Autorenporträt Günter de Bruyn

PDF der Druckfassung aus Sezession 99/ Dezember 2020

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Wer das preu­ßi­sche Bran­den­burg liebt, wer in der Lite­ra­tur die fei­ne Iro­nie schätzt und wer im Zeit­geist nicht das letz­te Wort von Gül­tig­keit sieht, der war und ist bei Gün­ter de Bruyn gut auf­ge­ho­ben. Daß sich die Nach­ru­fe auf den Autor, der am 4. Okto­ber kurz vor sei­nem 94. Geburts­tag in sei­ner mär­ki­schen Hei­mat ver­starb, an die Maß­ga­be »Über Tote nur Gutes« hiel­ten, hat mit der schlich­ten Tat­sa­che zu tun, daß de Bruyns Leben und Werk jedem halb­wegs Gut­wil­li­gen Respekt ein­flößt und daher Welt­an­schau­ungs­fra­gen in den Hin­ter­grund tre­ten läßt. Aller­dings stell­te man­cher Nach­ru­fer, so er es über­haupt the­ma­ti­sier­te, einen »beun­ru­hi­gen­den« Bruch bei de Bruyn fest (so Seibt in der Süd­deut­schen), und zwar kurz vor des­sen Lebens­en­de. Man ging nicht näher auf das betref­fen­de Buch ein. Aber es ist bezeich­nend für den Zustand der gegen­wär­ti­gen Repu­blik, daß ihm die­ses Buch als »Kühn­heit« aus­ge­legt wurde.

Es han­delt sich um de Bruyns letz­tes Werk, erschie­nen im Herbst 2018: Der neun­zigs­te Geburts­tag beschreibt ein »länd­li­ches Idyll«. Bei Erschei­nen war die Über­ra­schung groß, zunächst weni­ger des Inhalts als der Tat­sa­che wegen, daß de Bruyn seit 1984 kein bel­le­tris­ti­sches Werk mehr ver­öf­fent­licht hat­te. Er selbst nann­te die­ses Buch nicht »Roman«, und das zeigt den Autor gewohnt skru­pu­lös und beschei­den: Er ver­stand sein letz­tes Werk zu Recht als klas­si­sche Erzäh­lung, die eine ein­fa­che Bege­ben­heit aus der Wirk­lich­keit des Lebens bie­te und die er nicht in eine Rei­he mit den gro­ßen Wer­ken gestellt sehen woll­te. Die Bezeich­nung »Idyl­le« weist aber auch auf den Iro­ni­ker hin, der sei­ner selbst­ge­wis­sen Gegen­wart das Wort erteilt, um sie selbst ihre Wider­sprü­che aus­spre­chen zu las­sen. Die Gegen­wart ist nicht die DDR wie in sei­nen ande­ren Pro­sa­tex­ten, son­dern die Bun­des­re­pu­blik in der Zeit nach dem berühm­tes­ten Satz Ange­las Mer­kels: »Wir schaf­fen das«.

Wenn man bedenkt, daß die bel­le­tris­ti­schen Wer­ke de Bruyns immer von der selbst­er­leb­ten Wirk­lich­keit inspi­riert waren, liegt es nahe, in der Haupt­per­son zu gro­ßen Tei­len den Autor selbst zu ver­mu­ten. Die Gemein­sam­kei­ten zwi­schen ihm und Leon­hardt Ley­den­frost sind über­deut­lich: Noch vor dem Krieg gebo­ren, bleibt er im Osten, wäh­rend sei­ne Schwes­ter in den Wes­ten geht. Er wird Biblio­the­kar und hat wie de Bruyn kei­ne Chan­ce auf eine Lei­tungs­po­si­ti­on, weil er sich (wie de Bruyn) wei­gert, der SED oder einer der Block­par­tei­en bei­zu­tre­ten. Die Geschich­te spielt zudem, wie soll­te es beim beken­nen­den Mär­ker de Bruyn anders sein, in einem klei­nen bran­den­bur­gi­schen Dorf, in das die Geschwis­ter ins alte Eltern­haus zurück­ge­kehrt sind. Bei­de sind geprägt von ihren jewei­li­gen Erfah­run­gen in den getrenn­ten Tei­len Deutsch­lands vor der Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die Schwes­ter war Mit­be­grün­de­rin der Grü­nen und ist enthu­si­as­ti­sche Mensch­heits­be­glü­cker­in, die sich nun die Flücht­lin­ge zum Objekt aus­er­ko­ren hat. Leo ist skep­tisch und räso­niert über den all­ge­mei­nen Kul­tur­ver­fall der Gegen­wart: sei es mit Blick auf die Spra­che oder auf die Gestalt und Gestal­tung von Orten. Die hier wie neben­bei geäu­ßer­te Kri­tik an den gegen­wär­ti­gen Ver­hält­nis­sen läßt an Deut­lich­keit nichts zu wün­schen übrig, was das ver­hal­te­ne Echo auf de Bruyns letz­tes Buch leicht erklärt.

