Wenn der Männerbund die Keimzelle des Staates ist, dann ist eine Reisegruppe, die nur aus Männern besteht, zumindest eine Vorform davon. Es herrscht Arbeitsteilung bei der Durchführung – einer fährt, einer plant, einer photographiert, die anderen kommen mit – und Einigkeit über das Ziel der Reise, weil man sich sonst nicht gemeinsam auf den Weg machen würde. Am Anfang stand in diesem Fall eine Vorliebe, die von allen Beteiligten geteilt wurde, auch wenn es eines Anstoßes bedurfte, sich dessen wieder bewußt zu werden.
Es ging um den Bildhauer Arno Breker, der nicht nur ein gegenständlicher Fels im Meer der Abstraktion ist, sondern durch seine Staatsnähe in den zwölf Jahren unserer Geschichte zu einem umraunten Geheimtip geworden ist. Das Arno-Breker-Land liegt seit 1945 nicht mehr in Berlin und Brandenburg, wo er damals wirkte, sondern tief im Westen, zwischen Düsseldorf und Köln. Dorthin hatte es den Meister verschlagen. Nun gibt es aus naheliegenden Gründen kein öffentliches Museum, das sein Schaffen zeigt. Es gibt das Atelier in Düsseldorf, das nur sporadisch zu besichtigen ist, und es gibt eine etwas wunderliche Institution, die in dem Ruf steht, Breker zu präsentieren: das Museum Europäische Kunst in Nörvenich bei Köln. Dort erwartete uns eine schöne Schloßanlage aus roten Backsteinen, deren mittlerweile begrünter Wassergraben beim Näherkommen eine disparate Auswahl verschiedenster Kunstgegenstände offenbarte.
Auf der Schloßmauer empfing uns ein Bronzeadler und am Eingang der etwa achtzigjährige Hausherr, Joe F. Bodenstein. Er schien über unsere preußisch-sächsische Reisegruppe recht erfreut und ging gleich in medias res. Bei seinem Vortrag konnte die Befürchtung aufkommen, daß er sich in seinen Erinnerungen verlieren würde. Aber er war hellwach und ließ keinen unaufmerksam umherschweifenden Blick unermahnt. Er berichtete von seiner Karriere als AP-Journalist im Nachkriegsdeutschland, als der er viel herumkam und zahlreiche Leute kennenlernte, darunter Breker, dessen Kunsthändler er später wurde. Auch wenn einem in Nörvenich Breker auf Schritt und Tritt begegnet, ist von der ursprünglichen Pracht nicht viel übrig geblieben. Aus Gründen, die im Dunkel blieben, haben sich die Erben Brekers mit Bodenstein überworfen und ein Großteil der Arbeiten wieder abgeholt.
Zunächst bewegten sich die Schilderungen Bodensteins etwas an der Oberfläche, nachdem er aber Vertrauen gefaßt hatte, hielt er sich mit dezidierten Wertungen nicht länger zurück. Das Schloß, das erst vor einem halben Jahrhundert in den Besitz der Familie gelangt war, diente nicht nur als Ort großer Feierlichkeiten, eine Tafel erinnert an den Aufenthalt des heutigen spanischen Königs, sondern seit 1985 als Museum, in dem 1990 eine Breker-Schau zu dessen 90. Geburtstag gezeigt wurde. In seinen Ausführungen ließ Bodenstein u. a. den Hinweis fallen, daß Schloß Nörvenich 1944 / 45 der Wehrmacht als Lazarett diente, in dem vor allem die Verwundeten der Schlacht im Hürtgenwald, dem nächsten Ziel unserer Reise, behandelt wurden.
