Hinter der Maske – das Jahr 2020

PDF der Druckfassung aus Sezession 99/ Dezember 2020

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Das Jahr 2020 war für die »Mosa­ik­rech­te« kein gutes Jahr. Grün­de dafür gibt es vie­le; die unvor­her­seh­ba­ren Schwan­kun­gen im Zuge der Coro­na­kri­se sind für eine Erklä­rung nicht aus­rei­chend. Was also ist passiert?

Zu Anfang des Jah­res waren das Insti­tut für Staats­po­li­tik (IfS) und die Zeit­schrift Sezes­si­on ent­schlos­sen, ver­stärkt grund­le­gen­de Lini­en zu zie­hen, das »Kern­ge­schäft« der Aus- und Wei­ter­bil­dung zu bespie­len und das Tages- und Real­po­li­ti­sche nicht mehr so inten­siv zu beglei­ten wie in den Jah­ren zuvor. Die Win­ter­aka­de­mie 2020 und das ers­te The­men­heft des Jah­res (Sezes­si­on 94, Febru­ar 2020) wid­me­ten sich denn auch einem grund­le­gen­den The­ma: »Lek­tü­ren«. Heft und Aka­de­mie soll­ten jun­gen Lesern und »Fort­ge­schrit­te­nen« einen rech­ten Kanon vor­stel­len und eine Debat­te dar­über eröff­nen, ob es sol­che ver­bind­li­chen Lek­tü­restre­cken über­haupt gebe; zum ande­ren waren das Lesen über­haupt und Lese­pflicht sowie Lese­faul­heit The­men. Die 20. Win­ter­aka­de­mie bedeu­te­te in die­sem Sin­ne einen Schnitt – »kei­ne Dau­er­schlei­fe inmit­ten der rech­ten Gesell­schaft des Spek­ta­kels, son­dern Grund­la­gen­ar­beit, Sub­stanz« (Götz Kubitschek).

Einen Sprung zurück in die Tages- und Real­po­li­tik kün­dig­te sich jedoch an, als die geziel­te US-Tötung des ira­ni­schen Gene­rals Sol­ei­ma­ni eine schrof­fe Debat­te im rech­ten Lager aus­lös­te. Außen­po­li­ti­sche Deu­tun­gen sind nicht das eigent­li­che Feld von IfS und Sezes­si­on, aber bei der Fra­ge nach Legi­ti­mi­tät und Wahn­sinn schäl­ten sich maß­ge­ben­de Kon­flik­te für das eige­ne Lager her­aus. Das lie­ße sich anhand der Reak­tio­nen aus der AfD auf Sol­ei­ma­nis Ermor­dung zei­gen, aber auch anläß­lich der Stars-and-Stripes-Fah­nen schwen­ken­den und Trump-Base­caps tra­gen­den Jung­alternativen bei der »Wahl­par­ty« zum US-Urnen­gang im Novem­ber. Es geht um Nach­ah­mung von Ver­hal­tens­wei­sen und ideo­lo­gi­schen Prä­mis­sen, um Über­nah­me von his­to­ri­schen und poli­ti­schen Deu­tun­gen durch uns, die noch immer »Besieg­ten«. Nicht ohne Grund war es Das Licht, das erlosch (Ber­lin 2019), das Anfang 2020 in der Redak­ti­on von Hand zu Hand ging. Ver­faßt haben die­ses Buch der Bul­ga­re Ivan Kras­tev und der ­US-Ame­ri­ka­ner Ste­phen Hol­mes. Der Kern­ge­dan­ke kreist um die Arro­ganz der west­lich-libe­ra­len Demo­kra­tie, deren Anhän­ger die Autoren sind. Sie machen kei­nen Hehl aus ihrer Abnei­gung gegen die illi­be­ral-demo­kra­ti­schen Ent­wür­fe, die in Ungarn, Polen oder Ruß­land umge­setzt wer­den. Aber ihre Ver­ste­hens­be­mü­hun­gen für deren Ent­wick­lung wirk­ten bei­spiel­los und ihre The­sen schla­gend. Eine Kern­the­se bei­der in den Wor­ten Kubit­scheks: »Die psy­cho­lo­gi­schen Fol­gen in den nach­ah­men­den Län­dern lägen auf der Hand, und so mün­den Kras­tevs und Hol­mes’ ein­lei­ten­de Gedan­ken in die The­se, daß es sich bei den sehr unter­schied­li­chen Ansät­zen in Ruß­land, in Chi­na und in den mit­tel­ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten um Gegen­ent­wür­fe zum Nach­ah­mungs­im­pe­ra­tiv durch den Wes­ten hand­le, um einen nach­voll­zieh­ba­ren Wider­stand dage­gen, mora­lisch, rechts­staat­lich und zivil­ge­sell­schaft­lich stets der Lehr­ling zu blei­ben und den Gesel­len­brief aus der Hand der Gön­ner ver­mut­lich nie zu erhal­ten.« Die­se Pas­sa­ge trifft einen ent­schei­den­den Punkt, der weit über das Feld Sol­ei­ma­ni im Janu­ar / Febru­ar oder JA-Wahl­be­glei­tung im Okto­ber / Novem­ber hin­aus­weist: Will man als Alter­na­ti­ve (par­la­men­ta­risch und außer­par­la­men­ta­risch), wie Ungarn oder Polen, inte­gra­le oder auch nur zag­haf­te »Gegen­ent­wür­fe zum Nach­ah­mungs­im­pe­ra­tiv« erar­bei­ten, oder will man der pein­li­che Mus­ter­schü­ler sein, der bei jed­we­dem The­men­be­reich dem Hege­mon zu bewei­sen beab­sich­tigt, daß man gelernt habe, was Imi­ta­ti­on bedeutet?

