Golo Mann schrieb einmal, Spanien sei ein einsames Land. Tatsächlich ist Spanien selbst in seiner historischen Blütezeit dem Rest Europas immer fremd geblieben. Zu abgeschieden war seine Lage am südwestlichen Rand des Kontinents in unmittelbarer Nähe zum maghrebinischen Islam, zu verschlossen seine in jahrhundertelanger Reconquista ausgebildete Religiosität, zu asketisch-metaphysisch seine gesamte kulturelle Blickrichtung. Die Ordensgründungen, welche dieses Land der katholischen Kirche geschenkt hatte, weisen alle einen mystisch-militärischen Charakter auf: Dominikaner, Jesuiten und die Laienbewegung Opus Dei. Zweimal Neutralität in den zwei großen Weltkonflikten verstärkte diese Außenseiterrolle noch, in der sich das Land nicht ohne Stolz eingerichtet hatte.
Fremd und kaum vermittelbar erscheint auch die Bewegung des Carlismus, der außerhalb Spaniens fast kein Echo fand. Ein dynastisches Problem in der Thronfolge entfaltete eine derartige Mobilisierungsenergie, daß es zu drei, eigentlich vier Kriegen kam (hier dem schiitischen Islam nicht unähnlich). Der Carlismus zählt damit zur hartnäckigsten wie langlebigsten konservativen Revolution oder besser Rebellion der neueren Geschichte. Seine Aufstände brachten ihm drei Niederlagen und zuletzt einen Schein-Sieg nach dem Spanischen Bürgerkrieg ein. Nachdem Franco die carlistischen Milizen auf den Schlachtfeldern gebraucht hatte, wurden diese nach dem siegreichen Ende schnell entsorgt und sein politischer Flügel zur folkloristischen Marginalie erniedrigt. Mit Ausnahme der festen Verankerung der römisch-katholischen Konfession in Franco-Spanien, konnte die carlistische Bewegung keine ihrer weiteren Forderungen verwirklichen. Der Thronprätendent aus der Linie Bourbon-Parma blieb unberücksichtigt und die Forderung nach regionalen Autonomierechten war ebenso schnell vom Tisch. Es ist weitgehend unbekannt geblieben, wie spannungsgeladen sein Verhältnis zum Franquismus gewesen ist und wie sehr Carlisten unter ihm verfolgt wurden.
Doch der Carlismus hat auch die Überlebensfähigkeit traditioneller Ideale in wechselnden Kontexten gezeigt, vor allem dann, wenn diese Ideale auf tiefsitzende Bedürfnisse breiter Schichten trafen. Nicht umsonst bewunderte Karl Marx den Carlismus für dessen authentische Volksnähe. Von einer Personalie in der Königsfamilie ging es bald zu grundsätzlichen Positionen, die zu allen Zeiten ihre Anhänger fanden und finden werden. Gleichzeitig illustriert die Geschichte des Carlismus und seiner Zweige, wo die Gefahren für konservative Revolutionäre liegen. Sie offenbart die Schwächen einer vorwiegend charismatischen Herrschaftsauffassung in der Konfrontation mit der vermeintlichen Allmacht historischer Entwicklung. Auch dem Carlismus blieben Versuchungen in dieser Richtung nicht erspart. Dynamik und Erstarrung, Volksnähe und Nische, Experiment und Resignation – der Carlismus fand sich immer wieder zwischen diese Pole gestellt. Manchmal wuchsen ihm daraus ungeahnte Kräfte zu, manchmal lauerten dort tödliche Gefahren.
Im folgenden werden der Einfachheit halber die Namen der carlistischen Thronanwärter in ihrer spanischen Schreibweise wiedergegeben.
