In memoriam Jean Raspail – eine Werkschau

von Konrad Markward Weiß -- PDF der Druckfassung aus Sezession 97/ August 2020

»All­mäh­lich fan­gen Sie an, mir ernst­haft auf den Wecker zu gehen!« – kei­ne Vier­tel­stun­de unse­res ers­ten Gesprächs war ver­gan­gen, als nach einer Serie neun­mal­klu­ger Fra­gen zur Lage der Welt, Nati­on und Kir­che der sonst so char­man­te, höf­li­che Grand­sei­gneur unge­hal­ten wur­de. Es soll­te das ein­zi­ge Mal blei­ben – trotz etli­chen wei­te­ren unver­geß­li­chen Besu­chen und einer regen Kor­re­spon­denz. »Das ist außer­halb mei­ner Kom­pe­ten­zen. Ich bin kein Phi­lo­soph, kein Exper­te, nicht ein­mal ein Intel­lek­tu­el­ler.« Und: »Sie haben die Gän­se­le­ber­pas­te­te ver­zehrt. Wozu wol­len Sie jetzt noch die Gans ken­nen­ler­nen? Alles was ich zu sagen hat­te, ist in mei­nen Büchern.« Daher, in deren Sin­ne und mit ihren Wor­ten, kein Nach­ruf auf die all­zeit unprä­ten­ti­ös-selbst­iro­ni­sche Gans, son­dern eine Ver­kos­tung der Pas­te­te; kei­ne ver­kopf­te Inter­pre­ta­ti­on, son­dern schlich­te Kost­pro­ben – wobei deut­schen Zun­gen bereits ver­trau­te Spe­zia­li­tä­ten gegen­über unüber­setz­ten Gau­men­freu­den in den Hin­ter­grund treten.

»Ein Aben­teu­er, das über mei­ne Exis­tenz ent­schie­den hat« steht 1949 am Beginn des lan­gen Schaf­fens von Jean Ras­pail: Er durch­quert im Kanu über 4500 Kilo­me­ter von Que­bec über den Sankt-Lorenz-Strom und die Gro­ßen Seen bis zur Mün­dung des Mis­sis­sip­pi auf den Spu­ren von Mis­sio­na­ren, Ent­de­ckern und Wald­läu­fern die eins­ti­gen fran­zö­si­schen Besit­zun­gen in Nord­ame­ri­ka. Als er mit En canot sur les chem­ins d’eau du roi (2005) die Feder aus der Hand legt, schließt sich ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter der Kreis. Der jun­ge Pfad­fin­der hat­te sei­ner­zeit das Ent­de­cken eines ver­las­se­nes India­ner­dorfs als »Initia­ti­on« emp­fun­den – und »ein ver­steck­tes Tor durch­schrit­ten, das Zugang zu einem bestimm­ten Lebens­weg eröffnet«.

Zunächst als noch recht pro­sa­ischer Rei­se­schrift­stel­ler, von Feu­er­land bis Alas­ka, als­bald rund um die Welt; er dreht Fil­me, tin­gelt mit die­sen im Rah­men der Vor­trags­rei­he Con­nais­sances de Mon­de durch Frank­reich und hat­te damit, so Madame Ras­pail, »ein sehr gutes Aus­kom­men, bis er dann von sei­ner Feder leben konnte«.

Ter­res sain­tes et pro­fa­nes (1960) mar­kiert eine ers­te Weg­schei­de. »Lau­warm im Glau­ben«, bekennt Ras­pail, die hei­li­gen Stät­ten des Chris­ten­tums besucht zu haben,»zu vie­le ande­re, als daß mein Glau­be uner­schüt­ter­lich geblie­ben wäre«, hat­te er davor gese­hen, und zu vie­le uner­meß­li­che Wüs­ten; doch die win­zig klei­ne, in die Chris­tus sich zurück­ge­zo­gen hat­te, erdrückt ihn »mit einem Gewicht, das kei­ne Wüs­te der Welt jemals wird wie­gen kön­nen«. In Byb­los, der ältes­ten Stadt der Welt, sowie in Petra, erkun­det er unter­ge­gan­ge­ne Kul­tu­ren; und dann, ange­sichts der Kreuz­rit­ter­bur­gen, bricht sich zum ers­ten Mal der ras­pail­sche Duk­tus Bahn, wenn er beseelt den teils glor­rei­chen, teils deplo­rablen, aber immer eige­nen, abend­län­di­schen Spu­ren folgt; damals ergreift Ras­pail das letz­te Glied der Ket­te in die eige­ne Ver­gan­gen­heit und wird sie, gera­de auch als schrift­stel­le­ri­sches Leit­mo­tiv, nie wie­der aus der Hand geben.