Der Entschluß zu diesem Ziel fiel allerdings nicht auf den kurzfristigen Wink Bodensteins hin, sondern war durch die Lektüre des Romans Propaganda von Steffen Kopetzky angeregt worden. An die Allerseelenschlacht konnten sich einige des poetischen Namens wegen noch erinnern. Die ganze Schlacht im Hürtgenwald, die zwischen September 1944 und Februar 1945 südwestlich von Aachen tobte, war für uns terra incognita. Dabei endete diese für die angreifenden Amerikaner fast mit einer Niederlage, die sie nur abwenden konnten, weil ihnen unendliche Ressourcen an Menschen und Material zur Verfügung standen. Der hohe Blutzoll war für die Amerikaner traumatisch, in Deutschland verblaßt die Schlacht vor dem Hintergrund des apokalyptischen Untergangs des Reiches im Osten zu einem Detail.
Glücklicherweise gibt es in einem der Hauptorte der Schlacht, mit dem lautmalerischen Namen Vossenack, ein vorbildliches Museum, das von einer Schar ehrenamtlicher Enthusiasten gegen viele Widerstände unterhalten wird. Bereits der Name, »Museum Hürtgenwald 1944 und im Frieden«, dient wohl der Abwehr solcher reflexartigen Verurteilungen jeglicher Erinnerung an militärische Ereignisse, in denen die Deutschen keiner Verbrechen bezichtigt werden. Das Museum selbst präsentiert eine stattliche Anzahl von Bodenfunden aus der Schlacht, zeigt in aufwendigen Dioramen einzelne Situationen und erklärt den unübersichtlichen Verlauf der Schlacht im Detail. Letzteres ist deswegen nicht ganz einfach, weil die Ortschaften teilweise mehrfach am Tag den Besitzer wechselten und es die Unübersichtlichkeit des Geländes auch für die Zeitzeugen fast unmöglich machte, den Überblick zu behalten. Großen Wert legt das Museum auf die Darstellung der amerikanischen Truppen, die, größtenteils kampfunerfahren, in eine Situation geführt wurden, die sie völlig überforderte. Der Unerbittlichkeit, mit der die Schlacht geführt wurde, stehen Beispiele großer Menschlichkeit zur Seite, etwa der deutsche Leutnant, der einen amerikanischen Verwundeten, dem von seinen eigenen Leuten nicht geholfen wurde, bergen wollte und dabei durch eine Mine tödliche Verwundungen erlitt.
Das Museum war der Anlaß für ein paar Abstecher ins Gelände, das allerdings mit dem von 1944 / 45 nicht mehr viel gemeinsam hat. Die Wege sind breiter und zahlreicher, die Bäume sind aufgeforstet und die zerstörten Orte wurden dem Zeitgeschmack entsprechend wieder aufgebaut. Was man findet, sind umfunktionierte, zerstörte und erhaltene Befestigungen und Bunkeranlagen des Westwalls. Was ebenfalls ins Auge fällt, sind kleine Gedenkstätten an Orten, an denen Jahrzehnte nach dem Krieg noch die Überreste von Gefallenen geborgen werden konnten. Die deutschen Gefallenen sind vor allem auf den Kriegsgräberfriedhöfen in Hürtgen und Vossenack zu finden.
Die Entstehung von letzterem ist einem einzelnen Mann zu verdanken, einem Pionierhauptmann, der im Krieg alles verloren hatte und aus eigenem Entschluß heraus begann, die Toten zu bergen und zu bestatten. Es blieb der späten Bundesrepublik vorbehalten, sich auf einer Erläuterungstafel des Friedhofs von den Toten zu distanzieren. Das Denkmal, das an die 116. Panzerdivision (Windhund-Division) erinnerte, eine fast schon zärtliche, keinesfalls kriegerische Darstellung der Kameradschaft, ist mittlerweile nicht mehr aufzufinden. Wie wir erfuhren, wurde es in einer Nacht- und Nebelaktion von Metalldieben entfernt, die womöglich nicht monetär, sondern politisch motiviert waren. Dazu paßt, daß dort, wo früher gekämpft wurde, riesige Windkraftanlagen den Sieg der Gegenwart über die Erinnerung illustrieren.
