Rechtsstaat, Sozialstaat und Ordnungsstaat

von Dimitrios Kisoudis

PDF der Druckfassung aus Sezession 98/ Oktober 2020

Ord­nung, nicht Dif­fe­renz, ist der Grund­be­griff rech­ten Den­kens. Unter­schie­de setzt die Ord­nung zwar vor­aus. Ent­schei­dend ist aber, daß unter­schied­li­che Din­ge nicht nur getrennt, son­dern ihrer Eigen­art ent­spre­chend zuein­an­der in Bezie­hung gesetzt werden.

»Ord­nung ist die Anord­nung« (dis­po­si­tio), sagt Augus­ti­nus von Hip­po, »die glei­che und unglei­che Din­ge an ihren jewei­li­gen Ort ver­teilt.« Auf der berühm­ten Pax-Tafel im Got­tes­staat (Buch 19, Kapi­tel 13) geht es um den Frie­den im himm­li­schen Staat. Im irdi­schen Staat ist der Frie­de gestört. Weil die Men­schen aber von einem Ver­lan­gen nach Frie­den ange­trie­ben sind, stel­len sie die Ord­nung in der »geord­ne­ten Ein­tracht der Bür­ger im Befeh­len und Gehor­chen« wie­der her und bewah­ren sie.

»Dis­po­si­tio« ist ein wich­ti­ger Begriff der anti­ken Rhe­to­rik. Er bezeich­net die funk­tio­na­le und ganz­heit­li­che Anord­nung von Argu­men­ten im Pla­nungs­sta­di­um einer Rede. Die poli­ti­sche Geschich­te des Begriffs­felds erstreckt sich bis in die post­struk­tu­ra­lis­ti­sche Sozio­lo­gie. Michel Fou­cault bezeich­net als »Dis­po­si­tiv« eine Herr­schafts­pra­xis – die Ver­net­zung von ver­ba­len, admi­nis­tra­ti­ven oder insti­tu­tio­nel­len Ele­men­ten, die die Gesell­schaft glie­dern und ord­nen. Wie so oft bei den Post­struk­tu­ra­lis­ten wird hier eine an sich gute Sache mit nega­ti­vem Unter­ton ana­ly­siert und zur Demon­ta­ge frei­ge­ge­ben. Gesell­schaft ist näm­lich Trennung.

Nach dem Mythos der Hin­dus ent­stan­den aus den Kör­per­tei­len des gött­li­chen Rie­sen Puru­sha die Kas­ten der indi­schen Gesell­schaft: aus dem Mund die geist­li­chen Brah­ma­nen, aus den Armen die krie­ge­ri­schen Ksha­try­ia, aus den Bei­nen und Füßen die Bür­ger, Bau­ern und Vor­läu­fer der Pro­le­ta­ri­er. Der fran­zö­si­sche Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Geor­ges Dumé­zil, ein rech­ter Men­tor und Leh­rer Fou­caults, unter­such­te die Mythen der indo­eu­ro­päi­schen Völ­ker von den Indern über die Grie­chen bis zu den Ger­ma­nen und deck­te eine Drei­er­struk­tur am Göt­ter­him­mel auf, die er »tri­funk­tio­na­le Ideo­lo­gie« nann­te. Ein bedeu­ten­der Gott stand für die Funk­ti­on des Rechts und der Leh­re, ein ande­rer Gott für die Funk­ti­on der Herr­schaft und Gewalt, ein drit­ter Gott für die Funk­ti­on der Frucht­bar­keit. Die­se Struk­tur der sozia­len Tren­nung ver­band die Reli­gi­on des Hin­du­is­mus mit dem Kas­ten­we­sen. In Struk­tur­gleich­heit (Iso­mor­phie) galt dies für Mythos und Gesell­schaft der übri­gen unter­such­ten Völ­ker. Die His­to­ri­ker der mar­xis­tisch inspi­rier­ten Anna­les-Schu­le ergänz­ten Dumé­zils Befun­de: Im Mit­tel­al­ter bot das Chris­ten­tum, des­sen dog­ma­ti­scher Kern in der Tri­ni­tät von Vater, Sohn und Hei­li­gem Geist besteht, die Vor­la­ge für die drei­glied­ri­ge Stän­de­ge­sell­schaft aus Kle­rus (Lehr­stand), Aris­to­kra­tie (Wehr­stand) und Nährstand.

