Wer das preußische Brandenburg liebt, wer in der Literatur die feine Ironie schätzt und wer im Zeitgeist nicht das letzte Wort von Gültigkeit sieht, der war und ist bei Günter de Bruyn gut aufgehoben. Daß sich die Nachrufe auf den Autor, der am 4. Oktober kurz vor seinem 94. Geburtstag in seiner märkischen Heimat verstarb, an die Maßgabe »Über Tote nur Gutes« hielten, hat mit der schlichten Tatsache zu tun, daß de Bruyns Leben und Werk jedem halbwegs Gutwilligen Respekt einflößt und daher Weltanschauungsfragen in den Hintergrund treten läßt. Allerdings stellte mancher Nachrufer, so er es überhaupt thematisierte, einen »beunruhigenden« Bruch bei de Bruyn fest (so Seibt in der Süddeutschen), und zwar kurz vor dessen Lebensende. Man ging nicht näher auf das betreffende Buch ein. Aber es ist bezeichnend für den Zustand der gegenwärtigen Republik, daß ihm dieses Buch als »Kühnheit« ausgelegt wurde.
Es handelt sich um de Bruyns letztes Werk, erschienen im Herbst 2018: Der neunzigste Geburtstag beschreibt ein »ländliches Idyll«. Bei Erscheinen war die Überraschung groß, zunächst weniger des Inhalts als der Tatsache wegen, daß de Bruyn seit 1984 kein belletristisches Werk mehr veröffentlicht hatte. Er selbst nannte dieses Buch nicht »Roman«, und das zeigt den Autor gewohnt skrupulös und bescheiden: Er verstand sein letztes Werk zu Recht als klassische Erzählung, die eine einfache Begebenheit aus der Wirklichkeit des Lebens biete und die er nicht in eine Reihe mit den großen Werken gestellt sehen wollte. Die Bezeichnung »Idylle« weist aber auch auf den Ironiker hin, der seiner selbstgewissen Gegenwart das Wort erteilt, um sie selbst ihre Widersprüche aussprechen zu lassen. Die Gegenwart ist nicht die DDR wie in seinen anderen Prosatexten, sondern die Bundesrepublik in der Zeit nach dem berühmtesten Satz Angelas Merkels: »Wir schaffen das«.
Wenn man bedenkt, daß die belletristischen Werke de Bruyns immer von der selbsterlebten Wirklichkeit inspiriert waren, liegt es nahe, in der Hauptperson zu großen Teilen den Autor selbst zu vermuten. Die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Leonhardt Leydenfrost sind überdeutlich: Noch vor dem Krieg geboren, bleibt er im Osten, während seine Schwester in den Westen geht. Er wird Bibliothekar und hat wie de Bruyn keine Chance auf eine Leitungsposition, weil er sich (wie de Bruyn) weigert, der SED oder einer der Blockparteien beizutreten. Die Geschichte spielt zudem, wie sollte es beim bekennenden Märker de Bruyn anders sein, in einem kleinen brandenburgischen Dorf, in das die Geschwister ins alte Elternhaus zurückgekehrt sind. Beide sind geprägt von ihren jeweiligen Erfahrungen in den getrennten Teilen Deutschlands vor der Wiedervereinigung. Die Schwester war Mitbegründerin der Grünen und ist enthusiastische Menschheitsbeglückerin, die sich nun die Flüchtlinge zum Objekt auserkoren hat. Leo ist skeptisch und räsoniert über den allgemeinen Kulturverfall der Gegenwart: sei es mit Blick auf die Sprache oder auf die Gestalt und Gestaltung von Orten. Die hier wie nebenbei geäußerte Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, was das verhaltene Echo auf de Bruyns letztes Buch leicht erklärt.
