Die geistige Stickluft im gegenwärtigen Deutschland fördert zuweilen die Neigung, sich per Lektüre in andere Zeiten zu versenken. In diesem Sinne musterte ich kürzlich aus meiner länger unbeachteten Thule-Sammlung mit wachsendem Interesse einige Bände Isländersagas. Der erste Zugang zu den Geschichten von Gisli, Egil, Grettir, dem weisen Njál oder den Leuten aus dem Lachstal erfolgte im Rahmen meines Studiums. Seinerzeit lagen nordistische Ausflüge ja nahe, was der Masse heutiger »Studierender« eines zunehmend verkommenden Fachs, das merkwürdigerweise immer noch »Germanistik« heißt, eher als Wissensballast gelten dürfte.
Wer beim Lesen nicht nur Gewohntes zur Bestätigung sucht, kommt bei diesen Schilderungen vom Existenzkampf auf einer kargen Insel, von trotzigen Wikingern, Totschlägern, Rächern und ihren selbstbewußten, kaum weniger streitsüchtigen Frauen voll auf seine Kosten. Die Handlungen spielen meist zwischen 900 und 1050 und wurden nach 1200 zu glaubhaften historischen Erzählungen verschriftlicht. Man begegnet dabei einer fremden, teils befremdenden Welt, die mich aktuell besonders anzog. Denn die erneute Lektüre konfrontierte mich mit unserer heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung respektive jenem Bereich, der ihr Zentrum ausmacht: dem Recht.
Die Haltung damaliger Isländer seit der Landnahme im späten 9. Jahrhundert zur staatlichen Gerechtigkeit erweist sich als seltsame Mixtur aus Desinteresse, Pragmatismus und Formalismus, was sich mit unserer totalen Justifizierung des sozialen Lebens kaum vereinbaren läßt. Es fehlte nicht an Gesetzen, und sie widmeten der Rechtsmaterie durchaus Aufmerksamkeit. Gesetzeskundige Goden oder Gerichtssprecher besaßen sogar hohes Ansehen und erheblichen Nutzen für die jeweiligen Streitparteien. Allerdings gestanden die freiheitsbewußten Herrenbauern, die weder Könige noch Fürsten duldeten, keiner Instanz das Gewaltmonopol zu. Schließlich hatten sie Norwegen verlassen und hier gesiedelt, weil der dortige Monarch sie ihrer Souveränität berauben wollte.
Insofern regelten sie ihre Rechtshändel zunächst allein durch Fehde oder Vergleich innerhalb rivalisierender Sippenverbände. Ihr 930 etabliertes Allthing, das man später zum ersten Parlament Europas stilisierte, institutionalisierte die Streitschlichtung und beschloß im Jahr 1000 sogar die Einführung des Christentums. Aber es besaß über Gesetzgebung und Rechtsprechung hinaus keine administrative oder gar exekutive Kompetenz. Der Gerichtshof bestimmte den Verlauf der Verhandlung nicht im einzelnen oder kümmerte sich eingehend um die Vernehmung der Angeklagten und Zeugen. Auch unterlag die Gerichtspraxis vielfach anderen Einflüssen. Bestechung kam vor; Schützenhilfe durch einflußreiche Goden basierte häufig auf materiellen Zuwendungen. Zuweilen hinderte eine Streitpartei die gegnerische sogar mit Waffengewalt am Betreten der Thingstätte. Es gab keine Gleichheit vor dem Gesetz oder ernsthaftes Bemühen des Gerichts um objektive Aufklärung.
Die Frage nach Schuld und Verursachern spielte eine Nebenrolle. Auch entsprachen die Strafen nach unserem Empfinden nur selten der Schwere der Tat. Bei identischen Tötungsdelikten wurde bald strenge, bald milde Acht verhängt. Eine Abschlachtung in Überzahl wurde nicht zwingend höher bestraft als wenn ein Tod im ehrlichen Kampf Mann gegen Mann erfolgte. »In Island«, schrieb Paul Herrmann, konnte »ein und dieselbe Missetat Rache hervorrufen oder Vergleich oder gerichtliche Verfolgung. Es gab keine Taten, die ein für allemal ›Waldgangsfälle‹ oder ›Verbannungsfälle‹ oder ›Bußfälle‹ waren; das hing von der Macht der beiden Parteien ab, von dem Willen des Verletzten … Das Recht war nur für den da, der es zu erobern wußte; auch ein Unschuldiger konnte verurteilt werden, wenn keiner zur Antwort da war. Der altisländische Prozeß war eben eine Fehde.« Konsequenterweise oblag die Durchsetzung des Urteils der obsiegenden Partei.