Noch bleibt er aber »grand repor­teur«; sei­nen ers­ten Roman Les veu­ves de Sant­ia­go(1962) wid­met er Jahr­zehn­te spä­ter hand­schrift­lich zur Lek­tü­re »auf eige­ne Ver­ant­wor­tung und Gefahr« – »ich wuß­te noch nicht, wie man es rich­tig anstellt«. Auch Secouons le coco­tier (1966) ver­sam­melt noch Repor­ta­gen, über die Antil­len, nicht ohne Gehalt, aber süf­fig wie der Punsch und Rum, denen gleich die ers­te gilt. Ver­misch­te Chro­ni­ken wie­der­um erschei­nen jah­re­lang meist auf der Titel­sei­te der Tages­zei­tung Le Figa­ro, die mit ihren sti­lis­ti­schen und sprach­li­chen Ansprü­chen den Autor schult und ihm poli­tisch gewis­se Zügel anlegt; Bou­le­vard Ras­pail (1977) bil­det eine Blü­ten­le­se, dar­un­ter L’Armada de la Der­niè­re Chan­ce von 1972 – ein Vorbeben …

Ras­pail war längst zur Über­zeu­gung gelangt, »daß eine ande­re Welt dabei ist, Schritt für Schritt ein Frank­reich zu ent­wur­zeln, das sich so all des­sen beraubt sieht, was es bis­her stets als sein Spe­zi­fi­kum pos­tu­liert hat­te – sei­ne Geschich­te, Geist, Hal­tung, Stolz und Schön­heit«. 1973 erscheint das don­nern­de, pro­phe­ti­sche Heer­la­ger der Hei­li­gen, von den domi­nie­ren­den Medi­en eher beschwie­gen als ver­teu­felt; sehr wohl trifft der Bann­strahl aber den Autor, dem nach die­ser Zäsur der Ruch eines poè­te mau­dit anhängt. Das Buch ver­brei­tet sich zunächst wie ein unter­ir­di­scher Fluß, wird dann über den Umweg des Aus­lands in Frank­reich selbst zum »Long­sel­ler« und über­schwemmt 2015 ff. mit 40 Jah­ren Ver­spä­tung auch die Leit­me­di­en. Ras­pails mit Abstand erfolg­reichs­tes und berühm­tes­tes Werk ist zugleich sein unty­pischs­tes; in sei­ner höchs­tens durch Gal­gen­hu­mor abge­mil­der­ten Dras­tik über­fährt es den Leser, statt ihn wie sonst zu erheben.

Die­ser ras­pail­spe­zi­fi­sche hohe Ton, im bald klas­si­schen Vier­klang aus Stolz, Iro­nie, Zärt­lich­keit und Melan­cho­lie, der Werk und Autor glei­cher­ma­ßen durch­drin­gen soll­te, wird erst­mals deut­lich in Die Axt aus der Step­pe (1974), die er »Ursprung und Schluß­fol­ge­rung des Heer­la­gers« nennt. Über drei Kon­ti­nen­te folgt er den Spu­ren der Letz­ten ihrer Art, für die der Ver­lust der eige­nen Iden­ti­tät der Todes­keim gewe­sen war – oder wäre: Von den Urein­woh­nern Japans, des­sen Kata­kom­ben-Katho­li­ken und den letz­ten Samu­rai zur Halb­göt­ter-Däm­me­rung der Uru in den Anden, vom lan­gen Todes­kampf der West­go­ten bis zum knor­ri­gen Ost­front-Vete­ra­nen und unbeug­sam anti­kon­zi­liä­ren Land­pfar­rer im zähen Win­ter­krieg mit sei­nem Bischof. Die­ser Dop­pel­schlag von 1973 / 74 kün­digt eine wei­te­re Zäsur an: Wenn er von nun an aus dem rei­chen Fun­dus des »noma­di­schen Teils sei­nes Lebens« schöpft, sind Bücher wie Bleu caraï­be et citrons verts (1980) nicht mehr Rei­se­be­rich­te eines Autors, son­dern Rei­se­li­te­ra­tur eines Schrift­stel­lers, ins­be­son­de­re, als eine Art Fort­set­zung der Axt, Pêcheur de Lunes (1990). An des­sen Ende fin­det sich bereits das Motiv eines ver­meint­li­chen blo­ßen Land­strei­chers in Süd­frank­reich, das wie so oft bei Ras­pails Fas­zi­na­tio­nen jah­re­lang reift, um spä­ter in einen Roman zu mün­den. Denn das ist von nun an sein eigent­li­ches Gen­re: Indem er im Heer­la­ger, so Phil­ip­pe Hem­sen, »eine Welt, die nur dar­auf zu war­ten scheint, der Apo­ka­lyp­se weiht, hat er sich von jener befreit, hin­ter sich die Türe zuge­schla­gen und das Tor zu sei­ner eige­nen Welt sperr­an­gel­weit aufgestoßen«.