Schon mit seinem ersten Roman wurde de Bruyn nicht recht glücklich, wenn auch aus anderen Gründen. Er erschien 1963 unter dem Titel Der Hohlweg und schildert Kriegsende und Nachkrieg aus der Perspektive eines jungen Landsers. Der Vergleich zu Dieter Nolls wenige Jahre zuvor erschienenen Werner Holt drängt sich auf. Aber was bei Dieter Noll ehrliche Überzeugung gewesen sein mochte, der den Krieg als Läuterungsprozeß für einen zukünftigen Sozialisten schilderte, war bei de Bruyn Verstellung und Anpassung, da er diese Lebensphase absolut nicht so empfunden hatte. Auch ihm legte man nahe, einen zweiten Band zu schreiben, in der die Entwicklung des Helden deutlicher in der Gegenwart münden sollte. Noll schrieb seine (schwache) Fortsetzung, de Bruyn nicht. 1973 erschien die achte Auflage, die die letzte bleiben sollte, denn de Bruyn ließ sich die Rechte an seinem Buch zurückgeben. Er verband mit seinem Roman zwei Erfahrungen. Zum einen, an den eigenen Ansprüchen gescheitert zu sein, zum anderen, sich als korrumpierbar erwiesen zu haben. Die Korrumpierbarkeit des Dichters folgt nicht nur aus dem Bestreben, gedruckt zu werden und dafür manche Kröte zu schlucken, sondern in diesem Fall auch aus der Verleihung des Heinrich Mann-Preises, der mit einem stattlichen Preisgeld von 10.000 Mark ausgestattet war (und den abzulehnen, er sich nicht nur nicht leisten konnte, sondern durch den er sich trotz aller Zweifel tatsächlich geehrt und erhoben fühlte). Später hat de Bruyn diese Erfahrung, für etwas Falsches ausgezeichnet zu werden, ironisch in der Erzählung Die Preisverleihung (1972) verarbeitet, den Hohlweg, den er später als »Holzweg« bezeichnete, aber nach eigenem Bekunden selbst nie wieder zur Hand genommen.
Denn anders als der Roman nahelegte, war de Bruyn nicht dieser Typ Landser, den er die Geschichte von Kriegsende und Nachkrieg erzählen ließ. Der Krieg als entwicklungsfördernde Katastrophe, in der, so de Bruyn rückblickend, »die guten Mädchen und die guten Altgenossen als Leitersprossen der Heldenentwicklung« dienen, war ihm nie begegnet. De Bruyn war kein Mitläufer oder jemand, der überhaupt je an Menschheitsbeglückung, sei es sozialistisch oder nationalsozialistisch, geglaubt hätte. Das war zunächst nicht sein Verdienst, sondern der Konstellation seiner Herkunft geschuldet: Geboren 1926 in Berlin, aufgewachsen als »Katholik unter Protestanten, ein zum Nationalismus Unfähiger unter Nationalisten, ein Träumer unter Anpassern«. Das Schicksal seiner Generation teilte er dennoch: Noch vor dem Abitur 1943 als Flakhelfer eingezogen, folgten Arbeits- und Wehrdienst. Schwer am Kopf verwundet, kam er ins Lazarett und anschließend kurz in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Der Vater war verstorben, die Mutter lebte als Ausgebombte in Zernsdorf bei Berlin, wo sie den Einmarsch der Russen mit allen Konsequenzen erdulden mußte. Daß man drüber in der SBZ nicht reden durfte und daß der Stalinismus die ersehnte Freiheit sofort zunichte machte, gab der Skepsis des Kriegsheimkehrers neue Nahrung. All das hat de Bruyn in seinen beiden autobiographischen Büchern Zwischenbilanz (1992) und Vierzig Jahre (1996) mit dem Anspruch beschrieben, »daß Eigenstes, genau dargestellt, sich als Allgemeines erweist«.
