Es gibt eine bestimmte Art von eigenwilligen Autoren, an denen sich die Geister schroff scheiden: Sie werden von den einen gleich als Spinner abgetan – für die andern sind sie verdienstvolle Bahnbrecher; vermittelnde Urteile zwischen diesen beiden Extremen sind auffallend selten. Unser von Krisen geschütteltes Jahrhundert hat eine ganze Reihe solcher irritierender Denker, Redner und Schreiber hervorgebracht. Ein besonders krasser Fall ist der früh verstorbene niedersächsische Bauernsohn Christoph Steding (1903 – 1938).
Von dem auf Maß und Form bedachten Friedrich Georg Jünger ist ihm der Spitzname »nordischer Riesenplattfuß« verpaßt worden. Für den mit ungeduldiger Witterung gesegneten Carl Schmitt war Stedings Wälzer Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur von großer Bedeutung – ein im November 1938, zehn Monate nach des Autors Tod, in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg erschienener Band. Schmitt bezeichnete ihn in seinem Freundeskreis als »das intelligenteste Buch aus dem Umkreis des Nationalsozialismus« (andere wollten sogar gehört haben, daß es für Schmitt das »einzige intelligente Buch« jener Herkunft gewesen sei).
Der bereits mit 35 Jahren einem Nierenleiden erlegene Steding ist ein typischer Ein-Buch-Autor. Seine 1932 bei Korn in Breslau erschienene Marburger Dissertation vom Sommer 1931, Politik und Wissenschaft bei Max Weber, ist noch das Produkt eines Orientierung Suchenden – sie zählt kaum neben dem Hauptwerk. Und dieses Hauptwerk selbst nennt der Steding-Bewunderer Carl Schmitt einen »genialen Torso … das Ganze wirkt mehr wie der erste Wurf zu einem zyklopischen Bau als wie eine gut durchkonstruierte Architektur.« Diese Struktur entspricht dem Zustand der Druckvorlage. Bei Stedings jähem Tod in der Nacht vom 8. zum 9. Januar 1938 lag nur die 48 Druckseiten starke Einleitung druckfertig vor, in welcher der Autor seine Thesen zusammenfaßt. Der Rest des Manuskriptes bestand aus einem ungeordneten Berg von Blättern mit ersten Niederschriften, ohne Zusammenhang untereinander und noch kaum bearbeitet. Daraus machte ein zwei Jahre jüngerer Historiker das Buch, das uns vorliegt.
Dieser Ko-Autor war Walter Frank (1905 – 1945), von 1935 bis Ende 1941 Leiter des von ihm geschaffenen »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands« in Berlin, als Verfasser früh erfolgreich durch so kühn wie fundiert geschriebene zeitgeschichtliche Bücher (1928 über die Stoecker-Bewegung, 1933 über das Frankreich der Dreyfus-Affäre), ohne Mitgliedschaft in der NSDAP (politisch eher Anhänger Ludendorffs), seit 1941 in Ungnade, Jahre voller Positionskämpfe und Intrigen, nach dem Einmarsch der Amerikaner in Bayern am 9. Mai 1945 Selbstmord.
Christoph Steding und Walter Frank lernten sich Ende 1935 kennen und entdeckten ihre Geistesverwandtschaft; im Frühjahr 1936 zog Steding mit seiner Familie von Niedersachsen nach Berlin um. In dem damals Konturen annehmenden Ringen der Mächte um die Hegemonie war für Frank das Buch, an dem sein Freund arbeitete, mindestens ebenso wichtig wie Panzerregimenter; für ihn sollte Steding die Gallionsfigur in dem vom Reichsinstitut geführten Kampf gegen die an den Universitäten immer noch den Ton angebende liberale Geschichtsschreibung werden. Franks Antwort auf den Tod seines Freundes, seines Idols, entsprach dem voluntaristischen Grundzug und Stil von Situation und Epoche: Er schloß sich vom Juni bis September 1938 ein, um jenen wirren Berg von losen Blättern mit Hilfe von Schere, Kleister, gliedernden Ober- und Untertiteln zu einem Buch zurechtzustutzen, das noch im Sterbejahr Stedings erscheinen konnte – mit einem langen Frankschen Text »Christoph Steding. Ein Denkmal«, der den Leser in die Lektüre einstimmen sollte.