Schon mit sei­nem ers­ten Roman wur­de de Bruyn nicht recht glück­lich, wenn auch aus ande­ren Grün­den. Er erschien 1963 unter dem Titel Der Hohl­weg und schil­dert Kriegs­en­de und Nach­krieg aus der Per­spek­ti­ve eines jun­gen Landsers. Der Ver­gleich zu Die­ter Nolls weni­ge Jah­re zuvor erschie­ne­nen Wer­ner Holt drängt sich auf. Aber was bei Die­ter Noll ehr­li­che Über­zeu­gung gewe­sen sein moch­te, der den Krieg als Läu­te­rungs­pro­zeß für einen zukünf­ti­gen Sozia­lis­ten schil­der­te, war bei de Bruyn Ver­stel­lung und Anpas­sung, da er die­se Lebens­pha­se abso­lut nicht so emp­fun­den hat­te. Auch ihm leg­te man nahe, einen zwei­ten Band zu schrei­ben, in der die Ent­wick­lung des Hel­den deut­li­cher in der Gegen­wart mün­den soll­te. Noll schrieb sei­ne (schwa­che) Fort­set­zung, de Bruyn nicht. 1973 erschien die ach­te Auf­la­ge, die die letz­te blei­ben soll­te, denn de Bruyn ließ sich die Rech­te an sei­nem Buch zurück­ge­ben. Er ver­band mit sei­nem Roman zwei Erfah­run­gen. Zum einen, an den eige­nen Ansprü­chen geschei­tert zu sein, zum ande­ren, sich als kor­rum­pier­bar erwie­sen zu haben. Die Kor­rum­pier­bar­keit des Dich­ters folgt nicht nur aus dem Bestre­ben, gedruckt zu wer­den und dafür man­che Krö­te zu schlu­cken, son­dern in die­sem Fall auch aus der Ver­lei­hung des Hein­rich Mann-Prei­ses, der mit einem statt­li­chen Preis­geld von 10.000 Mark aus­ge­stat­tet war (und den abzu­leh­nen, er sich nicht nur nicht leis­ten konn­te, son­dern durch den er sich trotz aller Zwei­fel tat­säch­lich geehrt und erho­ben fühl­te). Spä­ter hat de Bruyn die­se Erfah­rung, für etwas Fal­sches aus­ge­zeich­net zu wer­den, iro­nisch in der Erzäh­lung Die Preis­ver­lei­hung (1972) ver­ar­bei­tet, den Hohl­weg, den er spä­ter als »Holz­weg« bezeich­ne­te, aber nach eige­nem Bekun­den selbst nie wie­der zur Hand genommen.