Daß sich de Bruyn dennoch als Neulehrer meldete, folgte pragmatischen Überlegungen, da die Ernährungssituation für einen weiteren Schulbesuch zu prekär war. Die Neulehrerstelle in einem Dorf in der Prignitz gab er nach der dreijährigen Pflichtzeit wieder auf und begann eine Ausbildung zum Bibliothekar. Auch hier verlor er bald alle Illusionen, die er sich über den Schutzraum des Bibliothekswesens gemacht hatte, und folgte bald nur noch einem Ziel: genügend freie Zeit zum Lesen und Schreiben zu haben. Irgendwann wurde seine Stellung wegen seiner politischen Unzuverlässigkeit unhaltbar – er kündigte und begann endlich, im April 1961, sein Leben als freier Autor. Auch wenn der Anfang, zu dem auch einige weniger gelungene Erzählungen gehören, durch den ersten Roman mißlungen war, ermöglichte ihm das Preisgeld einen ruhigen Start in die Selbständigkeit. Neben Hörspielen erschien zunächst ein Band mit Parodien, der de Bruyn als Kenner der deutschen Literatur in seiner Gänze ausweist. Der Durchbruch gelang ihm mit dem Roman Buridans Esel (1968), der in vielem bereits zeigt, was de Bruyn ausmacht. Die schnörkellose Sprache, die schon fast lapidare Entwicklung der Geschichte, die hier einen Mann zum Mittelpunkt hat, der nicht nur zwischen zwei Frauen, seiner Ehefrau und der Geliebten, hin und hergerissen ist, weil daran die Möglichkeit von Karriere oder beruflichem Abseits geknüpft ist. Der halbherzigen Entscheidung folgt der Verlust beider Frauen, womit sich auch die beruflichen Aussichten verdüstern. Die Welt des Romans besteht aus der Welt de Bruyns, dem Bibliothekswesen, einer Hinterhofwohnung in Mitte und einem östlichen Vorort Berlins.
Da das Buch wenig später auch in der Bunderepublik erschien, stieg de Bruyn in der Wertschätzung derjenigen, auf deren Wohlwollen jeder Autor in der DDR angewiesen war. Die Verlagsleitung des Mitteldeutschen Verlags, die Lektoren, das Ministerium und die Staatssicherheit richteten ihre Antennen neu aus. Das schützte ihn zum einen vor allzu großer Repression, andererseits eröffnete es neue Möglichkeiten der Korruption, die vor allem mit der Anerkennung als Autor und der Möglichkeit ungestört arbeiten zu können zu tun haben. Mit dem Erfolg wuchs auch die Sorge, als jemand zu gelten, der dem System befürwortend gegenübersteht. Als ihn die Stasi zum Spitzel machen wollte, wehrte er das durch Dekonspiration ab. Allerdings begleitete ihn der Geheimdienst weiterhin. Nachdem sein kritisches Potential zum Engagement in der Friedensbewegung führte, wurden Lesungen komplett mit Stasi-Leuten besetzt, um den Autor durch Mißerfolg zu frustrieren. Im Bekanntenkreis wurden Gerüchte gestreut, die geeignet waren, jedes Vertrauen zu zerstören, auch wenn alle wissen konnten, daß dahinter die Stasi steckt. De Bruyn floh vor diesen Zumutungen nicht wie viele Kollegen in den Westen, sondern in die ländliche Mark Brandenburg, die er auf den Spuren Fontanes durchstreifte und wo er sich bald ein Stück Heimat suchte, auf dem er sich vor dem Zugriff des Staates halbwegs sicher wähnte (was sich bei Einsicht in die Stasiakten als Illusion herausstellen sollte).
Nicht ohne Grund wählte sich Günter de Bruyn seinen Kollegen, den romantischen Dichter Jean Paul zum Thema, der ihm neben Fontane einer der liebsten Autoren überhaupt war. Sein Buch Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter erschien 1975 fast gleichzeitig in der DDR und der BRD (seit 2013 gibt es eine überarbeitet Ausgabe). Es handelt, so de Bruyn, von »Methoden des Helden, sich in katastrophalen Lagen zu behaupten«. Mit Jean Paul vollführte de Bruyn, was ihm später noch viele Male gelingen sollte: einen im Grunde vergessenen und bestenfalls mißverstandenen Autor wiederzuentdecken. Wenn er das später durchaus auch bei Autoren zweiten Ranges getan hat, deren Bedeutung mehr in der Person als im Werk selbst liegt, hat er immerhin mit Jean Paul seinen eigenen Leitstern wieder zum Leben erweckt. Mit souveräner Stoffbeherrschung und meisterhafter Erzählung gelang es ihm, die Lücke zwischen einem vergessenen Autor und der Gegenwart zu schließen. Das bei Jean Paul »subjektiv Gebotene ist von objektivem Rang«, stellt de Bruyn gegen diejenigen klar, die Jean Paul für seinen Subjektivismus schelten. Daher versteht de Bruyn sein Buch als eine Hinleitung zu Jean Paul, die notwendig sei, weil sich Kunst eben nicht von selbst erschließe, sondern oft vermittelt werden müsse. Nebenbei lernt man aus de Bruyns Jean-Paul-Buch, daß »das Aktuelle doch immer das Sekundäre« sei. Solche Lehren gehören zum leichten Marschgepäck, mit dem man die Zumutungen der Gegenwart überstehen kann.