Unnö­tig zu erwäh­nen, daß Dumé­zil für sei­ne Unter­su­chun­gen von Kon­kur­ren­ten unter Faschis­mus­ver­dacht gestellt wur­de. Dabei stand sei­ne Theo­rie durch­aus der struk­tu­ra­lis­ti­schen Eth­no­lo­gie eines Clau­de Lévi-Strauss nahe, der eine Struk­tur­gleich­heit von Tot­emis­mus ­(Iden­ti­fi­ka­ti­on von Totem­tier und Mensch), Spra­che und Wirk­lich­keit als »wil­des Den­ken« bei den soge­nann­ten Natur­völ­kern aus­mach­te. Der Unter­schied zwi­schen Dumé­zil und sei­nen lin­ken Geis­tes­ver­wand­ten: Die Lin­ken füh­ren Wirk­lich­keit auf Spra­che zurück, der Rech­te spricht der Mytho­st­ruk­tur ein Eigen­le­ben zu, das sich weit­ge­hend unab­hän­gig von Zeit und Raum bei ver­wand­ten Völ­kern aktua­li­siert oder überliefert.

Selbst nach dem Tod der Göt­ter erwei­sen sich die drei Funk­tio­nen als beharr­lich. Je nach­dem, wel­che Funk­ti­on im Zen­trum steht, wan­delt der moder­ne Staat sein Wesen. Drei Staa­ten haben sich in der Moder­ne para­dig­ma­tisch abge­löst: der Obrig­keits­staat, der Rechts­staat und der Sozialstaat.

Der Obrig­keits­staat ist der Staat der Aris­to­kra­tie, des zwei­ten Stan­des. Die Rück­bin­dung legi­ti­mer Herr­schaft an den ers­ten Stand, den Kle­rus, wie sie im Got­tes­gna­den­tum des Mit­tel­al­ters noch unab­ding­bar war, geht ver­lo­ren. Staat­li­che Legi­ti­mi­tät grün­det sich auf die wirk­sa­me Hand­ha­bung des Gewalt­mo­no­pols durch einen Herr­scher, der wohl­ge­merkt immer noch dem Krie­ger­stand ange­hört. Der Rechts­staat mar­kiert im 19. Jahr­hun­dert den Kom­pro­miß zwi­schen zwei­tem und drit­tem Stand, Sol­dat und Bür­ger, Gewalt und Gesetz. Staat­li­che Legi­ti­mi­tät liegt in der Vor­stel­lung der Rechts­staats­ver­tre­ter nicht in der Auto­ri­tät der Obrig­keit begrün­det, son­dern in der Gewähr­leis­tung und im Schutz bür­ger­li­cher Frei­heits­rech­te. Dazu gehört, daß der Staat Hin­der­nis­se besei­tigt, die den Bür­ger an der Ver­wirk­li­chung sei­ner Frei­heit hindern.

Anders als der heu­ti­ge Sprach­ge­brauch ver­mu­ten läßt, steht der Rechts­staat nicht im Gegen­satz zur Mon­ar­chie, son­dern ­bezeich­net die Ein­bin­dung des Bür­ger­tums in die preu­ßi­sche Mon­ar­chie – zuerst im König­reich, dann im Deut­schen Kai­ser­reich. Der Rechts­staats­dis­kurs spie­gelt den Blick des Bür­gers auf die­ses Zwit­ter­we­sen aus bür­ger­li­chem Rechts­staat und aris­to­kra­ti­schem Sol­da­ten­staat. Das Kai­ser­reich ist zwar Rechts­staat, aber nicht nur. Das Heer bleibt ein »Staat im Staa­te«, beherrscht von der Aris­to­kra­tie. Die Wehr­ver­fas­sung steht jen­seits der geschrie­be­nen Ver­fas­sung. Der Kai­ser trägt die Kom­man­do­ge­walt und ist bei Anord­nun­gen in Kom­man­do­sa­chen vom Minis­ter unab­hän­gig. Der Gene­ral­stabs­chef ist für die stra­te­gi­sche Kriegs­vor­be­rei­tung ver­ant­wort­lich und dem Kriegs­mi­nis­ter übergeordnet.