Es herrschte eine den Starken begünstigende Mentalität, charakterisiert durch periodische Wikingerraubzüge oder den erst spät begrenzten »Holmgang«, in dem man sich etwa Landbesitz im Zweikampf erstritt. Das hätte in Gewaltorgien regionaler Potentaten münden können, wie es ohnehin nicht wenige ungesühnte Totschläge erlaubte. Doch verhinderten starke Sippenbindungen, Ehrvorstellungen oder Bündnisse, daß der einzelne der Willkür von Stärkeren gänzlich ausgeliefert war. Selbst bei großer Überlegenheit mußte ein Täter damit rechnen, daß sein brutales Handeln ihn selbst gefährdete, also etwa in endlose Blutrache-Fehden mündete, zu denen die gegnerische Familie moralisch verpflichtet war. Das hat manches verhindert oder Deeskalationen durch Ausgleich ermöglicht. Zudem konnten Bauern, die sich von ihrem Goden nicht angemessen behandelt und geschützt fühlten, den Rechtssprengel wechseln.
Als gesellschaftliche Idylle darf man sich das damalige Island jedoch gewiß nicht vorstellen, auch wo die klassischen Sagas den Eindruck vermitteln, daß erst die Sturlungen-Epoche mit permanenten sittenverrohenden Rechtsfriedensbrüchen eine »goldene Ära« beendete. Schon früher zog eine durch übersteigerte Ehrbegriffe, Habgier oder Machtlust geförderte Streitsucht per Sippenkrieg, Raub und Brand zuweilen ganze Landstriche in Mitleidenschaft und bereitete den politischen Boden vor für den 1262 erfolgten Untergang des Freistaats. Schließlich hatten die Einführung des Christentums und die Übernahme der Herrschaft durch die norwegische Krone für die kleinen Leute, die zuvor allzu oft Spielball großbäuerlicher Ränke gewesen waren, eine pazifizierende Wirkung.
Mit diesen Schlaglichtern auf wenige Ordnungsprinzipien eines vormodernen Staatsgebildes habe es sein Bewenden, wobei nähere Details sich bei Konrad Maurer ausführlich studieren lassen. Hier geht es nur um einen signifikanten und fundamentalen Kontrast zu heute. Schließlich charakterisieren Gewaltmonopol wie Exekutivmacht unser Staatsverständnis zentral. Aktuelle Urteile ergehen im Namen des Volkes, weil die Ahndung einer Straftat exemplarisch und normanwendend erfolgt. Unsere Gerichte ermitteln von sich aus Tatbestände und ‑motive, woraus Schuld und Strafbarkeit im festgelegten Rahmen hervorgehen. Daß für Gewalttaten (gar nach Ansehen und Stand gestaffelt) mal lediglich »Wergeld« fällig wird, widerspricht heutigem Rechtsgefühl. Die Notwendigkeit, sein Recht selbst in die Hand zu nehmen, weil Verbrechen sonst ungesühnt blieben, kennt das Strafrecht nur ansatz- und ausnahmsweise bei der Verfolgung minder schwerer Vergehen wie Beleidigung in Form von Antragsdelikten oder der Zulassung von Nebenklägern.
Das Bewußtsein gänzlicher Verschiedenheit zu den Saga-Verhältnissen verstärkt sich noch dadurch, daß wir uns Staat und Gerichtswesen meist als interesselos, neutral und unparteiisch vorstellen, was besonders im Staats‑, Verfassungs- und Strafrecht immer weniger zutrifft. Vielmehr wird die Gewaltenteilung durch massive Regierungs- und Parteieneinflüsse zunehmend beschädigt. Es gibt zwar unter Richtern und Staatsanwälten nach wie vor charaktervolle Persönlichkeiten, die etwa den für Deutschlands politische Klasse so willkommenen »Kampf gegen rechts« nicht über unsere Rechtsordnung stellen. Verfassungsgerichte in Sachsen oder Thüringen verhüteten Schlimmstes und verwarfen etwa die skandalöse Kandidatenreduzierung der AfD und die von der Landesregierung gewollte geschlechtliche Quotenregelung. Doch werden die Standhaften immer weniger, und gelegentliche Prozeß-Erfolge gegen illegale Verstöße nehmen sich angesichts des Generalkurses, der oft unerwünschte Meinungen schlicht verbietet, mehr und mehr wie ein rechtsstaatlicher Lendenschurz aus.