Die waren gerade im Fall des Jean Paul nicht unerheblich, hatte de Bruyn doch das Pech, daß mit Wolfgang Harich einer der dogmatischsten Marxisten zu gleicher Zeit an einem Jean-Paul-Buch arbeitete. Das bedeutete für de Bruyn, daß sein Buch unter besonderer Aufmerksamkeit stehen würde, da es ja einen Vergleich provozierte, an dem es sich messen lassen müßte. De Bruyn schildert die unerfreuliche Begegnung mit Harich in seinen Erinnerungen. Wichtiger ist aber, daß sie ihn zu einem seiner vielleicht schönsten Prosa-Stücke animiert hat, den Märkischen Forschungen (1977), die mit »Erzählung für Freunde der Literaturgeschichte« untertitelt ist. Darin geht es vordergründig um einen etwas wunderlichen Historiker, der in Konkurrenz zu dem professoralen Leiter eines historischen Instituts derselben fiktiven Figur der Geistesgeschichte auf der Spur ist. Da beide zu anderen Ergebnissen kommen, was dessen politische Haltung betrifft, zieht der leidenschaftliche Feld‑, Wald- und Wiesenhistoriker zunächst den kürzeren, gibt sich aber nicht geschlagen, sondern begibt sich weiter auf die Suche nach dem entscheidenden Beweis, der seine Argumentation stützen würde.
Zwischenzeitlich waren die Verhältnisse in der DDR noch einmal hoffnungsloser geworden, als Wolf Biermann ausgebürgert wurde und von einer Tournee im Westen nicht mehr in die DDR zurückkehren durfte. Dagegen sammelte sich Protest, an dem sich auch de Bruyn beteiligte. Nicht, weil er glaubte, daß die DDR-Regierung den Vorgang rückgängig machen würde, sondern weil in diesem Fall Schweigen als Zustimmung ausgelegt worden wäre. De Bruyn war zu diesem Zeitpunkt bereits recht lange mit dem Ehepaar Christa und Gerhard Wolf befreundet, obwohl er anfänglich skeptisch wegen deren idealistischen Sozialismus (beide waren Genossen) gewesen war. Nun machte man gemeinsame Pläne. Wenn die Zeiten schwieriger werden würden, und das wurden sie, würde man eben in ein Fach wechseln, das möglichst wenig Angriffspunkte bieten könnte, die Wiederentdeckung vergessener Dichter der Mark Brandenburg. Daraus wurde der »Märkische Dichtergarten«, in dem Günter de Bruyn zwischen 1980 und 1996 zehn Bände (von 21) herausgab, darunter zu Motte-Fouqué, Schmidt von Werneuchen, E. T. A. Hoffmann und natürlich Fontane.
Gegen die Zensur in der DDR hat Günter de Bruyn als einer der ganz wenigen mehrfach die Stimme erhoben und seine Position, die durch seine Erfolge beim Westpublikum sicherer geworden war, dazu genutzt, die Niedertracht und Kleinlichkeit der zuständigen Stellen zu kritisieren. Solche Debatten waren letztlich aber bloß zum Schein frei, denn der Teilnehmerkreis war handverlesen, und allen war klar, daß da einer seine Einzelmeinung kundtat und nicht die Staatslinie. In solchen abgesteckten Bezirken konnte der Staat schon einmal kulant sein. Allerdings schien die Geduld mit de Bruyn 1984 ein Ende zu haben, als er seinen neuen Roman Neue Herrlichkeit vorlegte. Verlag und Ministerium signalisierten, daß es diesmal nicht zur Veröffentlichung kommen würde, zu sehr zielte das Manuskript auf das Herz der Funktionärskaste, die darin als humorlose Egozentriker charakterisiert wurden, und auf das Selbstverständnis der DDR als Kulturnation, die ihre historischen Landschaften vermüllt und ihre Alten in Heime abschiebt. Das Blatt wendete sich erst, als das Buch im Westen erschien. Dahinter konnte man nicht zurück, gerade weil de Bruyn immer als Aushängeschild für eine liberale DDR gegolten hatte. Und de Bruyn war über diesen Vorgang auch nicht traurig, zeigte er doch aller Welt, wo er stand, sein Mißverhältnis zum Staat wurde offenkundig. Den Schlußpunkt in diesem Verhältnis setzte er, als er Anfang Oktober 1989 den ihm angetragenen Nationalpreis der DDR ablehnte und dabei auf die Unreformierbarkeit der DDR verwies.