In Sept­en­tri­on (1979) durch­schrei­tet er es, bricht auf zur Rei­se in sei­ne ande­re Welt, fern­ab der gesell­schafts­po­li­ti­schen Gra­ben­kämp­fe, mit einem letz­ten Blick zurück ins Heer­la­ger – denn gera­de noch recht­zei­tig vor einer Inva­si­on aus dem Süden dampft eine bunt zusam­men­ge­wür­fel­te klei­ne Schar in einem anti­ken Zug durch Wäl­der und Step­pen, Raum und Zeit. Die phan­tas­ti­sche Rei­se führt in den namens­ge­ben­den Nor­den, jen­seits der Gren­ze – zwei wei­te­re Dau­er­mo­ti­ve Ras­pails: Vom eins­ti­gen fran­zö­si­schen Pays d’en Haut um die gro­ßen nord­ame­ri­ka­ni­schen Seen bis Pata­go­ni­en, zwar ganz im Süden gele­gen, aber mit allen Attri­bu­ten des hohen Nor­dens. Sie alle lie­gen jen­seits der Gren­zen des erforsch­ten, bewohn­ten Gebiets. »Hen­rick Okta­vi­us Ulrich von Pik­ken­dorf wur­de zehn Mona­te spä­ter gebo­ren, am 23. März 1670. Es hat­te noch nicht auf­ge­hört zu schnei­en. Der Schrei, den er aus­stieß, als er die Welt ent­deck­te, war bis an die Gren­ze zu hören, denn ein wüten­der, umge­kehr­ter Wind weh­te aus­nahms­wei­se von Süden nach Norden«.

Den Namen die­ser Him­mels­rich­tung tra­gen auch Les royau­mes de Borée (2003), uner­schlos­se­ne, unend­li­che Wei­ten, die mit­samt ihren halb­my­thi­schen Wald­be­woh­nern über Jahr­hun­der­te Herr­scher eines ima­gi­nä­ren, vage bal­ten­deut­schen, Groß­her­zog­tums eben­so in ihren Bann schla­gen wie deren treue Schwert­trä­ger. Alle fin­den sie 1945 ihr Ende, »an einem Tag, als die Son­ne sich nur mit Mühe erhob«, über den Greu­eln der durch Ost­preu­ßen maro­die­ren­den Sowjet­hor­den, die Ras­pail erschüt­ternd und erschüt­tert schil­dert; viel spä­ter erzählt er, daß man »den Rest für einen Moment ver­ges­sen und sich nur ver­nei­gen kann vor der Grö­ße der Kämp­fer und Zivi­lis­ten«. Ent­springt Ras­pails Zunei­gung zu deut­schen Lan­den womög­lich sei­ner Lie­be zu ver­lo­re­nen Sachen?

