Seit Monaten rennen in dutzenden Städten tausende Bürger gegen ebenso strikte wie inkonsequente, gegen ratlose, sinnlose, »alternativlose« Maßnahmen an. Sie rennen gegen die Maßnahmen an und meinen die Regierung, meinen die Regierung und sehen dahinter ein Geflecht aus Politik, Staatsdienern und Staatsmedien, staatsnahen Medien, staatsnahen Konzerne und einer staatstragenden »Zivilgesellschaft« – ein festgeknüpftes Netz mit engen Maschen, aus dem keiner fallen möchte, der es einmal hineinschaffte. Tag für Tag schafft der Staat, schaffen die Behörden neue Stellen, die den Anspruch neu entdeckter Randgruppen oder an ihrer Arbeit gehinderter Lockdown-Opfer geltend zu machen, ihn zu besprechen, auszuhandeln, zu formalisieren und zu erfüllen vorgeben.
Unser Staat, der einmal ein schlanker Fechter war, ist zur alles erdrückenden, jeden säugenden Sau geworden. Die zehn, zwölf Millionen Leute, die alles bezahlen, schuften Jahr für Jahr bis Mitte August nur für ihre Abgaben, manche noch viel länger. Sie täten es ohne zu murren, solidarisch und pflichtbewußt und dankbar für die Absicherung in ernster Lage, wenn sie wüßten, daß derjenige, der ihnen nimmt, dem sie zu geben haben, sparsam und effektiv, ausgleichend und – was für ein seltsames Wort in diesem Zusammenhang! – ebenfalls dankbar zu wirtschaften verstünde. Aber: Dieser Staat ist weder sparsam noch achtsam, und er ist dabei, diejenigen zu erdrücken, die ihn tragen. Er tritt uns nicht gegenüber wie ein Vater seinen erwachsenen Kindern, sondern wie der Soma-Verteiler den Epsilon-Semi-Kretins in Aldous Huxleys Roman Schöne Neue Welt: Infantilisierung und Absättigung, Entmündigung und Almosen.
Gut: Uns und diejenigen, die sich nicht abhängig machen lassen, infantilisiert er nicht, er kriminalisiert sie, bestraft sie, stößt sie aus, vergleicht sie mit schlimmen Typen aus der Geschichte und gibt vor, mit großem Verantwortungsbewußtsein vor der Weltöffentlichkeit und unserer schuldbeladenen Vergangenheit »den Anfängen zu wehren«. Lassen wir ihm diese Phrase. Welchen Anfängen wehrt er? Doch bloß denen, die seinen weltanschaulich gegen das eigene Volk gewendeten Mißbrauch beenden und ihn für unser Volk reformieren wollen, und er wehrt denen, die an eine solche Reform nicht mehr glauben, sondern den totalen Staat total in Frage stellen. Der Staat wehrt unseren Anfängen.
Glauben wir noch an Reformierbarkeit? Glauben wir an den Rückbau jener Millionen Stellen, die der Staat schuf oder die er an seine Zitzen hängte, um alles zu verwalten und Abhängigkeiten zu schaffen, gegen die man kaum mehr anwählen, gegen die man kaum eine Partei plazieren kann? Glauben wir noch, daß es Politiker geben könnte, die den Staat zu einem erneut würdigen, schlanken, effektiven Gebilde reformieren und zugleich verhindern könnten, daß er zur Beute globaler, vernutzender, ortloser, asozialer Spieler würde? Glauben wir an Entbürokratisierung plus Staatsidee? An effektive Solidarität? An Patriotismus und Freiheit, an Selbständigkeit und Schutz, an Staatsdienst und Dankbarkeit?
Ich nicht mehr. Das hat lange genug gedauert. Es lag an meiner Überzeugung, man könne ohne Rücksicht auf wirtschaftliche, technische und soziale Bedingtheiten doch so etwas wie »reine Politik« treiben, also: eine Staatsidee Gestalt werden lassen, die den Bedingtheiten übergeordnet wäre. Diese mobilisierende Vorstellung hat sich als Illusion erwiesen, der Weg dorthin führte von Pegida zum Aufstieg der Alternative und zuletzt mit Siebenmeilenstiefeln dorthin, wo zigtausend Bürger hilflos gegen eine zynische Staatsmacht anrennen.
Hoffen wir, daß nach jeder Demonstration, nach jeder neuen Zwangsmaßnahme wieder tausend Bürger diesem Staat verlorengehen. Unsere Aufgabe ist es dabei, zu verhindern, daß diese Menschen zugleich an eine diffuse »Freiheit« verlorengehen. (Die Verzweiflung ist ihnen ins Gesicht geschrieben, man muß nur einmal in die Abendgesichter blicken, wenn es vor der Polizeikette hart auf hart geht.) »Die Rechte kann heute keine rein konservierende Funktion haben – ihre Funktion muß vielmehr auf weite Strecken eine sprengende sein«, schrieb Armin Mohler einmal. Sie müsse »eine sichere Witterung dafür besitzen, wieviel sie sprengen darf, ohne die Substanz zu verletzen.« Dies ist heute mehr denn je unsere Aufgabe.