Denn anders als der Roman nahe­leg­te, war de Bruyn nicht die­ser Typ Land­ser, den er die Geschich­te von Kriegs­en­de und Nach­krieg erzäh­len ließ. Der Krieg als ent­wick­lungs­för­dern­de Kata­stro­phe, in der, so de Bruyn rück­bli­ckend, »die guten Mäd­chen und die guten Alt­ge­nos­sen als Lei­ter­spros­sen der Hel­den­ent­wick­lung« die­nen, war ihm nie begeg­net. De Bruyn war kein Mit­läu­fer oder jemand, der über­haupt je an Mensch­heits­be­glü­ckung, sei es sozia­lis­tisch oder natio­nal­so­zia­lis­tisch, geglaubt hät­te. Das war zunächst nicht sein Ver­dienst, son­dern der Kon­stel­la­ti­on sei­ner Her­kunft geschul­det: Gebo­ren 1926 in Ber­lin, auf­ge­wach­sen als »Katho­lik unter Pro­tes­tan­ten, ein zum Natio­na­lis­mus Unfä­hi­ger unter Natio­na­lis­ten, ein Träu­mer unter Anpas­sern«. Das Schick­sal sei­ner Gene­ra­ti­on teil­te er den­noch: Noch vor dem Abitur 1943 als Flak­hel­fer ein­ge­zo­gen, folg­ten Arbeits- und Wehr­dienst. Schwer am Kopf ver­wun­det, kam er ins Laza­rett und anschlie­ßend kurz in ame­ri­ka­ni­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Der Vater war ver­stor­ben, die Mut­ter leb­te als Aus­ge­bomb­te in Zerns­dorf bei Ber­lin, wo sie den Ein­marsch der Rus­sen mit allen Kon­se­quen­zen erdul­den muß­te. Daß man drü­ber in der SBZ nicht reden durf­te und daß der Sta­li­nis­mus die ersehn­te Frei­heit sofort zunich­te mach­te, gab der Skep­sis des Kriegs­heim­keh­rers neue Nah­rung. All das hat de Bruyn in sei­nen bei­den auto­bio­gra­phi­schen Büchern Zwi­schen­bi­lanz (1992) und Vier­zig Jah­re (1996) mit dem Anspruch beschrie­ben, »daß Eigens­tes, genau dar­ge­stellt, sich als All­ge­mei­nes erweist«.

Daß sich de Bruyn den­noch als Neu­leh­rer mel­de­te, folg­te prag­ma­ti­schen Über­le­gun­gen, da die Ernäh­rungs­si­tua­ti­on für einen wei­te­ren Schul­be­such zu pre­kär war. Die Neu­leh­rer­stel­le in einem Dorf in der Pri­g­nitz gab er nach der drei­jäh­ri­gen Pflicht­zeit wie­der auf und begann eine Aus­bil­dung zum Biblio­the­kar. Auch hier ver­lor er bald alle Illu­sio­nen, die er sich über den Schutz­raum des Biblio­theks­we­sens gemacht hat­te, und folg­te bald nur noch einem Ziel: genü­gend freie Zeit zum Lesen und Schrei­ben zu haben. Irgend­wann wur­de sei­ne Stel­lung wegen sei­ner poli­ti­schen Unzu­ver­läs­sig­keit unhalt­bar – er kün­dig­te und begann end­lich, im April 1961, sein Leben als frei­er Autor. Auch wenn der Anfang, zu dem auch eini­ge weni­ger gelun­ge­ne Erzäh­lun­gen gehö­ren, durch den ers­ten Roman miß­lun­gen war, ermög­lich­te ihm das Preis­geld einen ruhi­gen Start in die Selb­stän­dig­keit. Neben Hör­spie­len erschien zunächst ein Band mit Par­odien, der de Bruyn als Ken­ner der deut­schen Lite­ra­tur in sei­ner Gän­ze aus­weist. Der Durch­bruch gelang ihm mit dem Roman Buridans Esel (1968), der in vie­lem bereits zeigt, was de Bruyn aus­macht. Die schnör­kel­lo­se Spra­che, die schon fast lapi­da­re Ent­wick­lung der Geschich­te, die hier einen Mann zum Mit­tel­punkt hat, der nicht nur zwi­schen zwei Frau­en, sei­ner Ehe­frau und der Gelieb­ten, hin und her­ge­ris­sen ist, weil dar­an die Mög­lich­keit von Kar­rie­re oder beruf­li­chem Abseits geknüpft ist. Der halb­her­zi­gen Ent­schei­dung folgt der Ver­lust bei­der Frau­en, womit sich auch die beruf­li­chen Aus­sich­ten ver­düs­tern. Die Welt des Romans besteht aus der Welt de Bruyns, dem Biblio­theks­we­sen, einer Hin­ter­hof­woh­nung in Mit­te und einem öst­li­chen Vor­ort Berlins.