Das Produkt beurteilt Carl Schmitt so: »Infolgedessen ist vieles fragmentarisch, unsystematisch und subjektivistisch, ja sogar impressionistisch (für Schmitt eines der schlimmsten Schimpfworte! A. M.); Abschweifungen und Wiederholungen, bloße Einfälle und Ausfälle, Wichtiges und weniger Wichtiges stehen nebeneinander …« Und doch ist Stedings »nachgelassenes Buch« für Schmitt ein Werk, »dessen Horizont und Dimensionen, dessen Entscheidungskraft und Gedankenfülle Staunen erregen muß«.
Ebenso nachdenklich wie diese Mahnung des großen Rechtslehrers, es sich mit Steding nicht zu leicht zu machen, stimmt das Faktum, daß Stedings Wälzer, der doch von seinen Lesern einige Anstrengungen erforderte, ein ausgesprochener Publikumserfolg war: Er brachte es auf fünf Auflagen. 1942 erschien die dritte Auflage mit 3000 Stück, 1943 die vierte mit 5000 Stück, 1944 eine fünfte Auflage; parallel dazu lief in der für Feldpost-Sendungen geschaffenen Hanseaten-Bücherei noch ein Auszug aus dem Buch unter dem Titel Das Reich und die Neutralen.
Dabei konnten sich die beiden Veröffentlichungen keineswegs einer uneingeschränkten Förderung durch den offiziellen Propaganda-Apparat erfreuen. Stedings Zuordnung zum Nationalsozialismus durch Carl Schmitt muß von des letzteren Standort her verstanden werden. Wer zwischen Nationalsozialismus und Konservativer Revolution unterscheidet, muß Steding dem zweiten Bereich zurechnen. Die Hanseatische Verlagsanstalt war eine reine konservativrevolutionäre Domäne, und Stedings Buch geriet denn auch bald, zusammen mit Walter Frank und dessen Reichsinstitut, in den Strudel der auch im Dritten Reich üblichen Ausgrenzungen.
Was machte – entgegen den erwähnten Behinderungen – die besondere Virulenz des Stedingschen Wälzers aus? Wer dieses Buch über Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur heute in die Hand nimmt, spürt diesen Antrieb noch immer – als ob der Fall der Mauer ihn reaktiviert habe. In einer Situation, in der Fukuyama die Weltherrschaft des Liberalismus proklamiert, liest man mit gespitzten Ohren, was ein Einzelgänger wie Steding vor einem Halbjahrhundert über die entpolitisierende und damit existenzbedrohende Wirkung eben dieses Liberalismus gesagt hat.
Zugleich merkt man, daß es sich um eine Kritik des Liberalismus von innen her handelt: Steding kann nicht verheimlichen, daß er den Liberalismus mit allen Poren aufgesogen hatte, dem Bauernburschen in der Großstadt gleich, und ihn nun in einer Gewaltkur wieder ausschwitzen möchte. Das verschafft seinem Buch, bis in den Schreibstil hinein, seine Dynamik, ja sogar eine manische Intensität.
Offensichtlich geht Stedings Buch auf ein Erweckungserlebnis zurück. Von 1922 an studierte er an verschiedenen Universitäten; seine Fächer waren Philosophie, Geschichte, Germanistik und Geographie, später kamen noch Volkskunde und sogar Indologie hinzu. Mitte der 1920er Jahre kristallisierte sich als Forschungsschwerpunkt der Versuch einer vergleichenden Kulturgeschichte Javas heraus. Gegen Ende der 1920er Jahre kam es dann zu einem Schock. Eines Tages muß Steding jäh die Einsicht befallen haben, wie grotesk es doch sei, wenn in einer Zeit, in der sich, für jeden erkennbar, existenzbedrohende Gewitter um Deutschland zusammengezogen, ein junger Deutscher sich ausgerechnet mit – Java beschäftigte. Aus heutiger Sicht ist das Erstaunliche daran, daß dieser Schock Steding nicht, wie so viele andere, in der Arme Hitlers trieb.