Wie Carl Schmitt aus­ge­führt hat, ste­hen die zen­tra­len Figu­ren Sol­dat und Bür­ger im Zwei­ten Reich durch­aus in einem Span­nungs­ver­hält­nis, prä­fi­gu­riert im Ver­fas­sungs­kon­flikt zwi­schen 1862 und 1866: In Vor­be­rei­tung der Eini­gungs­krie­ge will Bis­marck eine Hee­res­re­form durch­füh­ren, aber das Par­la­ment ver­wei­gert ihm das Bud­get. Da regiert Bis­marck vier Jah­re gegen das Par­la­ment, bit­tet nach dem Sieg von König­grätz rück­wir­kend um Straf­frei­heit (Indem­ni­tät) und läßt sich nach­träg­lich das Bud­get geneh­mi­gen. Bis­marck schafft Fak­ten und fin­det eine Theo­rie. Nach der »Lücken­theo­rie« ent­schei­det in einem Streit zwi­schen Par­la­ment und König, für den die Ver­fas­sung kei­ne Lösung vor­sieht, das soge­nann­te mon­ar­chi­sche Prin­zip – eine Erfin­dung des kon­ser­va­ti­ven Staats­theo­re­ti­kers Fried­rich Juli­us Stahl.

Hier wird die Naht­stel­le zwi­schen Obrig­keits­staat und Rechts­staat sicht­bar. Denn Paul Laband, Begrün­der des staats­recht­li­chen Posi­ti­vis­mus, pflich­tet Bis­marck letzt­lich bei, indem er die Unter­schei­dung zwi­schen for­mel­lem und mate­ri­el­lem Gesetz ent­wi­ckelt. For­mel­les Gesetz sei jeder vom Par­la­ment ver­ab­schie­de­te Akt, das mate­ri­el­le Gesetz dage­gen gren­ze durch Rechts­satz zwei Wil­lens­sphä­ren von Rechts­sub­jek­ten – näm­lich des Mon­ar­chen und des Par­la­ments – von­ein­an­der ab. Weil das Haus­halts­ge­setz nur for­mell sei, habe des­sen Miß­ach­tung »nicht not­wen­dig den Cha­rak­ter der Rechtswidrigkeit«.

Auch dank die­ser oppor­tu­nen Kon­struk­ti­on schwingt sich der Rechts­positivist Laband zum füh­ren­den Staats­recht­ler des Kai­ser­reichs auf. Er über­trägt die Metho­de der for­mal-logi­schen Unter­su­chung von Geset­zen aus dem Zivil­recht ins Staats­recht. Recht ist Gesetz. Die Tech­nik des Sub­su­mie­rens ver­schie­de­ner Fäl­le unter eine Norm kommt ohne Natur­recht oder Ethik aus, aber nicht ohne den Staat. Aus der schüt­zen­den Scha­le der Mon­ar­chie löst sich der Rechts­po­si­ti­vis­mus erst in der Wei­ma­rer Repu­blik. Hans Kel­sen redu­ziert ihn zur rei­nen Rechts­leh­re, einem selbst­re­fe­ren­ti­el­len Sys­tem, in dem poli­ti­sche Fra­gen ohne Ant­wort blei­ben. Nun ist kein König mehr da, der die Lücken in der Ver­fas­sung fül­len kann.

Kel­sen for­dert dafür die Ver­fas­sungs­ge­richts­bar­keit, wäh­rend Carl Schmitt an der Auto­ri­tät des Reichs­prä­si­den­ten fest­hält. Der Reichs­prä­si­dent wird zum Lücken­bü­ßer für den Mon­ar­chen, ver­mag mit sei­ner rei­nen Amts­au­tori­tät aber nicht die Löcher zu stop­fen, die Par­tei­en mit welt­an­schau­li­chem Tota­li­täts­an­spruch in die Ver­fas­sung rei­ßen. Beglei­tend zum poli­ti­schen Streit kommt es in Wei­mar zum Metho­den­streit der Staats­rechts­leh­rer. Gegen Kel­sen argu­men­tie­ren Carl Schmitt und Rudolf Smend ent­schie­den poli­tisch. Der Kul­tur­pro­tes­tant Smend führt den Begriff der Inte­gra­ti­on in die Staats­theo­rie ein und erblickt den »Sinn der Ver­fas­sung« dar­in, durch elas­ti­sche Rechts­aus­le­gung die Gesell­schaft in den Staat zu inte­grie­ren. Der katho­li­sche Eta­tist Schmitt trennt zwi­schen einem poli­ti­schen und einem unpo­li­tisch-bür­ger­li­chen Teil der Ver­fas­sung und bestimmt das Poli­ti­sche als Unter­schei­dung zwi­schen Freund und Feind.