Mit die­sem Spiel beginnt er nun Ernst zu machen, dazu mit Pata­go­ni­en, dem König­tum, dem Traum von bei­den und dem Traum an sich, denn »jede wirk­li­che, schö­ne und edle Kul­tur grün­det sich auf den Traum« – die­ses Wort von John Cow­per Powys stellt der lebens­lan­ge Träu­mer mit offe­nen Augen Le Jeu du Roi (1976) voran.In einer men­schen­lee­ren Hei­de an der rau­hen Atlan­tik­küs­te Nord­frank­reichs erschafft sich ein Kna­be ein ima­gi­nä­res Reich, an des­sen Gren­ze ein Mann in einer halb­ver­fal­le­nen Fes­tung ein nur unwe­sent­lich rea­le­res König­tum ver­kör­pert. Der alte König in sei­nem Exil, der letz­te einer trau­ri­gen Dynas­tie, fin­det im jun­gen Ein­zel­gän­ger sei­nen Thron­fol­ger, der der Mas­se trotzt und unbe­scha­det die Zer­stö­run­gen von 1968 über­steht. Bei­de ste­hen auf ver­lo­re­nem Pos­ten: »Ich gebie­te über das Nichts. Der König ist allein. Was soll er mit Demut! Von Stolz muß er sich näh­ren, um zu über­dau­ern …« Und: »Der eigent­li­che Feind fin­det sich immer hin­ter den eige­nen Lini­en, nie­mals davor« – in der Nacht vor Ras­pails Tod, am Höhe­punkt der selbst­zer­stö­re­ri­schen wei­ßen Black-Lives-Mat­ter-Mas­sen­hys­te­rie eine gespens­ti­sche Lektüre.

Das Epos vom armen Win­ter­kö­nig läßt den Schrift­stel­ler nicht los: 1981 erscheint Moi, Antoine de Tounens, roi de Pata­go­nie. Dies­mal von Anfang an, erzählt Ras­pail die Geschich­te des fran­zö­si­schen Pro­vinz­ad­vo­ka­ten, der im 19. Jahr­hun­dert sein tra­gi­sches Leben der von Beginn an zum Schei­tern ver­ur­teil­ten Idee ver­schrie­ben hat­te, im eisi­gen Süden von Chi­le und Argen­ti­ni­en die bedräng­ten Ein­ge­bo­re­nen­stäm­me als Oré­lie-Antoine I. unter sei­nem König­tum zu ver­ei­nen und zu befrei­en. Sei­ne Herr­schaft währt nur zwei Wochen, sei­ne immer kläg­li­cher schei­tern­den, aber uner­müd­li­chen Restau­ra­ti­ons­ver­su­che bis zu sei­nem Tod. Am Ende des Romans ver­nimmt Ras­pail vom Grab Anto­i­nes augen­zwin­kernd die Beru­fung zum Gene­ral­kon­sul von Pata­go­ni­en; seit­her gehen ihm ohne jeden ent­spre­chen­den Auf­ruf aber­tau­sen­de Natu­ra­li­sa­ti­ons­an­su­chen zu, unter ande­rem von Grö­ßen der Lite­ra­tur, Wirt­schafts­ma­gna­ten und höchs­ten Mili­tärs. Das »könig­li­che Spiel« mit sei­nem Netz von Amts­trä­gern und Vize­kon­suln rund um die Welt erbaut und amü­siert den Gene­ral­kon­sul bis zum Schluß. Wie sag­te Jean Anouilh einst tref­fend und mit gro­ßer Wert­schät­zung? »Sie sind ein Kind, Ras­pail!« Und zwar eines, das auch spielt wie ein Kind – näm­lich ernst­haft: »Das König­reich Pata­go­ni­en ist die Mög­lich­keit eines Aus­wegs in ein mys­ti­sches Land, wo die Ehre mehr zählt als das Fort­kom­men, die Freund­schaft mehr als der Rang, das Aben­teu­er mehr als das Geld, das Leben mehr als die Gesund­heit und die Frei­heit mehr als alles ande­re«, wür­digt Syl­vain Tes­son – letz­tes Jahr der meist­ge­le­se­ne fran­ko­pho­ne Autor – auch die­ses Werk Ras­pails unmit­tel­bar nach des­sen Tod in Le Figa­ro.