Aus Gesprächen mit Steding, aus dessen hinterlassenen Papieren, kann Frank das Geschichtsbild des Freundes genau umreißen. Für Steding war seine Heimat , »das niedersächsische Bauernland«, seit dem Sturz der Hanse » ohne Stunde und ohne Zeit«, also »geschichtslos«, »unpolitisch«, »neutral«: »Die große Geschichte und die große Politik schien an dem ›verinnerlichten‹ und ›eingehausten‹ Raum Niedersachsens vorübergegangen sein. Erst mit dem Jahre 1866 drang sie wieder ein.« Das ist nicht bloß militärisch gemeint. Für Frank zeugt Steding für Preußens »alte Macht, gerade aus dem außerpreußischen Raum stärkste Geister und Seelen an sich zu ziehen und zu Herolden seines Ruhmes zu machen«.
In diesen Rahmen paßt sich Stedings Persönlichkeitsbild vorzüglich. Für ihn gab es kein »fruchtbares Chaos«; jeder Bezug auf das Chthonische lag ihm fern. Bauern sind oft viel nüchterner als sie im Roman oder im Film dargestellt werden. Insbesondere ein Bauernsohn wie Steding, dem als Ältester der alte Hof zugedacht war, der aber als erster in langer Generationslinie ausbrach und sich zu einer Intellektuellenexistenz entschied (und dabei seine Familie offensichtlich hinter sich hatte).
Hegel und Bismarck sind für Steding »die bedeutendsten Deutschen des 19. Jahrhunderts.« Mit diesen beiden Namen will er sagen, »welche Möglichkeiten dieses wunderbare Volk in sich birgt, wenn sich schweifend, ausschweifender Geist, der Geist Hölderlins, durch die eisernen Klammern eines Staates zusammengehalten wird.« Diese Vision ist derjenigen des Nationalsozialismus recht fern, dessen Dynamik ja der Dichotomie von Volk und Staat (respektive Bewegung und Staat) entspringt. Die Hitler-Bewegung entstand im Volkstums-Kampf von Südost-Europa; die Frontstellung gegen den Vielvölkerstaat der Habsburger ließ in ihr kein unbefangenes Verhältnis zum Staat aufkommen (auch wenn Hitler sich dann der Reste des preußischen Staatsapparates durchaus zu bedienen wußte). Dem Niedersachsen Steding hingegen mußten völkische Überlegungen fremd sein.
Walter Frank verteidigte diese Abstinenz seines Schützlings im Kontext von 1938 ausführlich: »In jenem bäuerlichen Raum Niedersachsens dagegen, der in ganz Deutschland den stärksten Prozentsatz germanisch-nordischen Blutes besitzt«, sei die völkische Substanz nicht unmittelbar bedroht. Die eigentliche Gefahr für diesen Stamm sei nicht die Überfremdung, sondern die Neutralität, die definiert wird als »die Flucht aus der Weltgeschichte in die allzu enge Sippengebundenheit«.
Damit sind wir bei der Frage, die der eigentliche Antrieb zu Stedings Buch war: Wie konnte es zur Ablösung der »germanischen Randstaaten« vom Reich kommen, und weshalb entwickelten sie sich zu ausgesprochenen »Reichsfeinden«? Christoph Steding wollte es genau wissen. Mitten in der Weltwirtschaftskrise machte er sich – mit Beihilfe eines glücklich ergatterten Stipendiums der Rockefeller-Stiftung – auf zu einer Studienreise, die sich, mit kleineren Unterbrechungen, über zweieinhalb Jahre hinzog. Objekte dieser »Feldforschung« waren die um das Reich gelagerten neutralen Staaten germanischer Prägung, und zwar auch die skandinavischen, die dem Reich nie zugehört hatten.
Die Reise begann in Basel, das in Stedings Buch zu einer Art von geheimer Gegen-Reichshauptstadt stilisiert wird. Steding hielt sich dort vom Oktober 1932 bis zum März 1933 auf. Die nächsten Stationen waren: von März bis Mai 1933 in Zürich, Bern, Genf; von Juni bis Oktober 1933 in Leiden und Den Haag. Im Winter 1933 / 34 setzte er sich zuhause an den Schreibtisch und schrieb weiter an seinem 1931 begonnen Kampfbuch gegen den Liberalismus und dessen neutralisierenden Wirkungen. Im Mai 1934 bricht Steding erneut auf, diesmal nach Skandinavien; die wichtigsten Aufenthalte sind Kopenhagen, Oslo, Uppsala, Stockholm, Helsinki. Im April 1935 endgültige Rückkehr nach Deutschland. Steding arbeitet von nun an bis zu seinem Tod im Januar 1938 an seinem Opus magnum.