Da das Buch wenig spä­ter auch in der Bund­e­re­pu­blik erschien, stieg de Bruyn in der Wert­schät­zung der­je­ni­gen, auf deren Wohl­wol­len jeder Autor in der DDR ange­wie­sen war. Die Ver­lags­lei­tung des Mit­tel­deut­schen Ver­lags, die Lek­to­ren, das Minis­te­ri­um und die Staats­si­cher­heit rich­te­ten ihre Anten­nen neu aus. Das schütz­te ihn zum einen vor all­zu gro­ßer Repres­si­on, ande­rer­seits eröff­ne­te es neue Mög­lich­kei­ten der Kor­rup­ti­on, die vor allem mit der Aner­ken­nung als Autor und der Mög­lich­keit unge­stört arbei­ten zu kön­nen zu tun haben. Mit dem Erfolg wuchs auch die Sor­ge, als jemand zu gel­ten, der dem Sys­tem befür­wor­tend gegen­über­steht. Als ihn die Sta­si zum Spit­zel machen woll­te, wehr­te er das durch Dekon­spi­ra­ti­on ab. Aller­dings beglei­te­te ihn der Geheim­dienst wei­ter­hin. Nach­dem sein kri­ti­sches Poten­ti­al zum Enga­ge­ment in der Frie­dens­be­we­gung führ­te, wur­den Lesun­gen kom­plett mit Sta­si-Leu­ten besetzt, um den Autor durch Miß­er­folg zu frus­trie­ren. Im Bekann­ten­kreis wur­den Gerüch­te gestreut, die geeig­net waren, jedes Ver­trau­en zu zer­stö­ren, auch wenn alle wis­sen konn­ten, daß dahin­ter die Sta­si steckt. De Bruyn floh vor die­sen Zumu­tun­gen nicht wie vie­le Kol­le­gen in den Wes­ten, son­dern in die länd­li­che Mark Bran­den­burg, die er auf den Spu­ren Fon­ta­nes durch­streif­te und wo er sich bald ein Stück Hei­mat such­te, auf dem er sich vor dem Zugriff des Staa­tes halb­wegs sicher wähn­te (was sich bei Ein­sicht in die Sta­si­ak­ten als Illu­si­on her­aus­stel­len sollte).

Nicht ohne Grund wähl­te sich Gün­ter de Bruyn sei­nen Kol­le­gen, den roman­ti­schen Dich­ter Jean Paul zum The­ma, der ihm neben Fon­ta­ne einer der liebs­ten Autoren über­haupt war. Sein Buch Das Leben des Jean Paul Fried­rich Rich­ter erschien 1975 fast gleich­zei­tig in der DDR und der BRD (seit 2013 gibt es eine über­ar­bei­tet Aus­ga­be). Es han­delt, so de Bruyn, von »Metho­den des Hel­den, sich in kata­stro­pha­len Lagen zu behaup­ten«. Mit Jean Paul voll­führ­te de Bruyn, was ihm spä­ter noch vie­le Male gelin­gen soll­te: einen im Grun­de ver­ges­se­nen und bes­ten­falls miß­ver­stan­de­nen Autor wie­der­zu­ent­de­cken. Wenn er das spä­ter durch­aus auch bei Autoren zwei­ten Ran­ges getan hat, deren Bedeu­tung mehr in der Per­son als im Werk selbst liegt, hat er immer­hin mit Jean Paul sei­nen eige­nen Leit­stern wie­der zum Leben erweckt. Mit sou­ve­rä­ner Stoff­be­herr­schung und meis­ter­haf­ter Erzäh­lung gelang es ihm, die Lücke zwi­schen einem ver­ges­se­nen Autor und der Gegen­wart zu schlie­ßen. Das bei Jean Paul »sub­jek­tiv Gebo­te­ne ist von objek­ti­vem Rang«, stellt de Bruyn gegen die­je­ni­gen klar, die Jean Paul für sei­nen Sub­jek­ti­vis­mus schel­ten. Daher ver­steht de Bruyn sein Buch als eine Hin­lei­tung zu Jean Paul, die not­wen­dig sei, weil sich Kunst eben nicht von selbst erschlie­ße, son­dern oft ver­mit­telt wer­den müs­se. Neben­bei lernt man aus de Bruyns Jean-Paul-Buch, daß »das Aktu­el­le doch immer das Sekun­dä­re« sei. Sol­che Leh­ren gehö­ren zum leich­ten Marsch­ge­päck, mit dem man die Zumu­tun­gen der Gegen­wart über­ste­hen kann.