Alles beginnt mit den Napoleonischen Kriegen und ihren Folgewirkungen. Der erbitterte Volkskrieg ab 1808 gegen die französischen Invasoren wurde im Namen des in Valençay (südöstlich von Tours gelegen) gefangengehaltenen spanischen Königs Fernando VII. und seiner Familie geführt. Unter Kriegsbedingungen trat im andalusischen Cádiz ein Rumpfparlament zusammen (Cortes de Cádiz), in welchem sich zwei politische Strömungen für den Verteidigungskrieg zusammenrauften, die bald danach in unversöhnlicher Feindschaft einander gegenüberstehen sollten: Liberale und Konservative. Beide reklamierten den Willen des spanischen Königshauses der Bourbon-Anjou für sich und wollten die Nachkriegsordnung ihren Vorstellungen entsprechend gestalten. Als propagandistisches Schwergewicht der konservativen Seite trat von Beginn an die katholische Geistlichkeit des Landes auf, die nicht müde wurde, die Prinzipien von 1789 zu verdammen und in der Dekadenz der französischen Bourbonen die Ursache der Französischen Revolution zu geißeln. Besonders manche Ordensleute stachen durch glühenden Fanatismus hervor, der einige von ihnen bald darauf für die carlistische Sache zur Waffe greifen ließ. Das Königshaus habe sein Gottesgnadentum vergessen und müsse angehalten werden, sich des metaphysischen Ursprungs seiner Königsherrschaft wieder gewahr zu werden, so heißt es in einem ersten carlistischen Dekret von konservativen Deputierten. Der charakterschwache König FernandoVII. gerät jedoch zunehmend unter den Einfluß liberaler Kräfte, die besonders durch seine letzte Ehefrau Maria Christina von Neapel-Sizilien bestärkt werden, Spanien zu einem modernen, zentralistischen Nationalstaat umzuformen. Der König hinterläßt keinen männlichen Nachfolger und wird gedrängt, das bis dahin geltende salische Erbfolgerecht, wonach nur männliche Nachkommen Anrecht auf den Thron haben, abzuschaffen, um seiner Tochter Isabella (als Isabella II.) die Thronfolge zu sichern. Daß damit im Grunde ein noch älteres Erbfolgerecht unbeabsichtigt wieder zur Geltung gelangt, wird von carlistischer Seite allerdings verdrängt.
Sein unsicherer jüngerer Bruder Carlos von Bourbon-Parma (für die Carlisten Carlos V.) hatte dieser Regelung zunächst zugestimmt (Pragmática Sanción), bevor er sodann in einem Manifest seine Ansprüche gemäß salischen Rechts einfordert und mit seinen Anhängern, etwa drei Viertel der ländlichen Bevölkerung, in Nordspanien eine Art carlistischen Proto-Staat etabliert. Carlos V. gibt der Bewegung seinen Namen, den sie fortan tragen wird.
Die Spaltung geht derweil durch alle Schichten und Berufe (Ausnahme: Klerus). Die königliche Armee wird von Sympathisanten des Carlos rigoros gesäubert, was ihm viele Offiziere zutreibt, die seine Aufstandsarmee formen werden. Einer von ihnen ist der bis heute bekannte legendäre baskische Oberst Tomás de Zumalacárregui, von seinen Anhängern liebevoll »Onkel Tomás« gerufen, der bis zu seinem Tod 1835 einen effektiven wie brutalen Guerillakrieg gegen Isabellas Truppen führen wird. Der erste Carlistenkrieg dauert von 1833 bis 1840 und kommt in Sachen Grausamkeit an den spanischen Bürgerkrieg hundert Jahre später problemlos heran. Schauplätze der Kämpfe sind vor allem die nördlichen Regionen (besonders Navarra), denen der Carlismus die überlieferten Sonderrechte und Selbstverwaltungen, die fueros oder auzolán, garantieren will, die eigentlich dem modernen Nationalstaat hätten weichen sollen. Es sind besonders die Regionen, aus denen einst die Reconquista ihren Anfang genommen hatte. In der Wahrnehmung vieler Carlisten war der Liberalismus eine ähnlich fremde Macht wie seinerzeit der Islam. Somit ist der Carlismus nie eine im modernen Sinn nationalistische Bewegung gewesen, was für seine späteren Auseinandersetzungen mit der Falange von Bedeutung sein wird. Statt der Nation nimmt er die Scholle in den Blick und nähert sich in seiner programmatischen Entwicklung, die erst nach dem ersten Carlistenkrieg einsetzen wird, sogar anarchistischen Modellen eines lokalen Kommunitarismus an.
Königin Isabella II. kann den Konflikt für sich entscheiden, auch weil England sowie Frankreich ihr zur Seite stehen (England schickt halbverhungerte Iren als »Freiwillige«, preußische Freiwillige kämpfen bei den Carlisten) und der Kirchenstaat Neutralität wahrt. Die Königin bemüht sich nach dem Krieg um eine Versöhnung beider Positionen, die ihr aber nicht gelingt. Carlistische Überreste setzen vor allem in Katalonien ihre bewaffneten Aktionen gegen die liberale Monarchie fort und provozieren so den zweiten Carlistenkrieg, der sich auf diese Region konzentrieren wird.