Durch Zufall habe ich Einblick in die Arbeitsmethode Stedings bekommen. Als ich in den ersten Nachkriegsjahren vor einem um eine Generation älteren Basler Historiker den Namen Steding fallen ließ, guckte der Herr verwundert und zog mich dann in eine Ecke. Es stellte sich heraus, daß er sich als Student mit Steding während dessen Basler Aufenthalts angefreundet hatte und ihn dann jahrelang mit Zeitungsauschnitten aus der Basler Lokalpresse belieferte. Der Historiker präzisierte: »Verwunderlich war, daß sich Steding nicht bloß für die lokale Politik und die politischen Stimmungen im Lande interessierte – er bat auch ausdrücklich um Ausschnitte über kulturelle Ereignisse und die wirtschaftliche Entwicklung.«
Man sieht: Christoph Steding, der für seine Person der Kulturgeschichte abgeschworen hat und die Wiederherstellung des Primats der Großen (der politischen) Geschichte fordert, verzichtet nicht auf das Instrument der Kulturgeschichte – vielmehr setzt er es mit Lust ein bei seiner Untersuchung, weshalb die neutralen Länder rund um Deutschland herum so ausgesprochene »Reichsfeinde« geworden sind. Schon der Buchtitel Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur ist eine Herausforderung für jeden Liberalen. Die Krankheit besteht ja für Steding gerade im Fehlen des »Reiches«. Krank ist für ihn die europäische Kultur im Zeitalter des Liberalismus insofern, als sie in dieser Reichsvergessenheit zu einer Nur-Kultur geworden ist – zu einer »bloßen Kultur«, die auf Abruf lebt bis auf höherer Ebene von anderen Instanzen entschieden worden ist, ob dieses Europa überhaupt weiterbestehen wird.
Steding verfügt über ein reiches Arsenal an Invektiven, mit denen er diese »Korruption der Instinkte« denunziert, die »Lähmung der Mitte Europas«, die seit dem Dreißigjährigen Krieg mehr und mehr der Dekadenz den Weg bahnt. Diese Dekadenz nimmt Steding vor allem die Form der Neutralisierung an: Die Tätigkeit des Menschen wird auf Belanglosigkeiten abgelenkt, um ihn am Anpacken der wirklich dringlichen Aufgaben zu hindern; die sofortige Befriedigung der privaten Wünsche, der Konsum flüchtiger Genüsse und leerer Allgemeinheiten erhalten den Vorrang vor dem Bau dauerhafter, auch Geist und Seele befriedigender Strukturen.
Kennzeichnend ist die von Steding vorgenommene Stigmatisierung jenes Norddeutschen, der in unserem Jahrhundert das Irrationale am überzeugendsten in sein Denksystem einbezogen hat: Ludwig Klages. Daß Klages schon gleich nach dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz übersiedelte, ist für Steding eine sozusagen geographische Bestätigung der geistigen Einstufung: Für ihn ist Klages genauso ein »Reichsfeind« wie der Schweizer Karl Barth mit seiner doch recht blutfernen dialektischen Theologie.
Übrigens hätte der Hannnoveraner Klages auch dann in Stedings System gepaßt, wenn er, statt an den Zürichsee bloß an den Titisee verzogen wäre. Stedings Buch erhält nämlich seine besondere Dynamik durch eine geographische Pointe. Es gibt für ihn nicht nur die Kette der neutralen Staaten von der Schweiz über Holland bis nach Skandinavien, die mit ihrer Reichsfeindlichkeit das Deutsche Reich umlagern. Das ist für Steding nur »der äußere Neutralisierungsring«. Der »innere Neutralisierungsring« zieht sich spiegelbildlich dazu innerhalb der Reichsgrenzen von 1937 entlang. Dieser innere Ring ist, im Gegensatz zu den offenen Reichsfeinden von Basel bis Kopenhagen, die Zone, in der eher verdeckte Reichsfeinde agieren. Die eigentliche Virulenzstrecke ist die der Universitätsstädte Freiburg im Breisgau – Heidelberg – Frankfurt am Main – Bonn – Köln. Was der für Städte dieser Art besonders empfindliche Steding über sie an signifikanten Details zusammenträgt, läßt fast hinter jeder bereits ein Basel in Potenz (oder allenfalls ein Zürich) aufleuchten.