Die waren gera­de im Fall des Jean Paul nicht uner­heb­lich, hat­te de Bruyn doch das Pech, daß mit Wolf­gang Harich einer der dog­ma­tischs­ten Mar­xis­ten zu glei­cher Zeit an einem Jean-Paul-Buch arbei­te­te. Das bedeu­te­te für de Bruyn, daß sein Buch unter beson­de­rer Auf­merk­sam­keit ste­hen wür­de, da es ja einen Ver­gleich pro­vo­zier­te, an dem es sich mes­sen las­sen müß­te. De Bruyn schil­dert die uner­freu­li­che Begeg­nung mit Harich in sei­nen Erin­ne­run­gen. Wich­ti­ger ist aber, daß sie ihn zu einem sei­ner viel­leicht schöns­ten Pro­sa-Stü­cke ani­miert hat, den Mär­ki­schen For­schun­gen (1977), die mit »Erzäh­lung für Freun­de der Lite­ra­tur­ge­schich­te« unter­ti­telt ist. Dar­in geht es vor­der­grün­dig um einen etwas wun­der­li­chen His­to­ri­ker, der in Kon­kur­renz zu dem pro­fes­so­ra­len Lei­ter eines his­to­ri­schen Insti­tuts der­sel­ben fik­ti­ven Figur der Geis­tes­ge­schich­te auf der Spur ist. Da bei­de zu ande­ren Ergeb­nis­sen kom­men, was des­sen poli­ti­sche Hal­tung betrifft, zieht der lei­den­schaft­li­che Feld‑, Wald- und Wie­sen­his­to­ri­ker zunächst den kür­ze­ren, gibt sich aber nicht geschla­gen, son­dern begibt sich wei­ter auf die Suche nach dem ent­schei­den­den Beweis, der sei­ne Argu­men­ta­ti­on stüt­zen würde.

Zwi­schen­zeit­lich waren die Ver­hält­nis­se in der DDR noch ein­mal hoff­nungs­lo­ser gewor­den, als Wolf Bier­mann aus­ge­bür­gert wur­de und von einer Tour­nee im Wes­ten nicht mehr in die DDR zurück­keh­ren durf­te. Dage­gen sam­mel­te sich Pro­test, an dem sich auch de Bruyn betei­lig­te. Nicht, weil er glaub­te, daß die DDR-Regie­rung den Vor­gang rück­gän­gig machen wür­de, son­dern weil in die­sem Fall Schwei­gen als Zustim­mung aus­ge­legt wor­den wäre. De Bruyn war zu die­sem Zeit­punkt bereits recht lan­ge mit dem Ehe­paar Chris­ta und Ger­hard Wolf befreun­det, obwohl er anfäng­lich skep­tisch wegen deren idea­lis­ti­schen Sozia­lis­mus (bei­de waren Genos­sen) gewe­sen war. Nun mach­te man gemein­sa­me Plä­ne. Wenn die Zei­ten schwie­ri­ger wer­den wür­den, und das wur­den sie, wür­de man eben in ein Fach wech­seln, das mög­lichst wenig Angriffs­punk­te bie­ten könn­te, die Wie­der­ent­de­ckung ver­ges­se­ner Dich­ter der Mark Bran­den­burg. Dar­aus wur­de der »Mär­ki­sche Dich­ter­gar­ten«, in dem Gün­ter de Bruyn zwi­schen 1980 und 1996 zehn Bän­de (von 21) her­aus­gab, dar­un­ter zu Mot­te-Fou­qué, Schmidt von Wer­neu­chen, E. T. A. Hoff­mann und natür­lich Fontane.