Unterdessen wächst in Carlos VII. ein charismatischer wie kraftvoller Thronprätendent heran, der dem Carlismus neue Energie einflößt und ihn als reaktionär-revolutionäre Kraft in die Moderne führt. Auch wenn er letztlich alles auf die militärische Karte setzen wird und sich so eine Niederlage einhandelt, steht er am Beginn der intellektuellen Ausformung der Bewegung. Der Carlismus wandelt sich unter ihm von einer reinen Gefolgschafts- in eine Gesinnungspartei mit einer Programmatik, die über dynastische Fragen hinausgeht.
Carlisten waren nicht nur vollbärtige Banditen unter roten Baskenmützen, die nach der heiligen Messe die Sierra unsicher machten, so wie es die eigene und fremde Propaganda gern in aller Farbigkeit darstellte. Unter den Carlisten fanden sich vielmehr auch Intellektuelle, die sich zu politischen Clubs zusammenschlossen und in den urbanen Zentren Spaniens eine rege Pressetätigkeit entfalteten. Carlos VII. hatte erkannt, daß er die Köpfe der Menschen gewinnen mußte und so entstand in seiner Zeit die politische Partei Comunión Católico-Monárquica, die später einfach unter Comunión Tradicionalista zusammengefaßt werden sollte. Eine Vielzahl carlistischer Zirkel und später auch weiterer politischer Parteien, die sich zwischen der Anhänglichkeit an ihren Favoriten (z. B. Partido Jaimista) und einer abstrakteren Programmatik sortieren, erblickt das Licht der Welt. Ebenso vielfältig ist die carlistische Presselandschaft, in der konservative Vordenker wie Juan Vázquez de Mella (der spanische de Maistre) und Francisco Navarro Villoslada eine carlistische Weltanschauung formulieren. Zu ihnen darf man auch bereits den Staatsphilosophen und Diplomaten Juan Donoso Cortés zählen.
Besonders in der Zeitung El Correo Español wird gegen Parlamentarismus und Absolutismus gleichermaßen angeschrieben, was beweist, daß der Carlismus geistig zu mehr als nur zur Nostalgie fähig war. Besonders de Mella wirbt um eine Versöhnung der gesellschaftlichen Klassen unter dem Banner des christlichen Glaubens. Er wendet sich gegen liberale Abstraktionen und zeichnet ein Bild des Menschen, der immer zuerst schon eine Inkarnation von Traditionen ist. Als einigende Klammer für das Land schwebt de Mella ein nationaler Regionalismus vor, in dem das Prinzip der Subsidiarität gelten solle.
1872 bis 1876 kommt es schließlich zum Dritten Carlistischen Krieg, da Carlos VII. sein Vertrauen wiederum einzig auf die Sprache der Waffen gesetzt hatte. In Erinnerung bleibt sein Schwur am mythischen Baum von Guernica, dem Symbol für die baskische Selbstbestimmung. Der Feldzug endet kläglich. Er selbst stirbt 1909 im italienischen Varese. Die Zeit danach ist getragen von weiteren Versuchen, den carlistischen Gedanken zu verankern. Die studentische Jugend gründet 1886 ihre eigene carlistische Vereinigung AET (Agrupación Escolar Tradicionalista), die sich gegen den Modernismus, besonders den Naturalismus in der Literatur wendet und Wissenschaft mit Tradition versöhnen möchte. Der Jugend gelingt es, den Carlismus am Leben zu erhalten, ihn vor allem in den Dörfern, seinen traditionellen Bastionen, vor dem Aussterben zu bewahren. Sie ist es, die den carlistischen Wunsch nach regionaler Selbstbestimmung mit den Ideen des russischen Anarchisten Kropotkin in Einklang zu bringen sucht. Aus dieser Jugend wird 1907 auch der paramilitärische Arm der Requetés (Rekruten) hervorgehen, der im Spanischen Bürgerkrieg Francos Sieg mit herbeiführen wird.