Pata­go­ni­en! Feu­er­land! Ewi­ger Sehn­suchts­ort für Jean Ras­pail; erbar­mungs­lo­ser Zufluchts­ort für jene See­no­ma­den, die in den eisi­gen Stür­men die­ses flüs­si­gen Laby­rinths ihr arm­se­li­ges Dasein fris­te­ten. Die ers­te, zufäl­li­ge Begeg­nung mit den Ala­kalufs, »in deren Spra­che es kein Wort für Glück gab«, ist »das Fun­da­ment« von Qui se sou­vi­ent des Hom­mes … (1986), brennt sich des­sen Urhe­ber unaus­lösch­lich ein und taucht quer durch sein Werk wie­der und wie­der aus dem strö­men­den Regen der Magel­lan­stra­ße auf: »Ein wenig Glut auf dem Boden des Kanus, um das Feu­er wie­der­auf­er­ste­hen zu las­sen, zwei zer­lump­te Frau­en, ein trau­ri­ges Kind, drei Rude­rer mit leb­lo­sen Augen. Nichts hat mich die­sen Unglück­se­li­gen näher gebracht, als den Gra­ben von hun­dert Jahr­hun­der­ten ermes­sen zu haben, der mich von ihnen trennt. An des­sen jen­sei­ti­gem Ufer flo­hen sie, wei­ter noch zurück in die Ver­gan­gen­heit.« Die Kri­ti­ken sind hym­nisch, spre­chen von einem »Meis­ter­werk der Huma­ni­tät« und kon­ze­die­ren: »Selbst die Rech­te hat ein Herz«.

Und die­ses kehrt immer wie­der zurück, malt in Adi­os, Tier­ra del Fue­go (2001) ein lei­den­schaft­li­ches Pan­ora­ma sei­ner Lie­be am Ende der Welt und der Men­schen, die es umtrieb: Magel­lan und Dar­win, Schiffs­fried­hö­fe, tra­gisch geschei­ter­te Kolo­ni­sie­rungs- und Mis­si­ons­ver­su­che, ein mys­te­riö­ser Habs­bur­ger-Erz­her­zog, grau­sam-genia­li­sche India­n­er­schläch­ter und Pio­nie­re, Admi­ral Graf von Spee und die»Dresden«, ein Kom­mi­li­to­ne Bis­marcks, der die Hym­ne Pata­go­ni­ens kom­po­niert, natür­lich Oré­lie-Anto­in­eI. sowie die grau­en Wöl­fe von Admi­ral Dönitz und der ver­fem­te Schrift­stel­ler Saint-Loup.

Unmit­tel­bar vor den lite­ra­ri­schen Höhe­punk­ten sei­nes Schaf­fens schüt­telt der Roman­cier kurz nach­ein­an­der zwei bemer­kens­wer­te Außen­sei­ter aus dem Ärmel – Les Yeux d’Irène (1983) signiert er bezeich­nen­der­wei­se mit »von einem ande­ren Jean Ras­pail, aber dem­sel­ben«. Ras­pail, ohne­hin quer durch sein Werk hem­mungs­los selbst­re­fle­xiv, treibt die­ses Spiel hier auf die Spit­ze: Der von der Kri­tik hoch­ge­lob­te Roman beginnt mit exakt der glei­chen Hand­lung wie die Sie­ben Rei­ter, aber etwas weni­ger bril­lant geschrie­ben; Sze­nen, die Ras­pail wort­wört­lich in spä­te­ren Büchern wie­der­holt, ver­wirft der Ich-Erzäh­ler, eben­falls ein Schrift­stel­ler, als lächer­lich; vor allem aber steckt die­ser in einer exis­ten­zi­el­len Kri­se, weil er die Nie­der­schrift des­sen, was sein größ­ter Wurf wer­den soll­te, aus Selbst­schutz abbre­chen muß, denn: »Der Zug der Sie­ben Rei­ter war eine Ver­nei­nung des Lebens, war nur ein ver­gif­te­tes Lied vom Tod«. Statt des­sen macht sich die altern­de Haupt­fi­gur mit einer womög­lich letz­ten, blut­jun­gen Lie­be auf den wei­ten Weg zu einem Jugend­freund, sei­ner­zeit eine der ras­pail­ty­pi­schen Licht­ge­stal­ten: »Gott hat den Men­schen nicht nur dazu geschaf­fen, um sich gelang­weilt durch die­ses Tal der Trä­nen zu schlep­pen, er dul­det eini­ge strah­len­de Aus­nah­men, die die Regel bestä­ti­gen«. Das unglei­che Paar durch­quert unter­wegs eine ent­völ­ker­te, ster­ben­de France pro­fon­de, gleich­zei­tig mit den end­lo­sen Blech­ko­lon­nen des Urlau­ber-Rück­rei­se­ver­kehrs, aber auf völ­lig ande­ren Wegen, im über­tra­ge­nen wie im wört­li­chen Sinn.