Gegen die Zen­sur in der DDR hat Gün­ter de Bruyn als einer der ganz weni­gen mehr­fach die Stim­me erho­ben und sei­ne Posi­ti­on, die durch sei­ne Erfol­ge beim West­pu­bli­kum siche­rer gewor­den war, dazu genutzt, die Nie­der­tracht und Klein­lich­keit der zustän­di­gen Stel­len zu kri­ti­sie­ren. Sol­che Debat­ten waren letzt­lich aber bloß zum Schein frei, denn der Teil­neh­mer­kreis war hand­ver­le­sen, und allen war klar, daß da einer sei­ne Ein­zel­mei­nung kund­tat und nicht die Staats­li­nie. In sol­chen abge­steck­ten Bezir­ken konn­te der Staat schon ein­mal kulant sein. Aller­dings schien die Geduld mit de Bruyn 1984 ein Ende zu haben, als er sei­nen neu­en Roman Neue Herr­lich­keit vor­leg­te. Ver­lag und Minis­te­ri­um signa­li­sier­ten, daß es ­dies­mal nicht zur Ver­öf­fent­li­chung kom­men wür­de, zu sehr ziel­te das Manu­skript auf das Herz der Funk­tio­närs­kas­te, die dar­in als humor­lo­se Ego­zen­tri­ker cha­rak­te­ri­siert wur­den, und auf das Selbst­ver­ständ­nis der DDR als Kul­tur­na­ti­on, die ihre his­to­ri­schen Land­schaf­ten ver­müllt und ihre Alten in Hei­me abschiebt. Das Blatt wen­de­te sich erst, als das Buch im Wes­ten erschien. Dahin­ter konn­te man nicht zurück, gera­de weil de Bruyn immer als Aus­hän­ge­schild für eine libe­ra­le DDR gegol­ten hat­te. Und de Bruyn war über die­sen Vor­gang auch nicht trau­rig, zeig­te er doch aller Welt, wo er stand, sein Miß­ver­hält­nis zum Staat wur­de offen­kun­dig. Den Schluß­punkt in die­sem Ver­hält­nis setz­te er, als er Anfang Okto­ber 1989 den ihm ange­tra­ge­nen Natio­nal­preis der DDR ablehn­te und dabei auf die Unre­for­mier­bar­keit der DDR verwies.

Daher begrüß­te er als einer der weni­gen DDR-Intel­lek­tu­el­len die Wie­der­ver­ei­ni­gung vor­be­halt­los. Für die Demons­tra­ti­on auf dem Alex­an­der­platz, bei der sich die DDR-Eli­te an die Spit­ze der Reform­be­we­gung stel­len woll­te, hat­te er kein Ver­ständ­nis, weil es kei­nen Sozia­lis­mus mit mensch­li­chem Ant­litz geben konn­te. Auch wenn sich spä­ter eini­ge kri­ti­sche Töne in sei­ne Stel­lung­nah­men zur Gegen­wart misch­ten, blieb die Wie­der­ver­ei­ni­gung für ihn ein Grund zur Dank­bar­keit. In den 1990er Jah­ren bekam de Bruyn zahl­rei­che Prei­se und Wür­den ver­lie­hen und nahm bei sol­chen Anläs­sen oft Stel­lung zu ver­schie­de­nen The­men, die teil­wei­se emi­nent poli­ti­sche waren. Zu den »Jubel­schrei­en«, mit denen er die Eini­gung begrüß­te, gesell­ten sich »Trau­er­ge­sän­ge« über die Auf­ar­bei­tung der DDR-Dik­ta­tur, die wie­der ein­mal vie­le unge­scho­ren davon­kom­men ließ, wäh­rend an einer Autorin wie Chris­ta Wolf der Denk­mal­sturz geprobt wer­de. Aber de Bruyn drän­gel­te sich auch jetzt nicht ins Ram­pen­licht, son­dern blieb bei dem, was ihn schon ein­mal ret­te­te, der Geschich­te Bran­den­burg-Preu­ßens. Zunächst aber sorg­te er mit sei­nen auto­bio­gra­phi­schen Schrif­ten für eini­ge Furo­re, weil hier recht scho­nungs­los deut­sche Geschich­te aus einer Per­spek­ti­ve erzählt wur­de, die eige­ne Feh­ler ein­ge­stand und kei­ne Urtei­le fäll­te, son­dern beschrei­ben woll­te. Die­ses Abwä­gen und die skru­pu­lö­se Sor­ge, jeman­dem zu nahe tre­ten zu kön­nen, machen die bei­den Bän­de zu einem blei­ben­den Zeug­nis eines noblen Geis­tes und wachen Beobachters.