Wer einmal von Stedings Buch berührt war und es nun nach etlichen Jahrzehnten wieder zur Hand nimmt, ist nicht gegen die Versuchung gefeit, beim Referieren in einen ironischen Ton zu verfallen. Aus Distanz wird deutlicher spürbar, was Steding verzerrt, was er gewaltsam zurechtbiegt. Schon in der im Dritten Reich geführten Diskussion um Stedings Buch wurde darauf hingewiesen, daß es ja nicht bei den beiden Neutralisierungsringen, dem äußeren und dem inneren, bleibe. Angesichts der langen Reihe der zum nationalen Erbe gerechneten Männer, die nun plötzlich von Steding der Reichsfeindschaft bezichtigt würden, angefangen bei Nietzsche, Langbehn, Stefan George – angesichts dieser Reihe frage es sich, ob es überhaupt eine deutsche Landschaft gebe, die nicht der Reichsfeindlichkeit bezichtigt werden könne. Ein Witzbold brachte das damals auf die Formel: Für Steding findet sich auf der Karte des Reiches bloß ein einziger kleiner Fleck, der weiß und sauber ist. Dort kann man lesen: Potsdam – Hegel …
Läßt sich Steding eher an seinen Feinden festmachen? Auch das hilft nicht weiter. Denn wie steht es mit den beiden Personengruppen, aus denen die offiziellen Autoren des Dritten Reiches üblicherweise ihre Feinde bezogen? Die Freimaurer kommen bei Steding, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, überhaupt nicht vor. Die Juden treten bei ihm, negativ belegt, auf, aber sie scheinen ihm nicht wichtig zu sein; sie stoßen eben in ein Vakuum, das andere geschaffen haben. Diese Stellen bei Steding wirken so aufgesetzt, daß man sich fragt, ob da Bearbeiter Frank nicht nachgeholfen haben könnte. So abwegig ist das nicht, da Frank aus dem Text seines Freundes eine Reihe von Stellen entfernte, die für die Nationalsozialisten besonders schmerzhaft gewesen wären. Wieso sollte er da nicht auch Alibi-Stellen eingefügt haben zum Ausgleich für so viel nicht in Generallinie Passendes, was in dem Buch immer noch zu finden ist? Wo in Stedings Text Vokabeln wie »Ausmerzung« und »Liquidierung des Widerstandes« zu finden sind, bei welchen wir heute wie Pawlowsche Hunde zusammenzucken, richtet sich das eindeutig gegen germanische Rassengenossen.
Der Stedingsche Teil des Buches beginnt mit dem Satz: »Die Geschichte Europas stand seit der französischen Revolution im Zeichen eines Rückzuges der Germanen aus der Weltgeschichte.« Die Nichtgermanen kommen jedoch im Grunde bei Steding gar nicht vor, sie interessieren ihn nicht mehr, Javas Zauber hat sich verflüchtigt. Jener Rückzug ist für ihn nur eine interne Angelegenheit der germanischen Völkerfamilie. Damit sind wir bei einem Kernpunkt von Stedings System angelangt. Dessen Koordinaten sind nicht leicht nachzuziehen, weil er ein Autor ist, der nach dem Leitsatz vorgeht: »Keine Erscheinung eines Zeitalters steht für sich, sondern eine bedingt die andere und umgekehrt.« Läßt in der Mitte Europas die reichsbildende Kraft der Deutschen nach, so wenden sich andere germanische Völker oder Volksteile nach außen oder nach innen ab: »entweder sich einhausend wie z. B. die Schweiz, oder nach fremden Ländern und Meeren greifend wie die Niederlande oder England.«
Steding bewundert den »Blick, der Erdteile umfaßt«, aber erkennt auch die Gefahr des Versickerns in der Ferne. Ein puritanischer Ton läßt sich bei diesem Norddeutschen nicht überhören. Er verachtet das »den siegreichen Ideen Westeuropas zugeordnete Europa, das äußerlich im materiellen Wohlstand lebte und demgemäß an der Heiligkeit der Verträge besonders interessiert war«, jedoch in Wahrheit »im allergrößten Unbehagen« lebe. Diesen niederen Leidenschaften stellt Steding die Reichsleidenschaften der Deutschen gegenüber, die der Meinung seien, über »das eigentliche Grundgesetz, die eigentliche Verfassung Europas am besten Bescheid zu wissen«. Diesen »Anspruch der deutschen Welt« führt Steding darauf zurück, »daß sie von Gott in einer ganz besonderen Weise durch unendliches Leiden präpariert und reif gemacht worden ist, um die tiefsten Blicke in das Gefüge unserer Welt tun zu können«.