Le Pré­si­dent (1985) ist ein hand­fes­ter Kri­mi­nal­ro­man, zunächst vor dem Hin­ter­grund­von Libé­ra­ti­on und Épur­a­ti­on – Epo­chen, die Ras­pail immer wie­der von der dama­li­gen »Häß­lich­keit« Frank­reichs und sei­ner Lands­leu­te spre­chen las­sen. Durch einen Akt größ­ter Nie­der­tracht tritt Kain an die Stel­le sei­nes Zwil­lings­bru­ders und bringt es durch Skru­pel­lo­sig­keit bis zum fran­zö­si­schen Staats­prä­si­den­ten, des­sen »ein­zig ver­blei­ben­de Spur einer mensch­li­chen Regung dar­in bestand, daß er sich selbst nicht moch­te« – für Abel ein schein­bar über­mäch­ti­ger Gegner …

Es fol­gen Schlag auf Schlag Ras­pails vier bedeu­tends­te Roma­ne (Pro­phe­zei­un­gen wer­den sepa­rat geführt), ohne­hin auf Deutsch erschie­ne­ne Pflicht­lek­tü­ren und zuguns­ten weni­ger bekann­ter Wer­ke hier nur kur­so­risch behandelt:

Im stark auto­bio­gra­phi­schen und scho­nungs­los uneit­len Die Blaue Insel (1988) erlebt Ras­pail 1940 aus nächs­ter Nähe das Deba­kel Frank­reichs und der Eltern­ge­nera­ti­on und spie­gel­bild­lich sein eige­nes, vor allem als gegen alle Wahr­schein­lich­keit der wirk­li­che Krieg auf das Kriegs­spiel einer Grup­pe Halb­wüch­si­ger ein­schwenkt. Hier begeg­net man auch der wie­der­keh­ren­den arche­ty­pi­schen Frau­en­ge­stalt Ras­pails: Ele­gant, hoch auf­ge­schos­sen, schlank, mit einer blon­den Haar­pracht, die »wie ein Komet« hin­ter der ath­le­ti­schen Ama­zo­ne mit einem Hang zur nack­ten Ado­ra­ti­on von Son­ne, Wind und Regen her­weht, und die ihre töl­pel­haf­ten Ver­eh­rer nach Belie­ben domi­niert. In Sire (1991) rei­tet ein jun­ger Bour­bo­ne um die letz­te Jahr­tau­send­wen­de von der Atlan­tik­küs­te über St. Denis zu sei­ner gehei­men Krö­nung in Reims; neben der roman­ti­schen Schön­heit des Epos berü­cken die detail­lier­te Schil­de­rung des Krö­nungs­ze­re­mo­ni­ells samt Uten­si­li­en – und jene der Zer­stö­rung der uralten Grab­le­ge fran­zö­si­scher Köni­ge durch den vor Haß rasen­den revo­lu­tio­nä­ren Mob. Für die Sie­ben Rei­ter (1993) genügt ein Satz: Sie ver­ei­nen, ohne ein Wort zu viel, alle Topoi Ras­pails auf dem Höhe­punkt sei­ner schrift­stel­le­ri­schen Meis­ter­schaft. Der Ring des Fischers (1995) zeigt, samt packen­der Schil­de­rung der jahr­hun­der­te­lan­gen meist rea­len Vor­ge­schich­te, den Kreuz­weg eines alten Man­nes, der sich als letz­ter einer lan­gen Rei­he von Gegen­päps­ten durch ein ster­ben­des länd­li­ches Frank­reich sei­nem eige­nen Ende ent­ge­gen schleppt. Ras­pail gelingt das Kunst­stück, trotz schis­ma­ti­scher Grund­prä­mis­se den Leser – bei einem Mini­mum an ent­spre­chen­der Dis­po­si­ti­on – im katho­li­schen Glau­ben zu stärken.