Inter­es­sant ist bei der heu­ti­gen Lek­tü­re die­ser Erin­ne­run­gen, aber auch der bel­le­tris­ti­schen Bücher, die zu DDR-Zei­ten erschie­nen, wie vie­les von dem, was als Anpas­sung, Kor­rum­pier­bar­keit und sub­ti­le Steue­rung geschil­dert wird, uns auch heu­te begeg­net. Das zwang de Bruyn ab einem bestimm­ten Moment förm­lich dazu, auch ein­mal ein kri­ti­sches Wort über die Gegen­wart zu sagen. Von der Eupho­rie der ers­ten Jah­re, in der er noch die freie Pres­se lob­te, blieb nicht viel übrig. Die schärfs­ten Wor­te wähl­te de Bruyn anläß­lich der Dank­re­de zur Ver­lei­hung des Hanns Mar­tin Schley­er-Prei­ses im Mai 2007. Sie dürf­ten als ein ers­ter Hin­weis für jene gegol­ten haben, die bis dahin mein­ten, mit der DDR sei auch der kri­ti­sche Geist Gün­ter de Bruyns gestor­ben. In sei­ner abwä­gen­den Art bringt er in die­ser Rede wie neben­bei die Phä­no­me­ne zur Spra­che, die er ver­däch­tigt, vor der Öffent­lich­keit ver­bor­gen blei­ben zu sol­len. Ob es um Kri­mi­nal­sta­tis­ti­ken geht, in denen Aus­län­der nicht vor­kom­men, ob es die Ein­schrän­kung der For­schungs­frei­heit durch die Straf­bar­keit der Holo­caust­re­la­ti­vie­rung betrifft oder ein staat­lich gewoll­tes Geschichts­bild – de Bruyn woll­te all dies jeden­falls zu beden­ken geben. Er woll­te dabei kei­ner kon­kre­ten poli­ti­schen Rich­tung das Wort reden und kei­nen Unfrie­den stif­ten – aber er woll­te, daß wir uns der Pro­ble­me bewußt blei­ben und die ver­ord­ne­ten Ansich­ten nicht für alter­na­tiv­los hal­ten. Er beob­ach­te­te auch an sich selbst den Zen­sur­druck im eige­nen Kopf, wenn er das Geschrie­be­ne unwill­kür­lich mit der öffent­li­chen Mei­nung abzu­glei­chen beginnt.

Gün­ter de Bruyn hat sich an die­sem Mei­nungs­kampf nur sel­ten betei­ligt und lie­ber sei­nen Anteil an dem erhöht, was ihm die deut­sche Kul­tur­na­ti­on gewe­sen ist. In der Geschichts­er­zäh­lung sah er eine Mög­lich­keit der Pfle­ge von Tra­di­ti­on und Spra­che, die vor allem eines ver­hin­dern soll­te: daß wir wie­der in die Bar­ba­rei abglei­ten, indem wir die Ver­bin­dung der Gene­ra­tio­nen abrei­ßen las­sen. Glück­lich war er des­halb, daß »sein« Bran­den­burg nach den Jah­ren der Ver­wüs­tung und Ver­wahr­lo­sung wie­der ein Gesicht bekam, daß die Städ­te saniert wur­den, und daß sich für eini­ge der unzäh­li­gen Her­ren­häu­ser wie­der Besit­zer fan­den, die sie instand setz­ten. Die­ses Gefühl für die geis­ti­ge und phy­si­sche Hei­mat zu stär­ken, war sein Haupt­an­lie­gen in den letz­ten zwan­zig Jah­ren. Her­aus­ra­gen­de Bei­spie­le für die­ses Bemü­hen waren – neben klei­ne­ren Arbei­ten, die ein­zel­nen Per­so­nen oder Orten gewid­met waren – sei­ne Preu­ßi­sche Tri­lo­gie und die zwei­bän­di­ge Geis­tes­ge­schich­te Preu­ßens der Jah­re zwi­schen 1786 und 1815.

