Als wir 2017 damit beschäftigt waren, uns für den Einband von Mit Linken leben vor einem »No-borders«-Graffito ablichten zu lassen, latschte ein etwas ungustiöser junger Mann an uns vorbei, erkannte den Lichtmesz und begann zu motzen: »Ihr seid doch eh kontrollierte Opposition!« Der ernüchternde Gedanke, daß auch unser neurechter Protest längst eingeplant ist und daß er das System, gegen das wir protestieren, womöglich stabilisiert, ärgerte mich. In der Tat schien ein paar wenige Jahre lang der »Rechtspopulismus« an Einfluß zu gewinnen, und unsere außerparlamentarische rechte Opposition beherrschte zumindest als Objekt den medialen Diskurs und bekam Lust auf politische Macht. Wer von der Macht zu kosten beginnt, kann nicht mehr gleichzeitig wahrnehmen, wie diese wirkt. Das Bild der Demokratie – linke Regierung, rechte Opposition – hielt uns gefangen.
Es könnte sein, daß das Jahr 2020 einige Illusionen beseitigt. Wer gegenwärtig Widerstand gegen die »Coronadiktatur« oder den Großen Austausch leisten will, sieht sich in der Position des Unterlegenen (wie Stephan Siber in einem Beitrag im Heft 96 ausgeführt hat): Ihm steht eine global agierende, von oben nach unten durchregierende Macht gegenüber. Großdemonstrationen gegen die Regierung, die Berufung auf verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte und Sammelklagen gegen die politisch Verantwortlichen kontern die Eliten durch Notstandsgesetzgebung. Entscheidend aber ist: die Opposition dient als notwendige Projektionsfläche. Wenn das Volk rebelliert, ist es selbst daran schuld, daß die Daumenschrauben enger angezogen werden. Die notorisch uneinsichtigen »Gefährder« braucht das System außerdem anscheinend, um seine Maßnahmen zu rechtfertigen.
Die Vorstellung vom stabilisierenden Widerstand ist nicht neu. Die Anhänger der Kritischen Theorie der 1970er Jahre hatten unter Herbert Marcuses Schlagwort von der »repressiven Toleranz« verstanden, daß ein »repressives« (also Freiheit unterdrückendes) politisches System toleriere, daß es in ihm ständig Widerstand gibt. Der Widerstand steht also (entgegen seinem eigenen Selbstverständnis) keineswegs außerhalb des Systems, sondern ist, so die hegelianische Formel Adornos »immer schon darin aufgehoben«. Das System baue den Widerstand einfach ein, und nehme ihm so die revolutionäre Wirksamkeit. So werde jeder Widerstand in einem technologisch hochgerüsteten kapitalistischen Massenstaat zum Instrument des Systemerhalts statt zu einem Instrument der Revolution. Herbert Marcuse sprach von der »besiegten Logik des Protests«.
Der Gedanke einer »kontrollierten Opposition« entstammt einer anderen Denklinie, die von den einen »Wahrheitsbewegung«, von den anderen »Verschwörungstheorien« genannt wird. Das prominenteste Beispiel der Lenkung einer controlled opposition ist die Figur des Goldstein in George Orwells 1984. Eine kontrollierte Opposition dient dazu sicherzustellen, daß das herrschende politische System an der Macht bleibt, selbst wenn sich das Volk von den gegenwärtigen Machtträgern ab- und der Opposition zuwendet. Sie wird bewußt aufgebaut, ihre Akteure geführt und finanziert, und zwar von denselben Mächtigen, die das herrschende politische System steuern. Die Opposition ist also nur eine Scheinopposition innerhalb des Rahmens einer »Zuschauerdemokratie« (Walter Lippmann). Sie darf auf gewisse Mißstände kritisch hinweisen, weshalb ihr dann mit dem System Unzufriedene folgen, verschweigt aber die eigentlichen Hintergrundkräfte als Verursacher der Mißstände. Sie absorbiert auf diese Weise die Möglichkeit, das System zu durchschauen und dadurch zu überwinden.