Dieser wahrhaft messianische Anspruch hat Steding wohl, trotz seiner Prädisposition, vor puritanischer Erstarrung bewahrt. Ein schönes Beispiel dafür ist, wie locker er, trotz seiner Bewunderung für Bismarck, mit dem Zweiten Reich umgeht. Es konnte »nur Stufe, nicht Ziel« sein: Widerstand gegen die »wilhelminische Verhärtung Deutschlands« sei nötig gewesen, um es nicht »den Händen des traditionslosen kapitalistischen Bourgeois oder des sich verhärtenden oder erweichenden, am Ende seiner Zeit stehenden Adels« zu überlassen. Und was Steding anschließend in vorsichtigen Worten über das nationalsozialistische Deutschland sagt, läßt erkennen, daß er auch im Dritten Reich »nur Stufe, kein Ziel« sehen kann.
Am nächsten kommt man Steding wohl, wenn man seine Auffassung der Krankheit als einer oft notwendigen Geißel ernst nimmt. Beim Niederschreiben seines Buches sieht er allerdings einen Punkt erreicht, wo sie nur noch Laster ist: »Wenn die Krankheit Europas, insbesondere die Krankheit der germanischen Welt, bisher Schicksal, Verhängnis, von Gott gesandte Not war, der man nicht entrinnen konnte, wenn Krankheit überhaupt gelegentlich ein Segen für ein Volk wie für den Einzelnen ist, weil sie bewahrend wirken kann und verhindert, daß Volk oder Einzelne sich voreilig in ›Geschäfte‹ hineinstürzen, die die Seele rauben können – so ist doch heute eine Stufe erreicht, wo die Lösung, Katharsis, Wendung, Strophe oder Katastrophe kommen muß. Die Krankheit Europas wird jetzt Krankheit zum Tode oder Krankheit zum Leben.« So Steding spätestens 1937.
Der Schreibende hat ein komplexes Verhältnis zu Stedings Buch. Einerseits war das Buch für ihn als Basler schmeichelhaft, weil es, immerhin, die Vaterstadt zu einer Art Kontrapunkt zum Reich stilisiert. Andererseits trug dasselbe Buch vor vier Jahrzehnten zu meinem Entschluß bei, aus meiner Schweizer Heimat auszuwandern. Inzwischen hat mich das, wovor ich floh, in der Bundesrepublik wieder eingeholt. Die von Steding so scharf herausgeholte schweizerische Form der Neutralisierung, Selbstgerechtigkeit und Kult der Mittelmäßigkeit, ist inzwischen auch zum dominanten Lebensziel der Gesellschaft geworden, in der ich heute lebe. Und es ist bisher nicht abzusehen, ob die Ereignisse seit dem November 1989 daran etwas zu ändern vermögen.
Solche gegenläufigen Erfahrungen machen Mut, das geographische Skelett des hier besprochenen Buches nicht zu ernst zu nehmen. Vielleicht war es für seinen Verfasser nur ein Werkzeug, um in einen das Herz bedrängenden und überflutenden Stoff etwas Ordnung zu bringen. Vermutlich ist das Stück, das Steding in seinem Buch auf die Chöre verschiedener Landsmannschaften verteilte, ein Drama, das sich in Wirklichkeit seit über hundert Jahren in Geist und Seele des einzelnen Deutschen abspielt.
Stedings einfühlsamer Freund Walter Frank weist in seiner Einführung darauf hin, daß Steding selbst für den »berückenden Zauber« des sterbenden Liberalismus, für dessen »tausendfaches Sprühen der Lichter wie in der modernen Großstadt, seinem ureigensten Kinde« durchaus empfänglich war. Das war aber auch der Grund, weshalb Christoph Stedings Auseinandersetzung mit dem Liberalismus nicht bloß ein simulierter Schaukampf war, nach dem man sich zum Abschminken in die Garderobe begibt. Man spürt das seinem Buch noch heute an – es ist, trotz aller Einseitigkeiten und Erhitzungen, eine aufregende Lektüre geblieben.