Politische Außenseiter sehen sich somit – trotz einer nicht selten aberwitzigen Verrechtlichung nahezu sämtlicher Lebensbereiche – vielfach den gleichen Kungeleien ausgesetzt wie vor tausend Jahren in Þingvellir oder regionalen Godentümern, wo überwiegend die Interessen der Mächtigsten dominierten. Und die Auslegungsrabulismen mancher straf- und verfassungsgerichtlichen Urteile von heute stehen den damaligen kaum nach. Totschlag oder Landesverweisung als Sanktionen gerieten aktuell zwar außer Mode. Aber auch unser System verfügt (jenseits von Geld- und Haftstrafen) über einschneidende soziale Diskriminierungen als zeitgemäße Verbannung zum »Waldgang«. Exemplarisch zeigt der Fall Martin Sellners, wie sich Ächtung heute vollzieht: mit irrwitzigen Anklagen, Hausdurchsuchungen, die Privatsphäre verletzender »Verfassungsschutz«-Behelligung, zu Dutzenden gekündigten Bankkonten, per Zensur verhinderten Internet-Auftritten, medialen »Steckbriefen« und nicht selten purer »zivilgesellschaftlicher« Gewalt. Die martialische Intensität der Sanktion ist nicht vergleichbar, die gesellschaftliche Wirkung aber schon.
Solche Übergriffe sind deshalb so effektiv, weil wir uns, geborgen in der Illusion umfassender Rechtsstaatlichkeit, die Vorstellung von Selbsthilfe gänzlich aus dem Kopf geschlagen haben und der Staat alles tut, diese als besonders verwerflich zu brandmarken. Wer sich etwa von der »falschen« Seite aus auf die Notstandsgesetze beruft, landet umgehend im Extremistenkeller, wenn nicht in Haft. Bereits der Wunsch vieler Bürger, sich zur Selbstverteidigung eine Waffe zuzulegen, gilt vielen als Überschreitung der Radikalismus-Grenze, was fatalerweise mit dem Anstieg migrantischer Gewalt korreliert.
Andererseits herrscht selbst bei schamlos offenen staatlichen oder richterlichen Fehlgriffen in der Durchschnittsbevölkerung Naivität vor, die in der hilflos-entrüsteten Frage gipfelt: »Ja dürfen die denn das?« Natürlich darf oder dürfte ein demokratischer Staat eigentlich vieles nicht, was er gegenwärtig (etwa per »Verfassungsschutz«) exekutiert oder zuläßt. Natürlich dürfte ein Andreas Geisel, der von der SED über die Berliner SPD ausgerechnet zum Innensenator promovierte und jüngst die Querdenker-Demos verbieten lassen wollte, etliches nicht. Das weiß er vermutlich, aber zur Schädigung der Opposition setzt er es dennoch in Gang. Er tut es, weil ihn – anders als zu 68er Zeiten – noch viel zu wenige daran hindern. Und der Staat verbittet sich sogar Reflexionen über die Illegitimität eines so »vereinfachten« Regierens und nennt sie in bemerkenswerter Bigotterie »extremistisch«. Eine Herrschaft aber, die auf Dauer energischer Kontrolle durch wahre Volksvertreter entbehrt, neigt zum Exzeß. Zudem gilt Wolfgang Staudtes Diktum: »Feigheit macht jede Staatsform zur Diktatur.«
Solche Bilanz empfiehlt keine Selbstjustiz, zumal bereits ziviler Ungehorsam (wie der jüngst erfreulicherweise durch Corona-Querdenker praktizierte) oder Quittungen in der Wahlkabine vieles besserten. Auch figurieren Sagahelden in ihrer häufig überbordenden juvenilen Gewaltverliebtheit gewiß nicht als Vorbilder. Dergleichen haben wir, einwanderungsbedingt, per Import von Clans und Straßengangs im hiesigen Deutschland schon viel zu viel. Dazu bezeichnenderweise auch wieder diverse im Milieu funktionierende (den Isländern verwandte) private Schlichtungen einer Paralleljustiz.