Beide Ansätze operieren mit dem Begriff des »Systems«. Um diesen zu klären, gehe ich auf Niklas Luhmanns Systemtheorie zurück. Er beschreibt soziale Systeme als Teilbereiche der Gesellschaft, die operativ geschlossen sind (also alles, was in ihrer Umwelt geschieht, nach dem systeminternen Code verarbeiten, beispielsweise das Politiksystem Macht / Ohnmacht oder Regierung / Opposition) und zugleich umweltoffen (also das, was in der Umwelt geschieht, beobachten können, z. B. wissenschaftliche oder moralische Kommunikation in politisches Kleingeld umwechseln, so daß die Opposition zum viro- oder ideologischen »Superspreader« gemacht werden kann). Das politische System – das ist wichtig zum Verständnis des luhmannschen Ansatzes – ist nicht das konkrete Parteiensystem eines bestimmten Staates, sondern eine spezifische Art der Kommunikation. Auch außerparlamentarische Bewegungen kommunizieren im Code Macht / Ohnmacht, befinden sich also innerhalb des politischen Systems. Solange wir von Macht reden, sind wir politisch. Mit Luhmann ist es alles andere als erstaunlich, wenn politischer Widerstand das System stabilisiert, denn Gegenbeobachtung ist in jeglichem sozialen System funktionslogisch notwendig: Es muß immer irritierende Kommunikationen geben, die die Grenze des Systems erst »testen« und dann integriert werden.
Sind wir nun Teil des Plans? Auch dieser Begriff schillert. Pläne sind, systemtheoretisch gedacht, Verzeitlichungen der Systemstruktur. Der Normalzustand in einem jeden System ist, daß Steuerung stattfindet. Diese ist also kein besonders perverser Fall von Verschwörung oder hinterlistiger Ränke, sondern die für konkrete Akteure prinzipiell nicht beobachtbare Hintergrundarbeit des Systems: Die eigene Komplexität wird ständig unauffällig reduziert, andernfalls das System zum Erliegen käme. Pläne dienen dazu, Entscheidungen ohne sonderliches Aufhebens (also ohne daß der Plan als solcher kommuniziert wird) von einer Ebene auf die nächstniedrige durchzureichen. Ein Trainer gibt einem Spieler die Anweisung, einem anderen Spieler bei Gelegenheit etwas mitzuteilen, aber nicht zu sagen, von wem der Tip stammt. Ein Lehrer vertritt politische oder religiöse Positionen als Lehrstoff, dessen Schüler erfahren jedoch nie, was Ministerien, Religionsgemeinschaften oder Didaktik-Institute davon wortwörtlich zuvor festgelegt haben, selbst der Lehrer könnte nicht retrospektiv angeben, woher er seine Position hat. Ein Offizier ermahnt einen Unteroffizier, seine Mannschaft neuerdings anders zu führen. Die Mannschaft versteht vielleicht nicht oder kaum, daß die unerwartete neue Situation, in der sie stehen, gar nichts mit dem direkten Vorgesetzten zu tun hat, der diese Situation herstellt. Man könnte alle diese Alltagsbeispiele als »Hintergrundmächte« beschreiben.
Für den Gesteuerten unbemerkte Steuerung findet auf allen Ebenen statt: im zwischenmenschlichen Alltag, in Institutionen wie Parteien oder NGOs, in supranationalen Organisationen, auf der Ebene der Koordination dieser Organisationen, schließlich – strukturell genauso unauffällig und normal – auf der Ebene darüber, wo nicht mehr von unten beobachtbar ist, woher die Befehle kommen.
Ich will auf dieser oberen Ebene angesiedelte »Pläne« genauer als geistige Prinzipien beschreiben. Blickt man auf die Symptome des politischen Weltgeschehens, so lassen sich mit der Zeit bestimmte übergeordnete Prinzipien daraus ableiten, deren Erscheinungsweisen stets mit der Macht einzelner über beeinflußbare andere zu tun haben. Ein solches geistiges Prinzip (unter zahlreichen und größeren anderen) ist die Illusion von Kontrolle. Es handelt sich dabei um einen psychologischen Mechanismus, der insbesondere in Situationen wirkt, in denen der Mensch eigentlich wenig oder keine Kontrolle über die Entwicklung der Ereignisse hat. Grundlegende Voraussetzung ist »der Wille, ein bestimmtes Ziel zu erreichen« und »die wahrgenommene Verbindung zwischen Ergebnis und eigener Handlung«.
Gelingt es nun einer Hintergrundmacht, gleich auf welcher Ebene, Systemkritikern den Eindruck ihrer eigenen Wirksamkeit zu vermitteln, hat sie diese über die Illusion von Kontrolle zumindest teilweise unter Kontrolle.