Ist die­ses Faß erst­mal geöff­net, wird klar, daß es sich nicht bloß um außen­po­li­ti­sche Deu­tun­gen han­delt, die man ver­nach­läs­si­gen könn­te – hier wer­den iden­ti­täts- und geschichts­po­li­ti­sche, sou­ve­rä­nis­ti­sche und natio­na­le Schlüs­sel­fra­gen auf­ge­wor­fen. Die bis­wei­len hys­te­ri­schen Reak­tio­nen leg­ten nahe, daß das ers­te Quar­tal 2020 im Zei­chen sol­cher Fra­gen ste­hen wür­de und nicht im Zei­chen gründ­li­cher Lek­tü­re von Klas­si­kern und Schlüs­sel­tex­ten. Mit­te Janu­ar stand bei­spiels­wei­se im Bun­des­tag ein Antrag über den Abzug der Besat­zungs­trup­pen aus Ram­stein zur Abstim­mung. Ein­ge­bracht hat­te die­sen Antrag die Frak­ti­on »Die Lin­ke«, abge­lehnt wur­de er auch mit den Stim­men der AfD. Die­se hat in ihrem Grund­satz­pro­gramm zwar die For­de­rung nach einem Abzug aller frem­den Trup­pen fest­ge­schrie­ben. Petr Bystron wies hin­ge­gen in sei­ner Rede dar­auf hin, daß etwa im Iran ein Regie­rungs­wech­sel mit allen Mit­teln im Sin­ne des Wes­tens sei, ohne frei­lich die Leh­ren aus bis­he­ri­gen Inter­ven­ti­ons­krie­gen eben­je­ner »frei­en Welt« zu zie­hen, die nicht nur eine Migra­ti­ons­wel­le (gen Euro­pa, nicht gen USA) in Gang setz­te. Ein wei­te­res Bei­spiel für die­se Nach­ah­mung in anti­na­tio­na­ler Art und Wei­se war eine Pres­se­mit­tei­lung, die Bystron gemein­sam mit Bun­des­spre­cher Jörg Meu­then eini­ge Wochen spä­ter ver­öf­fent­lich­te: Unter Ver­weis auf Holo­caust, Anti­se­mi­tis­mus und blei­ben­de Schuld wur­de die »aktu­el­le isra­el­feind­li­che Poli­tik der Bun­des­re­gie­rung« schar­fer Kri­tik unter­zo­gen; im Lau­fe des Jah­res wie­der­hol­te sich der­ar­ti­ges immer wieder.

