Wenn man in Kamerun mit dem Auto fuhr und auf der Straße ein paar belaubte Zweige liegen sah, wußte man, daß hinter der nächsten Kurve irgend etwas los war: besser, man ging vom Gas und rollte auf das liegengebliebene Fahrzeug zu, auf den umgekippten Holzlaster, den ausgebrannten Kleinbus. Je welker die Blätter an den Zweigen, desto länger her das Ganze. Versuche der deutschen Entwicklungshilfe, Sicherungs- und Warnstandards auf den Lehmpisten und wenigen Asphaltstraßen einzuführen, scheiterten so vollständig, daß man einfach aufgab. Denn die Warnschilder fand man wenige Stunden, nachdem man sie aufgestellt hatte, als Teil eines Blechdaches oder als Schmuck an der Wand einer Hütte wieder, und blinkende Warnlampen dienten als Hüttenspaß, bis die Batterien alle waren.
Das alles ist fünfundzwanzig Jahre her, und ich weiß nicht, wie es heute dort aussieht. An den schlimmsten Unfall meines Lebens rollte ich an einem Sonntag kurz nach Tagesanbruch heran: Sintflutartiger Regen hatte eine Straße unterspült, die halbe Fahrbahn war den Hang hinuntergerutscht, über die Kante war soeben das zweite Auto gestürzt. Ich fuhr zügig und wurde gerade noch von einem Mann gewarnt, der mit der Machete die üblichen Warnzweige von einem Busch schlug. Ich wich aus und bremste scharf. Auf dem Beifahrersitz: einer der deutschen Tiefbauingenieure des Projekts. Er sprang aus dem Wagen und rannte auf die Kurve zu, um zu warnen, aufzuhalten, abzusichern. Unten am Hang schrie eine Frau mit blutigem Gesicht. Ihr Mann hing schwerverletzt aus dem Rahmen der Frontscheibe, in der sein Kopf stak. Ihr Auto war aus der Kurve in die ungesicherte Unfallstelle gerutscht und hatte das erste Auto noch weiter den Hang hinuntergedrückt. Dessen Fahrer war der Mann mit den Zweigen. Bloß hatte er sich, bevor er ans Warnen ging, bei den Hütten in der Nähe umgesehen, einen Kaffee geschlürft und drei Teppiche zwischengelagert, deren Verbleib im Auto ihm zu unsicher war.
Wir stellten unseren Wagen vor die Kurve und sperrten die Straße ab, bis die Polizei kam. Das dauerte anderthalb Stunden. Als der deutsche Ingenieur tobend den säumigen Teppichbesitzer verhaftet sehen wollte, verstand man ihn nicht. Welche Pflicht sollte er verletzt haben? Dort lägen sie doch, die Zweige, und jeder wisse, daß niemand wisse, was hinter der nächsten Kurve auf einen warte.
Den Schwerverletzten hatte man geborgen, auf dem Beifahrersitz, einer Holzkiste, den Sohn gefunden: tot. Wir fuhren Frau und Mann zur Krankenstation, weil die Polizei sich weigerte, Schlamm und Dreck mit ins Auto zu nehmen. Als wir drei Wochen später wieder in die Gegend kamen, hielten wir an, um uns zu erkundigen. Da war der Mann schon verstorben. Die Frau lag im Fieber, einer ihrer Brüder bewachte sie, vielmehr: die Infusion und das Geraffel, das die Familie herbeigeschleppt hatte, um sich in der Station häuslich einzurichten. Wer keine Verwandten hatte, die Pflege und Verpflegung übernehmen konnten, verendete, oder er zahlte bar und kaufte sich damit in eine Sippe am Ort ein für die Dauer seiner Bettlägerigkeit.
Wo ist der Staat?, fragte ich am Abend den studierten Imker Peter, der aus dem englischsprachigen Teils Kameruns stammte und eigentlich Soziologe war. Da man jedoch am Äquator nur sehr wenige Soziologen brauchte, hatte er sich auf Bienen verlegt und bezog darüber hinaus von einer deutschen Organisation ein monatliches Honorar als Berater in einem AIDS-Projekt. Eine Festanstellung nach BRD-Tarif hatte er abgelehnt: Schon jetzt versorgte er mit seinem Verdienst eine Großfamilie. Für jede Mark mehr käme eine Tante mehr auf den Hof – eine Gesetzmäßigkeit, der niemand entrinnen könne in einem Land, in dem im Leben nichts davon abhänge, ob der Staat irgend etwas gut eingerichtet habe.
Wo der Staat ist?, fragte Peter zurück. Na, es gebe den Staat, aber Ordnung schaffe er nicht. Ordnung herrsche, wo der Staat keine Rolle spiele. Es gebe nur eine Pflicht: alles für die Familie, für die eigenen Leute. Ist bei uns anders, sagte ich. Da gibt es Bürgerpflichten, und die nehme man ernst, denn alles sei sehr gut eingerichtet. Verlaß dich nicht zu sehr darauf, sagte Peter. Der Staat ist ein Räuber, auch bei euch. Was bleibt, ist die Familie.
Das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her.