Zu einem ähnlichen Triumph führte die letzte Station unserer Reise, die ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang. Zu diesem Ort zog uns weniger ein Hang zum Bösen, als das Interesse, wie die Gegenwart mit einem so imposanten Zeugnis des Willens zur Formierung einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft umzugehen weiß. An der Ordensburg kommt man nicht einfach so vorbei, sie liegt gleichsam im Niemandsland. Ein gewisser Bezug zu den anderen Stationen unserer Reise ließ sich zudem nicht verleugnen: Auch hier waren Staatskünstler am Werk, der Architekt Clemens Klotz und der Bildhauer Willy Meller, und die Ortswahl war dem Gedanken geschuldet, die Westgrenze des Reiches durch eine Burg zu bewachen. Diese etwas aus der Zeit gefallene Idee stand zumindest im Hintergrund, als die NSDAP nach 1933 daran ging, Ausbildungsstätten für ihre Nachwuchskader zu schaffen. Keine alten Burgen sollten es sein, sondern neue – aber eben Burgen. Daß die Burg Vogelsang als einzige der drei errichteten öffentlich zugänglich ist, hat sie besonderen Umständen zu verdanken. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, das die Burg schwer beschädigt überstanden hatte, übernahmen die Briten das Gelände und übergaben es wenig später den Belgiern, damit diese auch mal die Möglichkeit hatten, mit Panzern zu üben (was in ihrem kleinen Land ja nicht möglich ist). Die Belgier bauten die Anlage, deren Formensprache die NS-Ideologie aus jeder Pore tropft, weitgehend originalgetreu wieder auf und gaben sie 2005 an die Bundesrepublik zurück. Seither war unklar, was damit geschehen sollte. Denn immerhin handelte es sich um einen »Täterort«.
Mit dieser Zuschreibung eröffnete jedenfalls unser Führer den Rundgang durch die Burg. In dem Moment ahnten wir bereits, daß wir im weiteren Verlauf auf einen Höhepunkt geschichtspolitischer Bewältigung zusteuern würden. Es handelte sich bei diesem Führer um einen pensionierten Geschichtslehrer, für den Kontextualisierung ein Fremdwort war. Ahnungslos, was die architektonischen und funktionalen Details betrifft, wußte er um so mehr über »Unmenschlichkeit« der Ausbildung zu berichten. Auf unsere besorgte Frage, ob denn viele Lehrgangsteilnehmer bei der Ausbildung umgekommen seien, mußte er sich etwas korrigieren: Nicht die Ausbildung sei unmenschlich gewesen, sondern die Ideologie, unter der sie stattfand. Auch die rasche Fertigstellung der Anlage innerhalb von zwei Jahren sei typisch für totalitäre Regime. Ja, pflichteten wir ihm bei, in der Demokratie dauert alles etwas länger – es sei denn, Elon Musk baut ein Tesla-Werk in Brandenburg.
Merkwürdig wurde es, als wir zur Turmbesteigung aufbrachen und dabei die ehemalige Ehrenhalle passieren mußten. Photographieren war dort verboten, obwohl von diesem Raum nichts mehr an die Ehrenhalle erinnert. Offenbar traut man der Aura des Raumes auch heute noch nicht recht über den Weg. Der Ausblick vom Turm entschädigte uns dafür, zumal unser Führer nach dem Aufstieg erstmal etwas verschnaufen mußte. Zum Abschluß der Führung präsentierte er uns ein verwaschenes Farbphoto, auf dem ein paar alte Männer mit ihren Frauen zu sehen waren. Die mit moralischer Entrüstung unterlegte Frage an uns, seine Schüler, lautete, um wen es sich dabei wohl handeln könnte? Es war ein Ehemaligentreffen … Vor solchen bewahrt uns mittlerweile die Biologie des Menschen, die kaum einen älter als 110 Jahre werden läßt. Und damit sich keine nachgewachsenen Ewiggestrigen an den Hinterlassenschaften in Vogelsang erbauen können, hat man mitten in die schöne Anlage, in den ehemaligen Adlerhof, eine Art von Libeskind-Würfel geworfen, in dem sich die sicher pädagogisch wertvolle Ausstellung befindet. Wir hatten genug gesehen und machten uns auf den Weg.