Der Metho­den­streit über­steht das Wei­ma­rer Inter­mez­zo und kehrt in den fünf­zi­ger Jah­ren in der Bun­des­re­pu­blik wie­der. Dort bestim­men sei­ne Fron­ten die wich­tigs­te staats­recht­li­che Debat­te der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Geschich­te: die Forst­hoff-Abend­roth-Kon­tro­ver­se, ob die Bun­des­re­pu­blik ein Rechts­staat oder ein Sozi­al­staat sein soll.

Die Bun­des­re­pu­blik tilgt zu Beginn die auto­ri­tä­ren Ele­men­te des Obrig­keits­staats aus der Staats­ideo­lo­gie. Gus­tav Rad­bruch, in Wei­mar SPD-Abge­ord­ne­ter und Reichs­jus­tiz­mi­nis­ter, macht die For­meln »Befehl ist Befehl« und »Gesetz ist Gesetz« für den blin­den Gehor­sam ver­ant­wort­lich, der angeb­lich die Macht­durch­set­zung der Natio­nal­so­zia­lis­ten ermög­licht habe. Damit reißt er die bei­den Grund­la­gen des Zwei­ten Reichs – sol­da­ti­sches und juris­ti­sches Ethos – ein, um mit sei­ner For­de­rung nach einem neu­en Natur­recht den Weg für eine Zivil­re­li­gi­on der Ver­fas­sung zu ebnen. Die­se Reli­gi­on wird sich um den Begriff des Sozia­len ran­ken. Im Kai­ser­reich waren Sol­dat und Bür­ger die prä­gen­den Gestal­ten, in der Bun­des­re­pu­blik wer­den es der Bür­ger und der Sozi­al­ar­bei­ter oder Sozio­lo­ge sein.

Der Sozi­al­staat ist der Staat der drit­ten Funk­ti­on, er rückt die Frucht­barkeit und die Wirt­schaft ins Zen­trum. In der Wei­ma­rer Repu­blik war Sozi­al­staat­lich­keit noch kein Gegen­stand pro­mi­nen­ter Debat­ten. Sie mach­te sich nur ansatz­wei­se in der Ein­rich­tung eines Reichs­wirt­schafts­rats bemerk­bar, in dem Ver­tre­ter des Wirt­schafts­le­bens eine Reprä­sen­tanz neben dem Par­la­ment bil­den soll­ten. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg hat sich die Lage ver­än­dert. Die Men­schen­rechts­char­ta der Ver­ein­ten Natio­nen rich­tet sich 1948 mit der For­de­rung nach Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz nicht nur an die Staa­ten, son­dern an »alle Orga­ne der Gesell­schaft«. Die bür­ger­li­chen Frei­heits­rech­te, eigent­lich Abwehr­rech­te gegen den Staat, wer­den durch Teil­ha­be- und Anspruchs­rech­te ergänzt und abge­löst. Sozi­al ist an die­sen Rech­ten, daß sie gegen­über dem Mit­bür­ger im Pri­vat­rechts­ver­kehr gel­tend gemacht wer­den kön­nen. Die­se Eigen­schaft der Grund­rech­te wird fort­an »Dritt­wir­kung« genannt.

Und genau dar­um dreht sich die Forst­hoff-Abend­roth-Kon­tro­ver­se. Soll die Bun­des­re­pu­blik ein Rechts­staat sein, in dem Grund­rech­te nur Nor­men sind, die bür­ger­li­che Frei­hei­ten vor Ein­grif­fen des Staa­tes schüt­zen? Oder soll sie ein Sozi­al­staat sein, in dem Grund­rech­te als Wer­te die Umge­stal­tung der sozia­len Ver­hält­nis­se und der Güter­ver­tei­lung gestatten?

Ernst Forst­hoff, ein bedeu­ten­der Schü­ler Carl Schmitts, stellt lapi­dar fest: »Das Grund­ge­setz hat kei­nen spe­zi­fi­schen sozia­len Gehalt.« Statt­des­sen ord­net er die Sozi­al­funk­ti­on der Ver­wal­tung zu. Sie habe durch Daseins­vor­sor­ge dar­auf zu ach­ten, daß die Zutei­lung von Wirt­schafts­gü­tern wie Was­ser, Elek­tri­zi­tät oder Ver­kehrs­mit­teln den Erfor­der­nis­sen der Wohl­fahrt gerecht wer­de. Daseins­vor­sor­ge ist damals also Gegen­be­griff zum Sozialstaat.

