Naturgemäß ist derlei dynamisches Geschehen besser live via Twitter, TV und Radio zu verfolgen als via Printerzeugnissen, die mit gewisser Verzögerung auf die Dinge blicken können – ein Nachteil für diese (printbezogene) Kolumne.
Gleichwohl lohnt sich ein kurzer Blick in die Tagespresse.
Zunächst zum Hergang: »Die Taliban stehen schon in Kabul« titelt die NZZ (v. 16.8.2021):
Die Taliban sind in Kabul. Sie laufen durch die Strassen, durch die Nachbarschaften, in denen sie zuvor teilweise im Versteckten operiert hatten. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, sich zu verstecken,
wobei zu fragen wäre, ob sie das vorher in der Form überhaupt nötig hatten. Nundenn: Andreas Babst, Korrespondent mit Sitz im indischen Delhi, bringt die gesamte komplexe Lage wie folgt auf den Punkt:
Die islamistischen Kämpfer warteten ab am Sonntagmorgen. Sie warteten, und Afghanistans Regierung fiel zusammen,
aber natürlich nicht ohne mehrere hundert Millionen US-Dollar außer Landes zu schaffen.
Die Zusammenfassung der dann folgenden Entwicklungen – Flucht der US-Verbündeten, Einzug der Taliban, die Possen um den Flughafen Kabuls – kann jeder ohne Bezahlschranken hier (Chronologie der Ereignisse), hier (Chaos am Flughafen) oder auch hier (»Liveticker« zur Migration) nachlesen.
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Wichtiger für die politische Lage der deutschen Rechten ist die Frage, was das für sie alles mit sich bringt. In der NZZ (v. 17.8.2021) wird eine Auffassung präsentiert, wonach »Baerbocks Ideen ein Wahlkampfgeschenk für die AfD« sein sollen.
Gemeint, aber freilich nicht gesagt, ist: Der Überbietungswettbewerb der Kartellparteien, wer mehr Afghanen aufnehmen möchte, hat begonnen, denn
Baerbock will Kontingente afghanischer Flüchtlinge in die EU holen. Einen Konsens aller Mitgliedstaaten will sie dabei gar nicht erst abwarten. Denn den, das schätzt sie wohl richtig ein, wird es kaum geben,
und so konkurrieren Grünen-Baerbock und CDU-Laschet darum, wer mehr Afghanen nach Deutschland bringen darf. Laschet legt die Meßlatte hoch, er »verspricht (die) Aufnahme aller afghanischen Helfer«. Da kann die andere bürgerliche Großpartei nicht hintanstehen.
Oliver Maksan, NZZ-Redakteur in der Berliner Dependance, meint, daß dies »ein Wahlkampfgeschenk an die AfD« sei. Doch ist dem so?
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Tatsächlich stagniert die AfD vor der neuerlichen Afghanistankrise bei 9 bis 11 Prozent in Umfragen (Wahlergebnis 2017: 12,6 Prozent), wobei man von einer bundesweiten Stammwählerschaft von 8 Prozent ausgehen darf. Nun könnte der Überbietungswettbewerb, wer schneller die Grenzen für Afghanen öffnet, für die AfD ein Game Changer sein, ist man doch die einzige parlamentarisch vertretene migrationsskeptische Partei – eine Alternative zur einhelligen Migrationstendenz der Kartellparteien also.
Diese alternative Positionierung ist lebensnotwendig für die Partei. Während sie sozial- und wirtschaftspolitische Polarisierungen der unterschiedlichen Parteiströmungen aushalten kann, fortwährende Hetzkampagnen der Medien übersteht, das eigene Ost-West-Gefälle einigermaßen austariert, Verfassungsschutz-Spielchen oder interne Zerwürfnisse immer wieder übergeht: Die AfD würde die Preisgabe des Alleinstellungsmerkmals wider die Migration der Marke BRD nicht überstehen.
Und dennoch arbeiten bestimmte Akteure in der AfD am Zustandekommen einer solchen beispiellosen Zäsur. Die Welt (v. 18.8.2021) kann daher einen Beitrag Matthias Kamanns so überschreiben: »Ausgerechnet in der Migrationsfrage droht der AfD nun Streit«, denn:
Teile der Partei sind zur Aufnahme von Afghanen bereit,
wobei jemand, der hierbei an die üblichen Verdächtigen von Uwe Junge bis Joachim Wundrak denken mag, instinktiv richtig liegt.
Aber der Reihe nach. Tino Chrupalla, Spitzenkandidat der AfD im Bundestagswahlkampf, gab – eigentlich – die einzige mögliche Generallinie der Partei vor und hob hervor, daß sich die BRD
einen weiteren Kontrollverlust wie 2015 nicht erlauben
könne:
Kurz darauf stand für die andere Spitzenkandidatin Alice Weidel fest, dass die Bundesregierung “aus den Fehlern von 2015 nichts gelernt” habe. Zudem postete die Bundestagsfraktionschefin auf Facebook “Afghanistan: Asylmoratorium jetzt!”, und forderte, man müsse das “Asylrecht nach dänischem Vorbild” aussetzen.