Die Pro­to­typ­nach­ah­mer kön­nen nicht begrei­fen, daß sie mit der Instru­men­ta­li­sie­rung des Mas­sen­mords zu poli­ti­schen Zwe­cken nicht nur US-Ame­ri­ka­ner nach­bil­den, son­dern auch das Kar­tell aus Alt­par­tei­en und Medi­en, die hier­zu­lan­de seit Jahr­zehn­ten Dis­kus­sio­nen über Iden­ti­tät, Geschichts­po­li­tik oder Grenz­si­che­rung nach die­sem Sche­ma dros­seln. Die nöti­ge Ver­tei­di­gung des Eige­nen wird von die­sen Krei­sen mit moral­po­li­ti­schen Ver­wei­sen unter­mi­niert, es sind ihre Waf­fen – sie zu über­neh­men ist sinn­los, und naiv ist zu glau­ben, man kön­ne sie ummün­zen. Man erhält kei­ne Satis­fak­ti­on durch die Herr­schen­den, wenn man »auf jene Ruhe hofft, die der Leh­rer dem Mus­ter­schü­ler gewäh­ren mag« (Kubit­schek).

Der Auf­guß des aggres­si­ven »Sur­ro­gat-Natio­na­lis­mus« (Mar­tin Licht­mesz) unter Anru­fung der USA und Isra­els wur­de vor eini­gen Jah­ren schon von Karl­heinz Weiß­mann inhalt­lich zurück­ge­wie­sen und wider­legt. Allein, blo­ße Argu­men­te zäh­len in Real- und Meta­po­li­tik sel­ten. Also galt es in die­sem Jahr und gilt es auch in der Zukunft, der leben­di­gen Basis des patrio­ti­schen Spek­trums bei die­sen wie bei ande­ren umkämpf­ten The­men­be­rei­chen ins Gedächt­nis zu rufen, daß die Ver­tre­ter der AfD als ­einer ­natio­nal­po­pu­lis­ti­schen Kraft ihre Man­da­te und poli­ti­schen Ein­fluß­mög­lich­kei­ten erhal­ten haben, weil ihre Wäh­ler eine Poli­tik für Deutsch­land erwar­ten. Daß eini­ge pro­mi­nen­te Ver­tre­ter die­ser Par­tei – ob in der Cau­sa Iran Anfang des Jah­res oder bei der US-Prä­si­dent­schafts­wahl Ende des Jah­res – neo­kon­ser­va­ti­ver als Neo­cons, repu­bli­ka­ni­scher als US-Repu­bli­ka­ner, (klischee-)amerikanischer als (Klischee-)Amerikaner wir­ken, kommt einer Nega­ti­on des Wäh­ler­in­ter­es­ses gleich. Woher kommt der Drang, sich dem par­la­men­ta­ri­schen Betrieb und sei­ner Typen­leh­re zu unter­wer­fen? Ein zen­tra­ler Grund ist, daß die Poli­tik der Ree­du­ca­ti­on, des Mam­mut­pro­jekts der »Umer­zie­hung« der Bun­des­deut­schen, als erfolg­rei­ches men­ta­li­täts­psy­cho­lo­gi­sches Expe­ri­ment anzu­se­hen ist. Die for­cier­te Ent­frem­dung der Deut­schen von ihrer eige­nen Geschich­te, Men­ta­li­tät, Denk­wei­se usw., die zu dem von Armin Moh­ler als »Nationalmaso­chismus« beschrie­be­nen Phä­no­men der Geg­ner­schaft zum volk­li­chen Selbst führt, ging dar­über hin­aus, den Hit­le­ris­mus zu über­win­den. Ste­fan Scheil hat die­se Umge­stal­tung der deut­schen Psy­che durch US-ame­ri­ka­ni­sche Stel­len als Trans­at­lan­ti­sche Wech­sel­wir­kun­gen umris­sen, Cas­par von Schrenck-Not­zing als Cha­rak­ter­wä­sche nach­ge­zeich­net, und Hans-Joa­chim Arndt leg­te in Die Besieg­ten von 1945 den Fokus dar­auf, daß am 8. Mai 1945 eben nicht allein der Natio­nal­so­zia­lis­mus Hit­lers, son­dern »alle deut­schen Staats­bür­ger als Besieg­te behan­delt wur­den« (wes­halb die Sezes­si­on am 8. Mai 2020 eine ein­füh­ren­de Lite­ra­tur­schau zur Ambi­va­lenz der tota­len Nie­der­la­ge ver­öf­fent­lich­te). Die West­al­li­ier­ten schick­ten sich an, »aus­drück­lich in die Bewußt­seins­struk­tur der Besieg­ten ein­zu­grei­fen«, und Besieg­te, das waren nach Ansicht der Besatzer­stra­te­gen alle Deut­schen, die sich seit Jahr­hun­der­ten »gegen die Zivi­li­sa­ti­on« gestellt hät­ten, wie Arndt kon­klu­dier­te. Daß die­se Bewußt­seins­mo­di­fi­ka­ti­on gelang, ist aus­ge­macht, und man soll­te als Poli­ti­ker des alter­na­ti­ven Lagers zu Scheil, Schrenck-Not­zing und Arndt grei­fen, wenn man die Ent­wick­lungs­strän­ge sezie­ren möch­te – am bes­ten, bevor man Man­da­te antritt. Der Zusam­men­hang zwi­schen Natio­nal­ma­so­chis­mus und Nach­ah­mung US-ame­ri­ka­ni­scher Nar­ra­ti­ve muß daher in die Bestands­auf­nah­me eines tat­säch­li­chen oppo­si­tio­nel­len Lagers dies- wie jen­seits der Par­la­men­te ein­be­zo­gen wer­den. Wer kri­tik­re­sis­tent ste­ti­ge »Selbstu­mer­zie­hung« betreibt, »kann nie sicher sein, daß man nicht eines Tages den Fin­ger in die Wun­de legt und nicht län­ger dul­det, daß schlech­te Auf­füh­rung durch den Ver­weis auf gute Absicht gerecht­fer­tigt wird« (Cas­par von Schrenck-Notzing).