Daher begrüßte er als einer der wenigen DDR-Intellektuellen die Wiedervereinigung vorbehaltlos. Für die Demonstration auf dem Alexanderplatz, bei der sich die DDR-Elite an die Spitze der Reformbewegung stellen wollte, hatte er kein Verständnis, weil es keinen Sozialismus mit menschlichem Antlitz geben konnte. Auch wenn sich später einige kritische Töne in seine Stellungnahmen zur Gegenwart mischten, blieb die Wiedervereinigung für ihn ein Grund zur Dankbarkeit. In den 1990er Jahren bekam de Bruyn zahlreiche Preise und Würden verliehen und nahm bei solchen Anlässen oft Stellung zu verschiedenen Themen, die teilweise eminent politische waren. Zu den »Jubelschreien«, mit denen er die Einigung begrüßte, gesellten sich »Trauergesänge« über die Aufarbeitung der DDR-Diktatur, die wieder einmal viele ungeschoren davonkommen ließ, während an einer Autorin wie Christa Wolf der Denkmalsturz geprobt werde. Aber de Bruyn drängelte sich auch jetzt nicht ins Rampenlicht, sondern blieb bei dem, was ihn schon einmal rettete, der Geschichte Brandenburg-Preußens. Zunächst aber sorgte er mit seinen autobiographischen Schriften für einige Furore, weil hier recht schonungslos deutsche Geschichte aus einer Perspektive erzählt wurde, die eigene Fehler eingestand und keine Urteile fällte, sondern beschreiben wollte. Dieses Abwägen und die skrupulöse Sorge, jemandem zu nahe treten zu können, machen die beiden Bände zu einem bleibenden Zeugnis eines noblen Geistes und wachen Beobachters.
Interessant ist bei der heutigen Lektüre dieser Erinnerungen, aber auch der belletristischen Bücher, die zu DDR-Zeiten erschienen, wie vieles von dem, was als Anpassung, Korrumpierbarkeit und subtile Steuerung geschildert wird, uns auch heute begegnet. Das zwang de Bruyn ab einem bestimmten Moment förmlich dazu, auch einmal ein kritisches Wort über die Gegenwart zu sagen. Von der Euphorie der ersten Jahre, in der er noch die freie Presse lobte, blieb nicht viel übrig. Die schärfsten Worte wählte de Bruyn anläßlich der Dankrede zur Verleihung des Hanns Martin Schleyer-Preises im Mai 2007. Sie dürften als ein erster Hinweis für jene gegolten haben, die bis dahin meinten, mit der DDR sei auch der kritische Geist Günter de Bruyns gestorben. In seiner abwägenden Art bringt er in dieser Rede wie nebenbei die Phänomene zur Sprache, die er verdächtigt, vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben zu sollen. Ob es um Kriminalstatistiken geht, in denen Ausländer nicht vorkommen, ob es die Einschränkung der Forschungsfreiheit durch die Strafbarkeit der Holocaustrelativierung betrifft oder ein staatlich gewolltes Geschichtsbild – de Bruyn wollte all dies jedenfalls zu bedenken geben. Er wollte dabei keiner konkreten politischen Richtung das Wort reden und keinen Unfrieden stiften – aber er wollte, daß wir uns der Probleme bewußt bleiben und die verordneten Ansichten nicht für alternativlos halten. Er beobachtete auch an sich selbst den Zensurdruck im eigenen Kopf, wenn er das Geschriebene unwillkürlich mit der öffentlichen Meinung abzugleichen beginnt.