Wolf­gang Abend­roth, frü­he­rer kom­mu­nis­ti­scher Aben­teu­rer, nach dem Krieg Jura-Pro­fes­sor an ver­schie­de­nen Uni­ver­si­tä­ten, hält dage­gen: Das Grund­ge­setz kennt ein Sozi­al­staats­prin­zip, begrün­det in Arti­kel 20 und Arti­kel 28, wo die Bun­des­re­pu­blik ein­mal als »sozia­ler Bun­des­staat«, ein­mal als »sozia­ler Rechts­staat« defi­niert ist. Die­ser Sozi­al­staat erkennt »die exis­ten­te (näm­lich fak­tisch die libe­ral-kapi­ta­lis­ti­sche) Sozi­al­ord­nung nicht mehr als im Prin­zip gerecht« an, son­dern mache sie sich »zum Gegen­stand der Gestal­tung«. Als Vor­bild nennt er aus­drück­lich die UN-Menschenrechtserklärung.

Zum Namens­ge­ber der Kon­tro­ver­se wird Abend­roth nicht ganz zu Recht. Für den wah­ren Geg­ner hält Forst­hoff offen­bar Rudolf Smend und des­sen Rechts­schu­le. Nach Smend inte­grie­ren sich die Sub­jek­te mit­hil­fe von Kul­tur­wer­ten, die in den Grund­rech­ten fest­ge­schrie­ben sei­en, in den Staat. Inte­gra­ti­on hebt die Dia­lek­tik zwi­schen Ein­zel­nem und Gan­zem auf und macht aus der libe­ra­len Gesell­schaft eine »Wert­ge­mein­schaft«. Die Ver­fas­sung, so Smend, sei »auf die Tota­li­tät des Staa­tes und die Tota­li­tät sei­nes Inte­gra­ti­ons­pro­zes­ses« gerich­tet und müs­se daher elas­tisch aus­ge­legt werden.

Die­ser Jar­gon klingt für heu­ti­ge Ohren unauf­fäl­lig, weil wir ihn täg­lich von Poli­ti­kern und Jour­na­lis­ten hören. Forst­hoff aber wit­tert in der schul­bil­den­den Wer­te­theo­rie der Ver­fas­sung einen Rück­fall in den tota­len Staat, der die staat­li­che Sphä­re nicht von der Gesell­schaft abgrenzt und dem ein­zel­nen eine Staats­ge­sin­nung auf­zwingt. Mit ähn­li­chen Wor­ten hat­te Forst­hoff in Anleh­nung an Carl Schmitt 1933 selbst den tota­len Staat skiz­ziert und gefor­dert. In den fünf­zi­ger Jah­ren kor­ri­giert er durch Kri­tik am Sozi­al­staat sei­ne Ver­feh­lun­gen und ver­tei­digt den bür­ger­li­chen Rechts­staat gegen tota­li­tä­re Ten­den­zen der Sozialstaatlichkeit.

Wer Grund­rech­te zu Wer­ten ver­klärt, so Forst­hoff, deh­ne ihre Gel­tung auf immer wei­te­re Berei­che aus. Im Pri­vat­rechts­ver­kehr gilt aber Ver­trags­frei­heit. Gegen die Smend-Schu­le nimmt Forst­hoff den Rechts­po­si­ti­vis­mus in Schutz. Statt die klas­si­sche Metho­de der Sub­sum­ti­on anzu­wen­den, argu­men­tier­ten Ver­fas­sungs­rich­ter mit einem »Men­schen­bild« der Ver­fas­sung und bräch­ten eine her­me­neu­ti­sche Ver­fas­sungs­aus­le­gung in Anschlag. Dadurch flie­ße die »Stan­des­ideo­lo­gie« der Rich­ter in die Urtei­le ein. Wenn sich Ver­fas­sungs­aus­le­gung so weit vom Wort­laut der Ver­fas­sung ent­fernt, sagt Forst­hoff, wird die Ver­fas­sung »zum Repo­si­to­ri­um der gän­gi­gen Wer­te« und zum Schlacht­feld »für sozia­le Umwälzungen«.