Sicher: 2020 kennt auch gegen­tei­li­ge Bei­spie­le, und das heißt: 2020 kennt Situa­tio­nen, in denen die gute Absicht mit guter Auf­füh­rung ein­her­ging. Denn in Thü­rin­gen agier­te der Lan­des­ver­band der AfD »kon­struk­tiv-destruk­tiv«. Jeman­den so »auf einen Stuhl« zu set­zen, ver­merk­te Kubit­schek, »daß es in Ber­lin einem ande­ren Stuhl die Bei­ne abschlägt« mache das »tak­ti­sche Arse­nal der AfD um eine fei­ne Vari­an­te rei­cher«. Gemeint war bei die­sem Auf­schlag in der Sezes­si­on jener Coup der Mann­schaft um Björn Höcke, Tor­ben Bra­ga und Ste­fan Möl­ler, der Ange­la Mer­kel dazu brach­te, die lan­des­po­li­ti­schen Ereig­nis­se aus ihrem Süd­afri­ka­auf­ent­halt her­aus zum Kip­pen zu brin­gen: Die Wahl Tho­mas Kem­me­richs (FDP) zum Minis­ter­prä­si­den­ten sei »unver­zeih­lich«, müs­se revi­diert wer­den – was denn auch geschah. Bodo Rame­low (Die Lin­ke) konn­te unter expli­zi­ter Dul­dung durch die CDU Rot-Rot-Grün fort­set­zen. Natür­lich ist dies kein »Sieg der Demo­kra­tie« über die AfD, die einem FDP-Kan­di­da­ten ihre Stim­men lieh, son­dern ein Sieg des anti­fa­schis­ti­schen Mosa­iks. Was nach Kem­me­richs Wahl in Gang gesetzt wur­de, kann in einem Lehr­buch für die erfolg­rei­che Ver­qui­ckung genu­in lin­ker meta- und real­po­li­ti­scher Bau­stei­ne Gel­tung fin­den: Druck der Stra­ße (Demons­tra­tio­nen), Mili­tanz des ­Milieus (Anschlä­ge, Bedro­hung Kem­me­richs und sei­ner Fami­lie), Skan­da­li­sie­rung durch pro­mi­nen­te Poli­ti­ker (NSDAP-Ana­lo­gien), Läh­mung der »Mit­te« durch mas­sen­me­dia­len Druck, »Lösungs­an­ge­bo­te« (Erpres­sungs­for­de­run­gen) durch die Links­par­la­men­ta­ri­er in Erfurt (Neu­wahl des Minis­ter­prä­si­den­ten, Klein­bei­ge­ben von CDU und FDP). Das Resul­tat: ein Sieg Rame­lows nach ver­lo­re­ner Wahl – Meta­po­li­tik trifft Real­po­li­tik trifft zyni­sche Machtpolitik.