Günter de Bruyn hat sich an diesem Meinungskampf nur selten beteiligt und lieber seinen Anteil an dem erhöht, was ihm die deutsche Kulturnation gewesen ist. In der Geschichtserzählung sah er eine Möglichkeit der Pflege von Tradition und Sprache, die vor allem eines verhindern sollte: daß wir wieder in die Barbarei abgleiten, indem wir die Verbindung der Generationen abreißen lassen. Glücklich war er deshalb, daß »sein« Brandenburg nach den Jahren der Verwüstung und Verwahrlosung wieder ein Gesicht bekam, daß die Städte saniert wurden, und daß sich für einige der unzähligen Herrenhäuser wieder Besitzer fanden, die sie instand setzten. Dieses Gefühl für die geistige und physische Heimat zu stärken, war sein Hauptanliegen in den letzten zwanzig Jahren. Herausragende Beispiele für dieses Bemühen waren – neben kleineren Arbeiten, die einzelnen Personen oder Orten gewidmet waren – seine Preußische Trilogie und die zweibändige Geistesgeschichte Preußens der Jahre zwischen 1786 und 1815.
Die Trilogie besteht aus Bänden zu Königin Luise (2000), der preußischen Heiligen, und zur Berliner Macht- und Prachtstraße Unter den Linden (2003). Den eigentlichen Kern bildet aber der Band zu den Finckensteins (1999), einer »Familie im Dienste Preußens«. Diese positive Aufarbeitung der preußischen Geschichte hat einige linke Journalisten schon damals irritiert, die in de Bruyn deshalb einen Reaktionär witterten. Aber auch hier blieb de Bruyn souverän und schilderte aus dem Kontext heraus die bedeutenden Vertreter dieser Familie, deren wichtigster Repräsentant es vermochte, auf seinem Gut in Madlitz einen Musenhof einzurichten. Diese Verbindung zwischen Macht und Geist ist es, die de Bruyn fasziniert und die er sein Leben lang vermissen mußte. Den ganzen Kosmos preußischer Geistigkeit spannt de Bruyn dann in seinen Meisterwerken Als Poesie gut (2006) und Die Zeit der schweren Not (2010) auf. Dies betrifft nicht nur den großen Zeithorizont, sondern auch die Fülle an Einzelschicksalen, die in Berlin und Preußen zusammenkommen und deren sich kreuzende Lebenswege de Bruyn so darzustellen versteht, daß daraus ein Panorama wird. Nicht zuletzt der Ruhm, den sich de Bruyn mit seinen Büchern zur preußischen Geschichte erworben hat, sorgte dafür, daß man ihn und sein Werk mittlerweile in einem Atemzug mit dem großen Vorbild Fontane nennt.
Den eigentlichen de Bruyn fand man aber zu keiner Zeit auf der großen Bühne, sondern im Abseits. 2005 hat er unter diesem Titel ein eigenes Buch veröffentlicht, in dem er den Ort und die Umgebung beschreibt, in der er seine zurückgezogene Existenz geführt hat. Es handelt sich um einen kleinen Ort bei Beeskow, in dessen Nähe Günter de Bruyn bei seinen Streifzügen durch die Mark auf ein verlassenes Bauernhaus gestoßen war. Abseits der großen Straßen und ohne Strom und fließend Wasser, daher günstig zu haben. De Bruyn hat es 1968 gekauft und nach einiges Jahren soweit hergerichtet, daß er dort leben konnte, auch wenn er noch lange eine Wohnung in Berlin unterhielt. Dieser Rückzug war zu DDR-Zeiten eine Vergewisserung, daß es ein richtiges Leben im falschen geben konnte. Das bedeutete ins Exil zu gehen, ohne das Land verlassen zu müssen, an das er gebunden war. Aber auch nach der Wende ist er diesem Ort treu geblieben, hat sogar irgendwann die Berliner Wohnung aufgegeben. Sein letztes Buch dürfte ihm gezeigt haben, daß es auch heute der Kühnheit bedarf, um gegen die Mehrheitsmeinung anzuschreiben oder sich von ihr nicht die Feder führen zu lassen. Der Fall Monika Maron, die der Verlag, der auch das Werk de Bruyns betreut, vor die Tür setzte, wirkt da wie ein Hinweis auf das, was ihm erspart geblieben ist.