In diesen Krieg steigt die carlistische Partei jedoch unter falschen Voraussetzungen an der Seite der putschenden Militärs ein. Der politische Führer der Bewegung ist zu dieser Zeit der Andalusier Manuel Fal Conde, da der letzte carlistische Prätendent Alfonso Carlos I. 1936 ohne Nachkommen stirbt und somit Prätendenten aus Seitenlinien aufrücken. Die Republik konnte sich mit ihrer antikirchlichen Politik bei den Carlisten keine Freunde machen. So steht bald ein Bündnis mit spanischen Generalscliquen im Raum, die sich (vor Franco) gegen die Republik verschworen hatten. Ein Abkommen zwischen den Carlisten und ihren einstigen Feinden, den Madrider Militärs unter General Sanjurjo sah vor, daß die Requetés, von Berufsoffizieren gedrillt, an der Seite der Frondeure aufmarschieren würden und dafür im Falle des Sieges Javier de Bourbon-Parma zum König von Spanien erhalten sollten. Der Tod Sanjurjos und der kometenhafte Aufstieg Francisco Francos gefährdeten das Abkommen, das jedoch von Seiten Fal Condes nicht gekündigt wurde. 1937 veranlaßte der Generalissimus Franco schließlich die Zwangsvereinigung der Carlisten mit der philo-faschistischen Falange und weiterer rechts-liberaler Parteien zur Einheitspartei FET y de las JONS, um eine Aufsplitterung der nationalen Kräfte im Vergleich zum heillos zerstrittenen republikanischen Lager zu verhindern. Diese Zwangsvereinigung brachte den Carlismus an den Rand der Unkenntlichkeit. Viele seiner Anhänger, darunter der in Portugal exilierte Fal Conde (er überlebt mehrere Attentatsversuche), agitieren fortan gegen Francos Regime, oft am Rande religiöser Zeremonien oder gleich im Untergrund. In den Haftanstalten des Regimes kommt es in den 1950er Jahren sogar zu Annäherungsversuchen von seiten spanischer Kommunisten, denen eine querfrontartige Einheitsphalanx gegen Franco vorschwebt.
Die bleierne Zeit des Franquismus bleibt im Carlismus nicht ohne Spuren. Der Versuch, sich aus der erdrückenden Umarmung zu winden und zu politischer Eigenständigkeit zu gelangen, treibt manche Aktivisten in die geistige Nähe der stramm antifranquistischen Linken. Besonders der junge und dynamische Carlos Hugo von Bourbon-Parma, von dem man sich erzählte, er habe inkognito als Bergarbeiter in Asturien geschuftet, dreht das carlistische Steuer resolut nach links und propagiert eine sozialistische Monarchie, die sich den Bundestaat Jugoslawien zum Vorbild für eine Ordnung der spanischen Verhältnisse nimmt. Gleichwohl geraten hin und wieder auch baskische Carlisten ins Visier der links-nationalistischenETA. 1968 verweist der Diktator ihn mitsamt seiner Familie des Landes.
In der Person des 2010 verstorbenen Carlos Hugo kommt das Dilemma des Carlismus im späten Franquismus noch einmal zum Vorschein. Die Frage nach der Existenzberechtigung einer vormodernen Bewegung wurde von ihm und seinen Anhängern einzig im antifranquistischen Engagement beantwortet unter Zurückdrängung von Positionen des Anti-Marxismus sowie der Überlieferung. Ein anderer Zweig des politischen Carlismus (unter dem Grafen Rodezno) hatte da bereits Frieden mit Franco geschlossen, vor allem, als die mächtige katholische Kirche, allen voran das Opus Dei, den Schulterschluß mit dem Regime suchte. Der Carlismus verlor sein einigendes Band. Der Bruder von Carlos Hugo, Sixto Enrique von Bourbon-Parma (* 1940, ein Altphilologe und Ex-Legionär), versucht seitdem in klarer Distanz zu diesem, die Bewegung zu ihren Ursprüngen zurückzuführen und sucht hierzu gelegentlich die Nähe zu spanischen Rechtsextremisten. In seinem Sekretär Prof. José Miguel Gambra hat die heute stark geschrumpfte Bewegung noch einmal einen Ideologen gefunden, der gegen die gottvergessene EU und für eine neue pan-europäische Christianitas als einigendes Band über die Nationalismen hinaus streitet.