Eine Zäsur war auch »Hanau«, als ein Psy­cho­path im Febru­ar zehn Men­schen, dar­un­ter sei­ne Mut­ter, töte­te. Für die Sezes­si­on ana­ly­sier­te Mar­tin Licht­mesz die­sen Fall (wie auch die Cau­sa Geor­ge Floyd im Som­mer) und pro­gnos­ti­zier­te, daß die durch den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus erzeug­ten Frik­tio­nen noch etli­che Zeit­bom­ben akti­vie­ren wür­den, »die durch­aus ins Gebiet der Psych­ia­trie fal­len«. Dazu gehö­ren, so Licht­mesz, auch vie­le der isla­mis­ti­schen Atten­ta­te, die amok­lauf­ar­ti­ge Züge auf­wei­sen: »Wenn die Zivi­li­sa­ti­on brü­chig wird, fun­gie­ren psy­chisch Labi­le wie Seis­mo­gra­phen.« Die Offen­sicht­lich­keit des­sen, daß in Hanau kein »Rech­ter«, son­dern ein apo­li­ti­scher Irrer die Tat beging, bemerk­te indes­sen nicht jeder in und um die AfD. Meu­then und Umfeld über­nah­men das »Nar­ra­tiv« der anti­fa­schis­tisch usur­pier­ten Main­stream­pres­se und ätz­ten gegen AfD-»Flügel« und außer­par­la­men­ta­ri­sches Vor­feld. Dabei schien dies rea­li­täts­fern, und der Flü­gel befand sich ohne­hin in Auf­lö­sung. Bereits im März ver­kün­de­te Höcke über die Sezes­si­on das Ende des locke­ren Netz­werks: »Der ›Flü­gel‹ weiß, was er geleis­tet hat. Er weiß aber auch, daß er eben­so wie die Par­tei kein Selbst­zweck ist. […]. Was die­se Par­tei vom Basis­mit­glied bis zum Bun­des­vor­stand braucht ist: Gelas­sen­heit, vor allem dann, wenn For­de­run­gen von außer­halb der Par­tei kommen.«