Auch aus dem Europaparlament kamen klare Worte. Der bayerische Abgeordnete Bernhard Zimniok teilte mit:
Eine weitere Aufnahme von Migranten darf es nicht geben,
zumal die Bundesregierung in den letzten zehn Jahren 89.591 unerlaubt nach Deutschland eingereiste Afghanen zählte. 2021 waren es bis Ende Juni bereits 4.294, wovon fast alle noch im Land sind (Quelle).
Das hätte man ergänzen und dann dabei belassen können, um sich, der AfD-typischen Migrationsthematik sicher, fortan dem katastrophalen Krisenmanagement der Bundesregierung bei der Evakuierung ihrer Staatsbürger oder auch, größere Bahnen ziehend, der verhängnisvollen Rolle der NATO-Staaten im Nahen und Mittleren Osten widmen zu können.
Aber, wie Kamann zusammenfaßt, öffnete sich dann plötzlich ein Spalt des Dissens just in einer Frage, in der sich die AfD keinen leisten kann:
Uneins aber ist die Partei bei einer Migrationsfrage, die einige tausend Menschen betrifft: Soll Deutschland jene Ortskräfte aufnehmen, die in Afghanistan für die Bundeswehr und Hilfsorganisationen arbeiteten und nun um ihr Leben fürchten? Für deren Rettung durch Deutschland plädieren der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, der Berliner Fraktionschef Georg Pazderski sowie AfD-Chef Jörg Meuthen.
Um Gaulands Positionierung in diesem Fall ist es schade, wohingegen man bei Meuthen annehmen durfte, daß derartiges passiert: Man hat längst das Gefühl, daß der Noch-Parteichef immer erstmal abwartet, was Chrupalla und Weidel denken und was die Basis mehrheitlich unterstützt, um dann das direkte Gegenteil als eigene Position zu formulieren. Meuthens Ägide ist zwar bald historisiert, aber kann sich schädlich bis zur Wahl auswirken.
Meuthen also auf Facebook:
Wir haben eine moralische Pflicht, nach Maßgabe unserer Möglichkeiten nun auch jene Afghanen zu retten, die unmittelbar für uns gearbeitet haben und nun in äußerster Lebensgefahr sind. Diese Menschen dürfen wir nun nicht zurückweisen.
Uwe Junge sekundierte bei Twitter:
Wer jetzt nicht die Verantwortung für diejenigen verspürt, die uns tatsächlich geholfen haben, ist ein ehrloser und charakterloser Lump,
womit er moralpolitischen Druck aufbaut, den man ansonsten nur von Grünen und linken Interessengruppen aller Art kennt. Auch der Niedersachse Wundrak spricht hier – entgegen Weidels und Chrupallas Statements – explizit von einer »Pflicht« (!), den »Ortskräften« in Deutschland (!) neuen Raum zu geben – nicht etwa in den kulturell und religiös eng verwandten Nachbarländern Usbekistan oder Tadschikistan, wogegen wohl niemand etwas einzuwenden hätte, zumal bis zu ein Drittel der afghanischen Bevölkerung de facto ethnokulturelle Usbeken und Tadschiken sind.
Aber in Deutschland? Weshalb? Mit einem zeitlich befristeten Job für bundesrepublikanische Einrichtungen geht wohl kaum ein Rechtsanspruch auf Familienansiedlung in Deutschland einher, und zwar auch dann nicht, wenn die Sicherheitslage in Afghanistan eine – mit dem US-Abzug zu erwartende – Wendung nimmt.
Wundrak derweil im Welt-Wortlaut:
Ich persönlich halte es für unsere Pflicht, diese Menschen, die uns treu geholfen haben und übrigens auch sicherheitsüberprüft sind, samt der engeren Familie in Deutschland in Sicherheit zu bringen,
wobei er damit die Büchse der Pandora öffnen würde.
Wer legt fest, wer »uns« wirklich »geholfen« hat? Ist das jeder Afghane, der mal eine Anstellung seitens der Bundeswehr und ihrer Partner erhalten hat und sehr wohl um die realen Machtverhältnisse in seinem Heimatland gewußt haben dürfte, also eine für lokale Verhältnisse gut dotierte, aber zeitlich limitierte Wette auf seine nahe Zukunft annahm? Ist das jeder Afghane, der mal für eine internationale oder deutsche NGO an der Seite bundesrepublikanischer Kräfte arbeitete?