Hur­ra Zara! (1998) wur­de 2019 neu auf­ge­legt, nicht zuletzt wegen des zwi­schen­zeit­li­chen Auf­kom­mens einer gleich­na­mi­gen glo­ba­len Tex­til­ket­te unter dem ohne­hin tref­fen­de­ren Titel Les Pik­ken­dorffs, einem fik­ti­ven Adels­ge­schlecht ger­ma­ni­schen Ursprungs mit Ver­zwei­gun­gen quer über den Kon­ti­nent. Die hand­schrift­li­che Wid­mung hält fest: »Hier geht es um EUROPA, das alte, das wah­re, das ein­zi­ge!« Ras­pail, den die »roman­ti­sche Kon­zep­ti­on« der deut­schen Duo­dez­staa­ten Zeit sei­nes Lebens begeis­tert hat­te, läßt von ihrem win­zi­gen Stamm­fürs­ten­tum in einem Mäan­der der obe­ren Donau Pik­ken­dorfs bei­der­lei Geschlechts sowie unter­schied­lichs­ter Natio­na­li­tä­ten und Pro­fes­sio­nen aus­schwär­men, wel­che eine gewis­se che­va­le­resk-iro­ni­sche Hal­tung eint, die für ihn so fun­da­men­tal war. Die­se eigen­wil­li­gen Cha­rak­te­re läßt er in Krieg und Frie­den Schick­sals­stun­den des Kon­ti­nents, ver­schüt­te­te Tra­di­tio­nen oder schlicht Momen­te abklap­pern, die Ras­pail in ihren Bann geschla­gen hatten.

Le roi est mort, vive le roi! (erwei­tert 2019; dt. Über­set­zung in Vor­be­rei­tung) ist ein kurz­wei­li­ger Mono­log, gerich­tet an »Mons­ei­gneur«, einen fik­ti­ven jun­gen Bour­bo­nen-Thron­fol­ger, und eine Mischung aus roya­lis­ti­schem Mani­fest, Hand­lungs­an­wei­sung für eine geglück­te und tour d’horizon der geschei­ter­ten Restau­ra­ti­on, von Bon­nie Prin­ce Char­lie bis Mishima.

Schließ­lich: La Misé­ri­cor­de (2018). Ein lan­ge unver­öf­fent­licht geblie­be­nes Roman­frag­ment, ein dunk­ler Soli­tär, mit nur mini­ma­lem Bezug zum ver­trau­ten Kos­mos des Autors und des­sen Leit­mo­ti­ven. Zugrun­de liegt die rea­le, ent­setz­li­che Blut­tat eines katho­li­schen Land­pfar­rers im Frank­reich der Fünf­zi­ger­jah­re; die dar­an anknüp­fen­de fik­ti­ve Hand­lung kreist um Schuld und Süh­ne, Beich­te und Ver­ge­bung und die namens­ge­ben­de Barmherzigkeit.

Das letz­te Wort hat Jean Ras­pail sei­ner Novel­len­samm­lung Le son des tam­bours sur la nei­ge (2002) ent­nom­men: »Der Tod eines Schrift­stel­lers, eines Roman­ciers, hat kei­ne Ähn­lich­keit mit irgend­ei­nem ande­ren. Ein Schrift­stel­ler ist eine Art zer­streu­ter, unor­dent­li­cher Schlos­ser, inmit­ten nicht zuein­an­der pas­sen­der Schlüs­sel und Schlös­ser, unter denen er sich sein gan­zes Leben lang abmüht, den einen oder ande­ren Schlüs­sel zu fin­den, der das eine oder ande­re Schloß der See­le, des Her­zens oder des Schick­sals auf­sperrt. Man­chen gelingt es nie, was sie nicht dar­an hin­dert, zu schrei­ben. Aber allen bie­tet der eige­ne Tod – sofern er sich klar und in ange­mes­se­ner, der Refle­xi­on zuträg­li­chen Frist ankün­digt – die ein­zig­ar­ti­ge Gele­gen­heit, sich einen letz­ten Schlüs­sel nach eige­nem Geschmack zu prä­gen, der unfehl­bar jene letz­te ver­schlos­se­ne Tür öff­nen wird.

Wor­an denkt ein alter Schrift­stel­ler, den man bereits ohne Bewußt­sein wähnt, regungs­los auf sei­nem Kran­ken­haus­bett, nur mehr flach und müh­se­lig atmend, wäh­rend ein gan­zes Geflecht von Schläu­chen aus sei­ner Nase, sei­nen Armen, sei­nenNie­ren her­aus­ragt und aus ihm eine Art Tau­cher auf einem pos­tu­men Tauch­gang unter die Leben­den macht? Er jubiliert.«

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