Gelas­sen­heit – die­se Gemüts­la­ge war im wei­te­ren Jah­res­ver­lauf kaum zu erlan­gen. Beob­ach­tung durch den Ver­fas­sungs­schutz (VS) von AfD-Glie­de­run­gen und IfS / Sezes­si­on sowie die im März Fahrt auf­neh­men­de Coro­na­pan­de­mie präg­ten die fol­gen­den Quar­ta­le. Im Hin­blick auf ­Coro­na ­ent­schied sich unser Kreis von Anfang an für das Prü­fen sämt­li­cher Sicht­wei­sen. Autoren wie Caro­li­ne Som­mer­feld, Mar­tin Licht­mesz oder Mar­tin Sell­ner beleuch­te­ten Ent­wick­lun­gen des »Corona«-Narrativs und die damit ein­her­ge­hen­den gesund­heits­po­li­ti­schen Maß­nah­men und öffent­li­chen Pro­zes­se (dar­un­ter auch die viel­dis­ku­tier­ten Demons­tra­tio­nen), die die­se beglei­te­ten. Betrof­fen sind ja auch unse­re eige­nen Bran­chen: das Ver­lags­we­sen und die gesam­te Publi­zis­tik. Da der loka­le Buch­han­del in ver­schie­de­nen Lock­down­stu­fen des Jah­res still­ge­legt wur­de, kauf­ten auch Gros­sis­ten kei­ne Bücher mehr ein. Wäh­rend zahl­lo­se Ver­la­ge und Peri­odi­ka staat­lich geret­tet wer­den muß­ten, konn­ten wir auf­grund der geleis­te­ten Vor­ar­beit das Tal aus eige­ner Kraft über­brü­cken. Kei­nes der Bücher im Ver­lag Antai­os wird bezu­schußt, und die Sezes­si­on erscheint auch in ihrem 18. Jahr­gang ohne jede Sub­ven­ti­on. Sie hat – Stand Novem­ber 2020 – über 4000 Abon­nen­ten und ver­kauft je 350 Ein­zel­hef­te zusätz­lich. Sie kommt seit Jah­ren ohne jede Bei­hil­fe aus. Redak­ti­on und Autoren­stamm hof­fen dabei, daß der Staat die­je­ni­gen Bür­ger unter­stützt, die nicht viel zurück­le­gen konn­ten und nun abge­fe­dert wer­den soll­ten. »Die­je­ni­gen aber«, so Kubit­schek in einem Leit­ar­ti­kel Mit­te des Jah­res, »für die das ›Wir‹ der Nati­on eine über­hol­te, eine gera­de­zu krank­haf­te Ange­le­gen­heit ist, hof­fen nun auf die Soli­da­ri­tät eben jener Ord­nungs­struk­tur, von der sie nichts hal­ten. Ihnen wird auch wei­ter­hin der Stolz feh­len, sich nicht wie Schma­rot­zer zu verhalten«.

Aber auch an IfS und Sezes­si­on gin­gen die Coro­na­ver­ord­nun­gen nicht spur­los vor­bei. Zahl­rei­che Ver­an­stal­tun­gen muß­ten abge­sagt oder ins letz­te Drit­tel des Jah­res ver­legt wer­den, bevor die ver­schärf­ten Maß­nah­men ab Ende Okto­ber dies unmög­lich mach­ten. »125 Jah­re Ernst Jün­ger«, die wür­di­ge Fei­er eines unse­rer gro­ßen Autoren, konn­te im frü­hen Herbst nur in klei­nem Rah­men an der Ber­li­ner Stadt­gren­ze began­gen wer­den, und eine Wie­der­ho­lung Ende Okto­ber in Dres­den fiel ganz aus. Not­si­tua­tio­nen wecken die Krea­ti­vi­tät bei denen, die fin­dig sind, und so nutz­ten wir die Kri­se für die wei­te­re Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des »kanals schnell­ro­da« bei You­Tube, Spo­ti­fy und Co. Der Jün­ger-Abend mit Kubit­schek und Leh­nert wur­de kur­zer­hand ins Digi­ta­le ver­legt und konn­te am 28. Okto­ber und in den Fol­ge­ta­gen als ers­ter Live­stream aus Schnell­ro­da Tau­sen­de Zuschau­er errei­chen; ein For­mat, das wir 2020 eben­so aus­bau­ten wie ver­schie­de­ne Pod­casts (»Am Ran­de der Gesell­schaft«, Heft- und Buch­be­spre­chun­gen usf.).

In die­sem Seg­ment dräng­te die andau­ern­de Coro­na­kri­se ohne­hin unser gesam­tes Milieu zur ste­ti­gen Ver­tie­fung. Neben dem Schnell­ro­daer Motor sah 2020 wei­te­re neue, zum Teil sehr jun­ge und ambi­tio­nier­te Pro­jek­te an den Start gehen, dar­un­ter die öko­lo­gi­sche Quar­tals­zeit­schrift Die Keh­re des Sezes­si­on-Autors Jonas Schick, das vir­tu­el­le Kon­flikt Maga­zin oder ver­schie­de­ne Inno­va­tio­nen der rech­ten »NGO« Ein­Pro­zent. Deren Retro-Com­pu­ter­spiel »Hei­mat Defen­der« wur­de zehn­tau­send­fach her­un­ter­ge­la­den. Prä­sen­tiert wur­de es unter ande­rem auf der IfS-Som­mer­aka­de­mie im Sep­tem­ber, die auf­grund der Coro­na­re­strik­tio­nen unter ande­ren Vor­zei­chen als gewöhn­lich stand. Nur 90 Gäs­te durf­ten nach Schnell­ro­da rei­sen und drei Tage lang mit den Refe­ren­ten zum The­men­be­reich »Staat und Ord­nung« arbei­ten, der zugleich das Okto­ber­heft der Sezes­si­on füllte.