Allerdings wußten die zu Recht berühmten Helden vieler Sagas, jenseits von testosterongeprägtem Draufgängertum, noch, daß Freiheit und Recht nahezu täglich vom einzelnen verteidigt werden müssen, während wir Heutigen diese Aufgabe allzu bequem und selbstzufrieden einer Institution übertragen haben. Diese Delegation an die Exekutive ist zweifellos ein zivilisatorischer Fortschritt. Doch er fördert zugleich die Illusion vom Staat als stets objektivem Sachwalter unserer Anliegen. Dabei ist seine postdemokratische Entartung mittlerweile kaum noch zu übersehen, desgleichen seine Unterwanderung durch Parteien, Interessenverbände oder (internationale) NGOs, die ihre höchst riskanten Globalagenden betreiben. Das schmälert für alle, die nicht ins Herrschaftssyndikat eingebunden sind, dramatisch die Chance, Recht zu finden. Beispielhaft zeigt sich dies in der Art, wie der Staat (in Wirklichkeit ein »koscheres« Parteienkartell, das die Justizämter exklusiv besetzt) gegen mißliebige Konkurrenz wie die AfD vorgeht. Auch Corona-Demonstranten bekommen dies zu spüren.
Macht geht über Recht oder schafft es sich, lehren zahlreiche Sagas. Zugleich aber auch, daß Mutige das Recht bewahren. Solches noch Michael Kohlhaas beseelende Bewußtsein persönlicher Verantwortung für unsere Sozialordnung ist nahezu ausgestorben. Ehre spielt hierzulande keine nennenswerte Rolle mehr, wo stattdessen globale PR-Büros die jeweils genehme öffentliche Moral produzieren und implantieren. Sippenbindungen zählen, teils zum Nachteil der Einheimischen, nur mehr bei ethnisch-religiösen (Noch-)Minderheiten. Alternative Schutzbündnisse wurden systematisch politkriminalisiert. Und im Mainstream fehlt es an medialer Resonanz wie Sympathie, um die jeweils Geächteten darin zu bestärken, sich stellvertretend einzusetzen oder gar zu opfern.
Rechts- und Verfassungsdiskussionen vollziehen sich vielmehr im postdemokratischen Leimtopf einer klebrigen Moral, die durch eine erdrückende Mehrheit herrschaftskonformer Leitartikler, Staatsfunkmoderatoren oder Debatten-Verhinderer charakterisiert wird. In ihnen mimen Autokraten Demokraten, Grundrechtsverletzer deren Schützer – das Ganze flankiert durch eine Gesinnungsindustrie aus lammfrommen »Kulturschaffenden«, TV-Spaßmachern oder Universitätslakaien. Kunst geht nun mal nach Brot respektive nach opulent belegten Brötchen.
Als Zeitzeugen und ‑diagnostiker können sie den Sagaschreibern, die aus einer Tradition unkorrumpierten Erzählens schöpfen, nicht das Wasser reichen. Denn die bewahren sich einen ungeschönten, veristischen Blick auf die Machtgier und Rechtshändel ihrer Zeit. Sie hielten Gegnerschaft, Zusammenprall von Leidenschaften und konsequent verfolgte Interessen für naturgegeben und vermieden einen »diskriminierenden Feindbegriff«. Auch deutelte man bei Konflikten und Schuldfragen nicht so lange herum, bis erdrückende Eindeutigkeit produziert war. Auf heutige Leser wirkt daher manches provozierend moralfrei. Immerhin schützte der kalte, emotionslose, chronikalische Saga-Stil vor den heutigen Hauptlastern gegenwartsbezogener Legitimationsliteraten.
Der große Respekt isländischer Autoren vor den Fakten hat etwas von seriösen Historikern, selbst noch dort, wo man etwa im Auftrag des Königs oder der Kirche schrieb und kleinere sippen- oder herrschaftsbedingte Konzessionen einging. Ihr weitgehend parteifreier Realismus engagierte sich nur in einem: dem Ethos zugunsten von Ehre und Mut, Freiheit und Recht. Ihre Sympathie galt daher – undenkbar für unsere heutige Lohnschreiberkaste – selbst Outlaws wie Grettir, von dem sie annahmen, daß er schuldlos seinem Schicksal erlag respektive einer Übermacht, die das Recht nur instrumentalisierte.