»Sobald sich eine ›Verschwörungstheorie‹ im Netz verbreitet, kann die geplante Verschwörung nicht mehr nach Plan stattfinden. Würde sie durchgeführt, wären die im Netz verbreiteten Theorien im Nachhinein zur hellseherischen Wahrheit geadelt. Wenn die Wahrheit in die Lügen einsickert und von der Realität bestätigt wird, können Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Das riskieren sie nicht. Also disponieren sie um. Die Warnungen im Netz haben die Corona-Diktatoren also zu einer anderen Agenda gezwungen. So funktioniert das Internet. Verzweifelt nicht, Freunde, macht weiter!« schrieb ein Kommentator auf Sezession im Netz. Dieser Glaube an die eigene Wirksamkeit ist außerordentlich verführerisch für Wahrheitssucher und Infokrieger. Planänderungen werden ex post der eigenen Aktivität zugeschrieben statt dem Plan, der zweifelsohne auch die »Warnungen im Netz« umfassen könnte.
Martin Sellner beschreibt in seinem Beitrag in diesem Heft das politische System der Bundesrepublik als antifragil gegenüber linkem, aber potentiell fragil gegenüber rechtem Widerstand. Er sieht die Verletzlichkeit darin, daß das System seinem eigenen Selbstverständnis als »freiheitlicher Demokratie« immer stärker zuwiderhandeln muß durch immer stärkere offene Repression gegen rechten Widerstand. Daraus leitet er eine Strategie der Provokation ebendieser Repression ab, denn – und hier denkt er klassisch marxistisch – jede »revolutionäre Veränderung wächst aus einem Widerspruch zwischen der herrschenden Ideologie und der realen Lage«.
Die Revolutionsmaschine des im Ersten Weltkrieg gefallenen französischen Historikers Augustin Cochin wurde soeben ins Deutsche übersetzt. Darin beschreibt Cochin die Entstehungsgeschichte der Französischen Revolution aus den societés pensées, den »Denkgesellschaften«. Diese bereiteten die Revolution eigentlich vor. Cochin beschreibt, wie zuerst das Ancien Régime abgeräumt wurde im Namen der »Freiheit«, wodurch der Platz bereitet wurde für den nächsten Schritt, die Revolution »der Ordnung, sodaß die von uns beschriebene Maschine ins Spiel kommen konnte. Die Funktion des zentralen Räderwerks besteht tatsächlich darin, in jedem Moment, bei jeder Frage, gegen jeden Widerspruch das Argument der vollendeten Tatsache zu verwenden. Die Tabellen und das Abhaken [er bezieht sich hier auf die damalige Verwaltungspraxis, Anm. C. S., auch heute gibt es verteufelt Ähnliches] hatten keinen anderen Zweck. Das ist das Geheimnis des Systems – das einzige, das die Einheit sichern kann.«
Cochins »Argument der vollendeten Tatsache« läßt sich auch an der gegenwärtig ablaufenden globalistischen Revolution beobachten. Nicht umsonst spricht der Gründer des World Economic Forum, Klaus Schwab, von der »vierten industriellen Revolution«, die freilich keine rein »industrielle« oder ökonomische ist, sondern ein hybrider Krieg gegen die Völker durch multipel aufeinander bezogene Strategien: Klima, Feminismus, Menschenrechte, Migration, Digitalisierung, Plandemie. Die Revolutionäre sind die globalistischen Eliten, nicht wir.
Die westliche Welt, so meine Deutung der Gegenwart mit Cochin, wird nach der »Revolution der Freiheit« (der Abräumphase, deren Wucht seit den 60er Jahren rasant zunahm) gerade in die nächste Revolutionsphase überführt: diejenige der »Ordnung«. Diese Ordnung gibt sich, als sei sie immer schon dagewesen. Sie braucht nicht mehr das Alte zu zerstören, denn das »neue Normal« gilt, als habe es immer schon gegolten, als fait accompli. Die Phase der Umdefinition der Begriffe, Umerziehung der Menschen und des Umbaus der Wirtschaft ist weitgehend abgeschlossen, die vollendeten Tatsachen sind geschaffen. In diesem Stadium existiert systemintern kein Widerspruch mehr zwischen Demokratie als Prinzip und der schon durchgeführten Neudefinition von »Demokratie« samt Alltagspraxis. »Die Tatsache stimmt in der Demokratie mit dem Prinzip überein: es gibt keinen Herrn unter diesem Regime, keine Repräsentanten und Anführer. Das Volk ist frei.« (Augustin Cochin).