Bemer­kens­wert: All die­se außer­par­la­men­ta­ri­schen Vor­ha­ben wer­den von idea­lis­ti­schen Mit­strei­tern mit knap­pen Res­sour­cen gestemmt. Dies kann von AfD-Pro­jek­ten nicht immer gesagt wer­den. Nega­ti­ver Höhe­punkt 2020 war unstrit­tig jene Par­tei­kam­pa­gne, die »Gemein­sam für das Grund­ge­setz« heißt. Auf dem eigens ein­ge­rich­te­ten You­Tube-Kanal kann man sich Meu­then, Alex­an­der Wolf oder Bea­trix von Storch anse­hen, wie sie dem VS zu erklä­ren ver­su­chen, wie­so sie beson­ders loya­le Bun­des­re­pu­bli­ka­ner sei­en. Genau so und nicht anders will es das Estab­lish­ment haben: eine domes­ti­zier­te, gelähm­te, in rele­van­ten Tei­len abge­lenk­te Par­tei­spit­ze. Die Zugriffs­zah­len von maxi­mal weni­gen hun­dert Zuse­hern sind auch Ende 2020 noch bedau­erns­wert, und der dafür inves­tier­te Betrag über­stei­gert das Jah­res­bud­get 2020 von IfS, Ein Pro­zent und Co. zusam­men­ge­nom­men. Erneut stand man damit ab Som­mer des Jah­res vor einem ekla­tan­ten Pro­blem: Jene Alter­na­ti­ve, die in einer zu erwar­ten­den Kri­se das Auf­fang­be­cken für Unzu­frie­de­ne und in Not­la­gen gera­te­ne Per­so­nen sein soll­te, in das der unaus­weich­li­che Pro­test der vie­len Mil­lio­nen Kri­sen­ver­lie­rer abflie­ßen könn­te, beschäf­tigt sich stüm­per­haft mit jenem Instru­ment namens VS, das in IfS-Stu­di­en, Sezes­si­on-Ana­ly­sen und Vor­trä­gen als Kon­kur­renz­schutz demas­kiert wur­de. Natur­ge­mäß ist dies auch Enga­ge­ment »in eige­ner Sache«, denn zum einen nutz­ten Akteu­re um Eri­ka Stein­bach die VS-Keu­le, um IfS-Lei­ter Erik Leh­nert aus dem Vor­stand der AfD-nahen Desi­de­ri­us Eras­mus Stif­tung (DES) ent­fer­nen zu las­sen. Sie konn­te auf Angst der Mehr­heit vor Unge­wiß­heit und sozia­ler Äch­tung ver­trau­en. »Per­fi­de ist«, for­mu­lier­te Leh­nert, »wer Angst schürt, wo kei­ne sein müß­te. Aus Angst ist noch nie etwas Gutes erwach­sen.« Zum ande­ren gilt »in eige­ner Sache«, weil man seit Mit­te 2020 das IfS und die­se Zeit­schrift als »Ver­dachts­fall« beob­ach­tet. Dies ist eine logi­sche Abfol­ge jüngs­ter Ent­wick­lun­gen, die man scha­blo­nen­ar­tig in zwei Strän­ge ein­ord­nen kann: Ers­tens ist die fort­wäh­ren­de Ver­schär­fung der Nut­zung des Instru­men­ta­ri­ums VS durch die Gro­ße Koali­ti­on und ihre Ergän­zungs­spie­ler zu nen­nen. Das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz (BfV) und die 16 Lan­des­äm­ter für Ver­fas­sungs­schutz (LfV) die­nen seit jeher, ver­stärkt seit dem Auf­kom­men wirk­mäch­ti­ger Oppo­si­ti­ons­strö­mun­gen, als Schild und Schwert des Estab­lish­ments. Es geht nicht um Inhal­te, nicht um Bekämp­fung aggres­si­ver Akti­vi­tä­ten gegen Grund­ge­setz und Grund­rech­te – es geht um rei­ne Macht­fra­gen. Oppo­si­ti­on, und zwar jede grund­sätz­lich aus­ge­rich­te­te, soll behin­dert und aus­ge­schal­tet, abwei­chen­de Mei­nun­gen sank­tio­niert wer­den. Der VS ist kein neu­tra­les Instru­ment, son­dern Macht­mit­tel, kei­ne abwä­gen­de Behör­de, son­dern poli­ti­scher Akteur.