Die War­nung hat sich bewahr­hei­tet. Nur eines konn­te Forst­hoff nicht erken­nen: woher die ent­schei­den­den Umwer­ter und Umwäl­zer kom­men wür­den, die mit dem Sozi­al­staats-Dis­po­si­tiv die Anord­nung der Gesell­schaft mani­pu­lier­ten. Spä­tes­tens nach der Stu­den­ten­re­vol­te waren es nicht mehr die pro­le­ta­ri­schen Ideo­lo­gen, son­dern die Femi­nis­ten, Min­der­hei­ten­ver­tre­ter, Gen­der-Ideo­lo­gen und Anti­ras­sis­ten, die Wer­te setz­ten und Unwer­te ver­nich­te­ten. Forst­hoff mahn­te, der Ernst­fall des Sozi­al­staats tre­te ein, wenn das Sozi­al­pro­dukt absin­ke. Der Ernst­fall des Sozi­al­staats droht aber, wenn die Armuts­mi­gra­ti­on, die er durch Teil­ha­be­ga­ran­tien für Frem­de selbst her­bei­ge­ru­fen hat, zum Anstieg der Gewalt im Innern führt. Die eth­ni­sche Fra­ge ver­neint den Sozi­al­staat. Was nun?

Die Aus­schrei­tun­gen auf der Köl­ner Dom­plat­te an Sil­ves­ter 2015 waren das Fanal. Die Unru­hen in Stutt­gart, Frank­furt und ande­ren Städ­ten las­sen kei­nen Zwei­fel mehr: Der Gewalt­pe­gel in Deutsch­land ist durch die Migra­ti­on dras­tisch ange­stie­gen. Zuwan­de­rer, also Asyl­be­wer­ber, Flücht­lin­ge und ille­ga­le Migran­ten, sind unter Tat­ver­däch­ti­gen bei ­Roh­heits­de­lik­ten um ein Viel­fa­ches über­re­prä­sen­tiert. In Clan­kri­mi­na­li­tät und isla­mis­ti­schem Ter­ror kris­tal­li­siert sich das Gewalt­po­ten­ti­al der Zuwan­de­rung. Sozi­al­ar­bei­ter sol­len das Pro­blem bewirt­schaf­ten, die Poli­zei wird mit Ras­sis­mus-Debat­ten an die kur­ze Lei­ne gelegt.

In der mul­ti­eth­ni­schen Gesell­schaft, in der die Deut­schen zur Min­der­heit unter vie­len wer­den, zer­stiebt die Illu­si­on, Staat­lich­keit las­se sich in Recht und Sozia­les auf­lö­sen. Der Rechts­staat leb­te davon, daß die Staats­bür­ger die Rechts­ord­nung inter­na­li­siert hat­ten. So kam er mit mini­malem Gewalt­ein­satz aus. Die Migran­ten haben unse­re Rechts­ord­nung nicht ver­in­ner­licht. Weil sie unse­ren Staat als weich­lich emp­fin­den, for­dern sie ihn immer aggres­si­ver her­aus. Der Kern des Staa­tes, das Gewalt­mo­no­pol, wird durch die neu­en Kon­flik­te offen­ge­legt. Und wir sehen, daß die­ser Kern aus­ge­höhlt ist.

Je stär­ker sich Unru­hen aus­brei­ten, des­to grö­ßer wird der Wunsch nach Ruhe und Ord­nung, wie sie im obrig­keit­li­chen Poli­zei­staat herrsch­ten. In die­ser Situa­ti­on wird der Ord­nungs­staat denk­bar und mög­lich, klafft in der post­mo­der­nen Sub­ver­si­ons­stra­te­gie eine Ein­bruch­stel­le für Ord­nungs­den­ken. Der Frie­de aller Din­ge, sagt Augus­ti­nus, besteht in der Anord­nung der Din­ge an den ihnen zukom­men­den Ort. Die Anti­dis­kri­mi­nie­rung hin­ge­gen weist den sozia­len Grup­pen einen Ort in der Gesell­schaft zu, den sie in einer natür­li­chen Ord­nung nie­mals ein­neh­men wür­den. Anti­dis­kri­mi­nie­rung ist Antiordnung.