Die Tri­lo­gie besteht aus Bän­den zu Köni­gin Lui­se (2000), der preu­ßi­schen Hei­li­gen, und zur Ber­li­ner Macht- und Pracht­stra­ße Unter den Lin­den (2003). Den eigent­li­chen Kern bil­det aber der Band zu den Fin­cken­steins (1999), einer »Fami­lie im Diens­te Preu­ßens«. Die­se posi­ti­ve Auf­ar­bei­tung der preu­ßi­schen Geschich­te hat eini­ge lin­ke Jour­na­lis­ten schon damals irri­tiert, die in de Bruyn des­halb einen Reak­tio­när wit­ter­ten. Aber auch hier blieb de Bruyn sou­ve­rän und schil­der­te aus dem Kon­text her­aus die bedeu­ten­den Ver­tre­ter die­ser Fami­lie, deren wich­tigs­ter Reprä­sen­tant es ver­moch­te, auf sei­nem Gut in Mad­litz einen Musen­hof ein­zu­rich­ten. Die­se Ver­bin­dung zwi­schen Macht und Geist ist es, die de Bruyn fas­zi­niert und die er sein Leben lang ver­mis­sen muß­te. Den gan­zen Kos­mos preu­ßi­scher Geis­tig­keit spannt de Bruyn dann in sei­nen Meis­ter­wer­ken Als Poe­sie gut (2006) und Die Zeit der schwe­ren Not (2010) auf. Dies betrifft nicht nur den gro­ßen Zeit­ho­ri­zont, son­dern auch die Fül­le an Ein­zel­schick­sa­len, die in Ber­lin und Preu­ßen zusam­men­kom­men und deren sich kreu­zen­de Lebens­we­ge de Bruyn so dar­zu­stel­len ver­steht, daß dar­aus ein Pan­ora­ma wird. Nicht zuletzt der Ruhm, den sich de Bruyn mit sei­nen Büchern zur preu­ßi­schen Geschich­te erwor­ben hat, sorg­te dafür, daß man ihn und sein Werk mitt­ler­wei­le in einem Atem­zug mit dem gro­ßen Vor­bild Fon­ta­ne nennt.

Den eigent­li­chen de Bruyn fand man aber zu kei­ner Zeit auf der gro­ßen Büh­ne, son­dern im Abseits. 2005 hat er unter die­sem Titel ein eige­nes Buch ver­öf­fent­licht, in dem er den Ort und die Umge­bung beschreibt, in der er sei­ne zurück­ge­zo­ge­ne Exis­tenz geführt hat. Es han­delt sich um einen klei­nen Ort bei Bees­kow, in des­sen Nähe Gün­ter de Bruyn bei sei­nen Streif­zü­gen durch die Mark auf ein ver­las­se­nes Bau­ern­haus gesto­ßen war. Abseits der gro­ßen Stra­ßen und ohne Strom und flie­ßend Was­ser, daher güns­tig zu haben. De Bruyn hat es 1968 gekauft und nach eini­ges Jah­ren soweit her­ge­rich­tet, daß er dort leben konn­te, auch wenn er noch lan­ge eine Woh­nung in Ber­lin unter­hielt. Die­ser Rück­zug war zu DDR-Zei­ten eine Ver­ge­wis­se­rung, daß es ein rich­ti­ges Leben im fal­schen geben konn­te. Das bedeu­te­te ins Exil zu gehen, ohne das Land ver­las­sen zu müs­sen, an das er gebun­den war. Aber auch nach der Wen­de ist er die­sem Ort treu geblie­ben, hat sogar irgend­wann die Ber­li­ner Woh­nung auf­ge­ge­ben. Sein letz­tes Buch dürf­te ihm gezeigt haben, daß es auch heu­te der Kühn­heit bedarf, um gegen die Mehr­heits­mei­nung anzu­schrei­ben oder sich von ihr nicht die Feder füh­ren zu las­sen. Der Fall Moni­ka Maron, die der Ver­lag, der auch das Werk de Bruyns betreut, vor die Tür setz­te, wirkt da wie ein Hin­weis auf das, was ihm erspart geblie­ben ist.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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