Ist Wundrak bewußt, daß dann jede beliebige in Afghanistan einst aktive Institution, die oftmals mit migrationsbefürwortenden Mitarbeitern bestückt ist, Bescheinigungen an Afghanen ausstellen könnte, die behauptet, daß man es hierbei mit einer »Ortskraft« zu tun hat, was, inklusive Familiennachzug (!), dann doch interessant werden dürfte?
Ist Wundrak bewußt, daß bis zu fünf Millionen Afghanen ihr Heimatland verlassen zu beabsichtigen, und daß dann Deutschland eines der Primärziele darstellen würde?
Man kann schlechterdings nicht Angela Merkel und Konsorten vorwerfen, Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten 2015 »eingeladen« zu haben, indem sie von lediglich einigen Tausend »Schutzbedürftigen« ausging und aus den anfänglichen paar Tausend dann – erwartungsgemäß – fast zwei Millionen wurden, wenn man selbst beginnt, ohne jede Not von einer »Pflicht« zu sprechen, »diese Menschen, die uns treu geholfen haben« – »samt der engeren Familie« – ausgerechnet »in Deutschland in Sicherheit zu bringen« und nicht etwa in den Nachbarländern, die man tatsächlich vollumfänglich unterstützen sollte.
Zuletzt die Frage: Wieso prescht der unterlegene Kandidat zur AfD-Spitzenkandidatur überhaupt öffentlichkeitswirksam vor, wenn doch die von der Basis gewählten Kandidaten klare, programmgetreue Standpunkte vorgegeben haben und man auch als Politneuling wissen dürfte, daß sich die Mainstreampresse auf derlei AfD-immanente Widersprüche stürzen würde?
Die Welt zeigt aber immerhin, daß derlei Avancen in Richtung selektiver Migration aus Afghanistan nicht unwidersprochen bleiben. Maximilian Krah und Björn Höcke werden beispielsweise mit kurzen Zitaten angeführt, wobei es darüber hinaus insbesondere die Parteijugend in Gestalt der Jungen Alternative (JA) ist, die Ordnung in die widersprüchlich werdende Positionierung ihrer Mutterparteifunktionäre zu bringen versucht.
JA-Chef Carlo Clemens brachte Kernforderungen auf den Punkt:
Dt. Staatsbürger evakuieren, Verantwortliche für diesen sinnlosen Krieg benennen, Flüchtlinge heimatnah in Sicherheit bringen, damit sie beim Wiederaufbau helfen können und sich ein 2015 nicht wiederholt – das sollte jetzt Kommunikationslinie der #AfD sein. #Afghanistan #Kabul
— Carlo Clemens (@clemens_carlo) August 17, 2021
Darauf aufbauend hat die JA zehn Punkte formuliert, die das Zeug dazu haben, eine einigermaßen konsensfähige Positionierung im Sinne der AfD-Wähler und ‑Sympathisanten darzustellen:
Hinter diese Thesen sollte die AfD in der heißen Wahlkampfphase nicht zurückfallen. Afghanistan kann tatsächlich zum erwähnten Game Changer werden, wenn alle Parteien fortan die bunte Willkommenskultur 2.0 predigen und jene Wähler, die an deren Sinnhaftigkeit zweifeln, eine Alternative suchen werden.
Hierfür bedarf es aber programmatischer Einigkeit vom Infostand bis in die Chefetage. Und plötzlich wären die einst erzielten 12,6 Prozent plus 1, 2 oder auch 3 Prozent nicht länger mehr auszuschließen.
Rheinlaender
Die ehemaligen Ortskräfte haben nicht Deutschland unterstützt, sondern Deutschland hat versucht, den Aufbau eines afghanischen Staates zu unterstützen und hat dabei mit Afghanen zusammengearbeitet. Eine Verpflichtung Deutschlands dazu, diese Kräfte und ihre Familien aufzunehmen und zu versorgen, ergibt sich daraus nicht, auch wenn Aktivisten versuchen, moralischen Druck aufzubauen (man habe die Afghanen "zurückgelassen"; in ihrer eigenen Heimat wohlgemerkt).
Auffällig ist auch, dass keinerlei Debatte über die Tatsache stattfindet, dass die Bundesrepublik gerade die größte militärische Niederlage ihrer Geschichte erlitten hat. Statt dessen redet man über Frauenrechte in Afghanistan, welche die Afghanen selbst nicht für wichtig genug hielten, um sie zu verteidigen.
Überhaupt dominieren humanitaristische Themen die Diskussion, während nationale Interessen und harte sicherheitspolitische Fragen praktisch nicht vorkommen. Die deutsche Standantwort auf jegliches problematische Geschehen in der Welt ist es mittlerweile, möglichst viele Menschen nach Deutschland umzusiedeln. Im Fall Afghanistans belohnt man damit die Feiglinge, die ihre Heimat in der Stunde der Not im Stich lassen, während andere Afghanen für sie kämpfen, etwa im Pandschir-Tal.