Die Revolution der Ordnung kann nicht mehr gestört werden, weder durch Aufdecken ihrer Maschinerie oder der »Fehler der Obrigkeit« noch durch Zuspitzung ihrer »inneren Widersprüche«. Es gibt keine inneren Widersprüche mehr. »Die Fragen, die Sehnsucht und das Leiden, aus denen neurechter Widerstand erwächst, werden für kommende Generationen einfach unverständlich und irrelevant gemacht«, schreibt Sellner. Das ist wahr, aber schon heute Wirklichkeit.
Wir wenigen noch daran leidenden Einzelnen, wir »tragischen Individua« (Rudolf Pannwitz) sind hyperapperzipierende Überbleibsel. Glauben wir jedoch, es läge an uns selbst, daß die globalistische Revolution der Ordnung aufgehalten oder umgekehrt werden könnte, unterliegen wir der oben geschilderten Kontrollillusion. Wer an dieser Stelle einwendet, daß ich doch gar nicht wissen könne, ob der »verschwörungstheoretische« oder rechte Widerstand illusionär sei oder irgendwann doch noch fruchte, der verkennt das Wirkprinzip: gerade die Möglichkeit, immer wieder neu zu hoffen, das eigene Handeln sei womöglich ausschlaggebend, ist der Köder.
Ist mein Befund nicht fürchterlich defätistisch? Ich sprach über diesen Vorwurf mit dem oben erwähnten Stephan Siberm der mir folgenden Gedanken nahelegte: Defätismus heißt Mutlosigkeit, Resignation, Hoffnungslosigkeit. Wenn ich erkenne, daß ein Kampf mit den falschen Mitteln geführt, aussichtslos ist, bin ich kein Defätist. Erkenntnisfortschritt macht nicht hoffnungslos. Bliebe ich bei den alten Mitteln (Massendemonstrationen, Aktivismus, Infokrieg, Provokation, Gerichtsprozessen, Petitionen, Parteiarbeit) und würde bemerken, daß sie nicht das Geplante bewirken, wüßte aber nicht, daß es die falschen Mittel sind, hätte ich allen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Dann könnte man mir zu recht Defätismus vorwerfen.
Wenn ich aber weiß, daß ich nichts Äußeres kontrollieren kann, bin ich nicht verführbar, dies wieder und wieder zu versuchen. Wenn ich sehe, daß das System sich gerade an uns stabilisiert, die Revolutionsmaschine effektiv arbeitet, wir die neue Ordnung nicht mehr loswerden, kann ich das Ganze allmählich annehmen als Wirklichkeit. Das ist begleitet von einem tiefen Gefühl der Ohnmacht. Es ist das Gefühl, sich nicht mehr von selber erheben zu können.
»Selbstrettung« heißt nicht private Land- und politische Fahnenflucht, sondern sich selbst in seine Verfügung zu nehmen, erkennend, daß man nur sich selbst notdürftig unter Kontrolle bringen kann, und daß dies nicht ohne die Wirkung der Gnade möglich ist. Im Alleinsein wird sichtbar: Wir sind nicht allein auf dieser Welt. Wir sind Teil eines Plans, und zwar eines höheren, der grundsätzlich sich des Bösen zum Guten zu bedienen weiß. Auch dies ist ein geistiges Prinzip, ein wesentlich größeres als das der Kontrollillusion.
»Der Gedanke an diese Sachverhalte ist jeder jungen Generation nahezu unerträglich; und der innere Widerstand gegen ihre Anerkennung und gegen die ›Resignation‹ derer, die sich ›abgefunden‹ haben ist geradezu das unterscheidende Merkmal echter Jugendlichkeit. In diesem Widerstand aber lebt der unsterbliche Sinn des Menschen für die ursprüngliche und ›eigentliche‹ Schöpfungsordnung der Welt, den der echte Christ auch dann nicht verliert, wenn er die innerweltlich unabwendbare Wirklichkeit der erbsündlichen Unordnung, belehrt durch Erfahrung, nicht nur ›begrifflich‹, sondern ›real‹ anzuerkennen gelernt hat« (Josef Pieper, Vom Sinn der Tapferkeit, 1934).