Bürgerpflichten

PDF der Druckfassung aus Sezession 98/ Oktober 2020

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Wenn man in Kame­run mit dem Auto fuhr und auf der Stra­ße ein paar belaub­te Zwei­ge lie­gen sah, wuß­te man, daß hin­ter der nächs­ten Kur­ve irgend etwas los war: bes­ser, man ging vom Gas und roll­te auf das lie­gen­ge­blie­be­ne Fahr­zeug zu, auf den umge­kipp­ten Holz­las­ter, den aus­ge­brann­ten Klein­bus. Je wel­ker die Blät­ter an den Zwei­gen, des­to län­ger her das Gan­ze. Ver­su­che der deut­schen Ent­wick­lungs­hil­fe, Siche­rungs- und Warn­stan­dards auf den Lehm­pis­ten und weni­gen Asphalt­stra­ßen ein­zu­füh­ren, schei­ter­ten so voll­stän­dig, daß man ein­fach auf­gab. Denn die Warn­schil­der fand man weni­ge Stun­den, nach­dem man sie auf­ge­stellt hat­te, als Teil eines Blech­da­ches oder als Schmuck an der Wand einer Hüt­te wie­der, und blin­ken­de Warn­lam­pen dien­ten als Hüt­ten­spaß, bis die Bat­te­rien alle waren.

Das alles ist fünf­und­zwan­zig Jah­re her, und ich weiß nicht, wie es heu­te dort aus­sieht. An den schlimms­ten Unfall mei­nes Lebens roll­te ich an einem Sonn­tag kurz nach Tages­an­bruch her­an: Sint­flut­ar­ti­ger Regen hat­te eine Stra­ße unter­spült, die hal­be Fahr­bahn war den Hang hin­un­ter­ge­rutscht, über die Kan­te war soeben das zwei­te Auto gestürzt. Ich fuhr zügig und wur­de gera­de noch von einem Mann gewarnt, der mit der Mache­te die übli­chen Warn­zwei­ge von einem Busch schlug. Ich wich aus und brems­te scharf. Auf dem Bei­fah­rer­sitz: einer der deut­schen Tief­bau­in­ge­nieu­re des Pro­jekts. Er sprang aus dem Wagen und rann­te auf die Kur­ve zu, um zu war­nen, auf­zu­hal­ten, abzu­si­chern. Unten am Hang schrie eine Frau mit blu­ti­gem Gesicht. Ihr Mann hing schwer­ver­letzt aus dem Rah­men der Front­schei­be, in der sein Kopf stak. Ihr Auto war aus der Kur­ve in die unge­si­cher­te Unfall­stel­le gerutscht und hat­te das ers­te Auto noch wei­ter den Hang hin­un­ter­ge­drückt. Des­sen Fah­rer war der Mann mit den Zwei­gen. Bloß hat­te er sich, bevor er ans War­nen ging, bei den Hüt­ten in der Nähe umge­se­hen, einen Kaf­fee geschlürft und drei Tep­pi­che zwi­schen­ge­la­gert, deren Ver­bleib im Auto ihm zu unsi­cher war.

Wir stell­ten unse­ren Wagen vor die Kur­ve und sperr­ten die Stra­ße ab, bis die Poli­zei kam. Das dau­er­te andert­halb Stun­den. Als der deut­sche Inge­nieur tobend den säu­mi­gen Tep­pich­be­sit­zer ver­haf­tet sehen woll­te, ver­stand man ihn nicht. Wel­che Pflicht soll­te er ver­letzt haben? Dort lägen sie doch, die Zwei­ge, und jeder wis­se, daß nie­mand wis­se, was hin­ter der nächs­ten Kur­ve auf einen warte.

Den Schwer­ver­letz­ten hat­te man gebor­gen, auf dem Bei­fah­rer­sitz, einer Holz­kis­te, den Sohn gefun­den: tot. Wir fuh­ren Frau und Mann zur Kran­ken­sta­ti­on, weil die Poli­zei sich wei­ger­te, Schlamm und Dreck mit ins Auto zu neh­men. Als wir drei Wochen spä­ter wie­der in die Gegend kamen, hiel­ten wir an, um uns zu erkun­di­gen. Da war der Mann schon ver­stor­ben. Die Frau lag im Fie­ber, einer ihrer Brü­der bewach­te sie, viel­mehr: die Infu­si­on und das Geraf­fel, das die Fami­lie her­bei­ge­schleppt hat­te, um sich in der Sta­ti­on häus­lich ein­zu­rich­ten. Wer kei­ne Ver­wand­ten hat­te, die Pfle­ge und Ver­pfle­gung über­neh­men konn­ten, ver­en­de­te, oder er zahl­te bar und kauf­te sich damit in eine Sip­pe am Ort ein für die Dau­er sei­ner Bettlägerigkeit.

Wo ist der Staat?, frag­te ich am Abend den stu­dier­ten Imker Peter, der aus dem eng­lisch­spra­chi­gen Teils Kame­runs stamm­te und eigent­lich Sozio­lo­ge war. Da man jedoch am Äqua­tor nur sehr weni­ge Sozio­lo­gen brauch­te, hat­te er sich auf Bie­nen ver­legt und bezog dar­über hin­aus von einer deut­schen Orga­ni­sa­ti­on ein monat­li­ches Hono­rar als Bera­ter in einem AIDS-Pro­jekt. Eine Fest­an­stel­lung nach BRD-Tarif hat­te er abge­lehnt: Schon jetzt ver­sorg­te er mit sei­nem Ver­dienst eine Groß­fa­mi­lie. Für jede Mark mehr käme eine Tan­te mehr auf den Hof – eine Gesetz­mä­ßig­keit, der nie­mand ent­rin­nen kön­ne in  einem Land, in dem im Leben nichts davon abhän­ge, ob der Staat irgend etwas gut ein­ge­rich­tet habe.

Wo der Staat ist?, frag­te Peter zurück. Na, es gebe den Staat, aber Ord­nung schaf­fe er nicht. Ord­nung herr­sche, wo der Staat kei­ne Rol­le spie­le. Es gebe nur eine Pflicht: alles für die Fami­lie, für die eige­nen Leu­te. Ist bei uns anders, sag­te ich. Da gibt es Bür­ger­pflich­ten, und die neh­me man ernst, denn alles sei sehr gut ein­ge­rich­tet. Ver­laß dich nicht zu sehr dar­auf, sag­te Peter. Der Staat ist ein Räu­ber, auch bei euch. Was bleibt, ist die Familie.

Das ist jetzt fünf­und­zwan­zig Jah­re her.

 

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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