­geiz, uns mit sei­ner ste­tig wach­sen­den Waren­flut zu über­schwem­men– und zwar nicht nur mit Plas­tik­schnick­schnack, son­dern gera­de auch mit stra­te­gi­schen Gütern.

10. Auf dem Weg zu einem neu­en chi­ne­si­schen Imperialismus?

Chi­na ist, poli­tisch gese­hen, der gro­ße Gewin­ner der Coro­na­kri­se. Sei­ne Ent­schei­dungs­trä­ger bewei­sen Fes­tig­keit, Ent­schlos­sen­heit und stra­te­gi­sches Kal­kül – wie dies etwa die medi­zi­ni­schen Hilfs­lie­fe­run­gen an Ita­li­en zei­gen. All die­se Qua­li­tä­ten feh­len Euro­pa, und die Ver­ei­nig­ten Staa­ten ken­nen oft nur noch ihre kari­ka­tu­ris­ti­schen Vari­an­ten. Euro­pa ist in sei­ne öko­no­mi­schen und finan­zi­el­len Pro­ble­me heil­los ver­strickt und von sei­nem Lega­lis­mus und der Ideo­lo­gie der Men­schen­rech­te gelähmt. Chi­na könn­te von die­ser Anfäl­lig­keit Euro­pas pro­fi­tie­ren, um wei­te­re Vor­stö­ße zu unter­neh­men: von den tech­no­lo­gi­schen und indus­tri­el­len Aus­hän­ge­schil­dern Besitz ergrei­fen, zur Revi­si­on der Han­dels­ab­kom­men nöti­gen usw .Zwar wird der ame­ri­ka­ni­sche Impe­ria­lis­mus nicht so leicht zugrun­de gehen, doch schrump­fen ihm all­mäh­lich die zur Errei­chung sei­ner ehr­gei­zi­gen Zie­le nöti­gen Mit­tel, wäh­rend Chi­na über sie in wach­sen­dem Maße ver­fügt. Ein Impe­ria­lis­mus könn­te also den ande­ren erset­zen – dies zumin­dest scheint Xi Jin­pings Absicht zu sein. Sich ihr zu wider­set­zen wird immer kom­pli­zier­ter. Ange­sichts die­ser Tat­sa­che wird die Fra­ge nach dem poli­ti­schen Wil­len aus­schlag­ge­bend: Kann es zu einem Auf­wa­chen kom­men, ja zur Ein­sicht über­haupt, daß das chi­ne­si­sche Modell den tra­di­tio­nel­len euro­päi­schen Wer­ten nicht min­der fremd ist als das amerikanische?11. Eine Wie­der­kehr des Pro­tek­tio­nis­mus? Selbst wenn heu­te der poli­ti­sche Wil­le in Euro­pa fehlt, könn­te sich den­noch auf etwas uner­war­te­te Wei­se eine Wie­der­kehr des Pro­tek­tio­nis­mus anbah­nen. Tat­säch­lich ergibt sich aus dem Bei­tritt zu den Frei­han­dels­ab­kom­men das von den Öko­no­men so genann­te »Koor­di­nie­rungs­pro­blem«: Ein Land wird nur dann zustim­men wol­len, wenn auch ande­re Län­der es tun. Umge­kehrt will kein Land die Gren­zen weit offen las­sen, wenn die Gren­zen aller übri­gen Län­der geschlos­sen sind. Eine sol­che Struk­tur ist grund­sätz­lich insta­bil: Wenn ein oder zwei gro­ße Län­der dem Frei­han­del den Rücken keh­ren, reagie­ren die ande­ren, indem sie ihre Gren­zen schlie­ßen, wodurch mög­li­cher­wei­se ein »Schnee­ball­ef­fekt« aus­ge­löst wird, der von einem all­ge­mei­nen Sys­tem offe­ner Gren­zen zur all­ge­mei­nen Ein­füh­rung der Gren­zen führt. Der Über­gang vom Zustand einer gro­ßen Han­dels­of­fen­heit zur Schlie­ßung der Gren­zen ist etwas Unvor­her­ge­se­he­nes, und kann recht schnell ein­tre­ten … oder eben auch niemals.

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