Der Ord­nungs­staat ist der Selbst­ver­tei­di­gungs­mo­dus des Rechts­staats. Er stoppt die sozia­le Umwäl­zung der Ver­fas­sungs­scha­ma­nen und begreift die Ver­fas­sung wie­der als rechts­staat­li­ches Staats­or­ga­ni­sa­ti­ons­sta­tut und nicht als zivil­re­li­giö­se Offen­ba­rungs­schrift. Der Ord­nungs­staat besinnt sich auf die staat­li­che Kern­auf­ga­be, durch Poli­zei und Ord­nungs­recht die öffent­li­che Ord­nung zu sichern. Er setzt das urstaat­li­che Ver­hält­nis von Schutz und Gehor­sam wie­der ins Recht und ver­tei­digt die Ord­nung vor Angrif­fen des Feindes.

In die Wirt­schaft greift der Ord­nungs­staat in ers­ter Linie ein, wo Poli­ti­sches berührt wird: Droht die Über­nah­me eines Kon­zerns von stra­te­gi­scher Bedeu­tung durch Inves­to­ren aus einem bös­wil­li­gen Staat? Ver­hin­dern. Steht ein ein­hei­mi­scher Indus­trie­zweig – wie die Auto­mo­bil­in­dus­trie – unter Beschuß aus dem Aus­land? Ver­tei­di­gen. Neh­men Grup­pen, die die öffent­li­che Ord­nung unter­mi­nie­ren wol­len, Ein­fluß auf die cor­po­ra­te ideo­lo­gy von Fir­men, um dort ihre welt­an­schau­li­che Vor­stel­lun­gen durch­zu­set­zen? Beobachten.

Der Ord­nungs­staat ist ein schlan­ker und star­ker Staat. Er zieht sich aus der Gesell­schaft zurück. Wen ein Unter­neh­mer beschäf­tigt, an wen er ver­kauft, das ist im Ord­nungs­staat nicht län­ger Gegen­stand staat­li­cher Umge­stal­tung. So kön­nen dort stän­di­sche Glie­der im wirt­schaft­li­chen Frei­raum ent­ste­hen. Unter den Gege­ben­hei­ten der Mul­ti­mi­no­ri­tä­ten­ge­sell­schaft läßt der Ord­nungs­staat Platz für Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on sozia­ler Grup­pen, weil die­sen nicht durch Anti­dis­kri­mi­nie­rung und Umver­tei­lung künst­li­che Plät­ze im Sozi­al­ge­fü­ge ange­wie­sen wer­den. Eth­ni­sche Polen betä­ti­gen sich gern im Gar­ten­bau? Es steht ihnen frei, wei­te­re Polen zu beschäf­ti­gen. Eth­ni­sche Deut­sche ste­chen im Manage­ment her­vor? Dann gibt es kei­nen Grund, ande­re Eth­ni­en per Anti­dis­kri­mi­nie­rung zu bevorzugen.

Der Ord­nungs­staat gestal­tet die sozia­le Ord­nung nicht um, er erkennt die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Grup­pen höchs­tens an. So fährt er die dis­tri­bu­ti­ve Funk­ti­on der Leis­tungs­ver­wal­tung zurück, die als Umver­tei­lung aus gemein­sa­men Töp­fen immer zu Las­ten der auto­chtho­nen Bevöl­ke­rung geht. Statt­des­sen befrie­det er Kon­flik­te, indem er sich auf die »dis­po­si­ti­ve« Rol­le kon­zen­triert, Unglei­ches ungleich und Glei­ches gleich zu behan­deln, wie es ja auch der Gleich­heits­grund­satz for­dert. Dis­po­si­ti­on statt Distribution.

Im deut­schen Sozi­al­staat hat der Sozio­lo­ge dem Juris­ten als Funk­tio­när den Rang abge­lau­fen. Ein Para­dig­men­wech­sel in der Staats­ideo­lo­gie macht es nötig, den Sozio­lo­gen durch eine neue Figur abzu­lö­sen. Wer ist heu­te dazu in der Lage, zu begrei­fen, was das Gewalt­mo­no­pol bedeu­tet? Wer kann den Staat vom Ernst­fall her denken?

Der Staat ist dazu da, den Frie­den zu sichern und die Ord­nung zu bewah­ren. Mit Recht und Sozia­lem allein ist die­ses Ziel nicht zu errei­chen. Aber Ord­nung muß sein.

 

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