Zwei­tens muß in die­sem Zuge an die erfolg­reichs­te meta­po­li­ti­sche Set­zung der jüngs­ten Zeit erin­nert wer­den: die lin­ke Umdeu­tung des Cha­rak­ters des Grund­ge­set­zes (GG). Der frü­he anti­to­ta­li­tä­re Grund­kon­sens, der in der eta­blier­ten Poli­tik­wis­sen­schaft der letz­ten Jahr­zehn­te extre­mis­mus­theo­re­tisch nor­miert wur­de, ist auf­ge­löst. Ver­kürzt dar­ge­stellt umfaß­te die­ser, daß die Ver­fas­sung durch eine »wehr­haf­te Demo­kra­tie« gegen all jene zu ver­tei­di­gen sei, die beab­sich­ti­gen, die Grund­rech­te und eher­nen Regeln des Grund­ge­set­zes macht­po­li­tisch zu unter­mi­nie­ren. Die­se Vor­stel­lung, ver­tre­ten durch Poli­tik­wis­sen­schaft­ler um den Chem­nit­zer For­scher Eck­hard Jes­se, wur­de gekippt; das lag an Unzu­läng­lich­kei­ten der eige­nen Extre­mis­mus­theo­rie eben­so wie an Dekon­struk­ti­ons­ar­bei­ten lin­ker ­pres­su­re groups bei nach­hal­ti­ger Wühl­ar­beit durch polit­me­dia­le Akteu­re ein­schließ­lich der GEZ-Sender.

Auch die Fra­ge der Gemein­nüt­zig­keit des IfS tauch­te in die­sem Kon­text über das Jahr hin­weg immer wie­der auf. Das Finanz­ge­richt Sach­sen-Anhalt ist dabei der Argu­men­ta­ti­on des Insti­tuts gefolgt und hat die Ent­schei­dung des Finanz­amts auf­ge­ho­ben, und zwar rück­wir­kend zum 1. Janu­ar 2020. Nichts hat­te die­ser Gemein­nüt­zig­keits­streit mit der Äuße­rung des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz zu tun, man beob­ach­te nun, weil man »Anhalts­punk­te« für den »Ver­dacht« habe, wir sei­en dabei, die frei­heit­li­che demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung in Fra­ge zu stel­len. Mehr hat der VS nicht vor­zu­brin­gen, und weil das so ist, begeht das IfS im Dezem­ber sein zwan­zig­jäh­ri­ges Bestehen mit einer Fest­schrift und blickt auf das Jahr 2021, das neue Pro­jek­te, bewähr­te Kon­zep­te, unge­ahn­te Ent­wick­lun­gen und zahl­rei­che Chan­cen zum meta­po­li­ti­schen Angriff bie­ten wird. Zwi­schen Coro­na und Kri­sen­po­li­tik wächst ein leben­di­ges und selbst­be­wuß­tes Milieu, das als Super­sprea­der von neu­rech­ter Theo­rie und Pra­xis, kon­ser­va­ti­ver Bil­dung und For­schung sei­nen ange­mes­se­nen Teil zur drin­gend nöti­gen Ten­denz­wen­de leis­ten will: »Das Auf­be­geh­ren ist die freie Wahl« (Vol­ker Braun).

 

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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