In meinem kürzlich veröffentlichten Kaplakenbändchen Antiordnung habe ich ein wichtiges Thema nicht mehr untergebracht. Wir befinden uns mitten in einem gewaltigen ideologischen Wirbel, in dem Gewißheiten, Geschlechter, Alltagswelten und Institutionen verschlungen zu werden drohen. Gleichzeitig finden wir uns einer Gegenbewegung ausgesetzt, die durch rücksichtslosesten Druck neue Gewißheiten, Geschlechter, Alltagswelten und Institutionen zu verankern sucht, die paradoxerweise zugleich stets veränderbar sein sollen.
Als Faktor, der diese schwindelerregende Drehung in Gang hält, haben wir eine anscheinend unwiderstehliche historische Konstellation ausgemacht: das Zusammenspiel einer aggressiven ökonomischen Globalisierung mit postmodernen Denkmustern, die sich zu ihrer Rechtfertigung hergeben. Diese »woke« Ideologie ist allerdings alles andere als kohärent: Sie beruft sich bei Bedarf auch gern einmal auf universalistische Elemente, die mit der radikalen Identitätspolitik, die sie ansonsten predigt, an sich unvereinbar sind. Wie niedrig das Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit ausgeprägt ist, erweist sich daran, daß eine Reflexion auf dieses Dilemma ausgeblieben ist. Das spiegelt sich nicht nur im Stil der Theoriebildung (über den ich im dritten Kapitel von Antiordnung und im Vortrag auf der diesjährigen Sommerakademie referiert habe), sondern auch in Gestalt ihres typischen Verfechters und des Idealtypus, an dem diese Verfechter sich orientieren.
Der Unterschied zur »logozentrischen« klassischen Linken, deren Idealtypen der klassenbewußte Arbeiter, der disziplinierte Kämpfer und der Theoretiker waren, liegt auf der Hand. Wohlgemerkt ein Theoretiker, der Gedankengebäude errichtete. Das vegetabilische Fort- und Auswuchern des Denkens über Metaphernketten ist weder im Historischen Materialismus noch in den freieren Theoriegebilden des westlichen Marxismus zu finden. Herkömmliches linkes Denken ist Konstruktion, nicht vegetabilisches Wuchern. Auch die differenzierten und verfeinerten Vertreter der Frankfurter Schule waren alles andere als Rhizomatiker. Adorno etwa sah seine (bei Erich Fromm entlehnte) Vorstellung vom autoritären Charakter strikt im Monopolkapitalismus und der Vorherrschaft der Warenwelt begründet. Solche Begründungen mögen monoman und monokausal wirken, belegen aber einen Denktypus, der noch um stringente Begründungen und Erklärungen kämpfte.
Das Ideal des politischen Kämpfers war dementsprechend nicht der Aktivist (schon gar nicht der, der sich bei der Wahl eines ungeliebten Präsidenten auf der Straße wälzt und spitze Schreie ausstößt), sondern der Parteisoldat: Wie lange es sich nach dem Krieg in der längst durchindividualisierten westdeutschen Linken hielt, kann man am Nachleben von Bertolt Brechts Lehrstück Die Maßnahme ablesen, das in akademischen Milieus jahrzehntelang kritiklos gefeiert wurde. Darin erklärt sich ein »junger Genosse«, der durch Aktionen spontanen Mitleidens die revolutionäre Wühlarbeit der Partei wiederholt gefährdet, mit seiner eigenen Erschießung einverstanden. Die Perspektivenstruktur läßt keinen Zweifel an der Vorbildlichkeit dieser Haltung, die das Lehrstück einüben soll. Der Klassiker-Status, den das Stück erlangte, erklärt sich wohl gerade aus der Tatsache, daß die Auslöschung des Selbst zugunsten eines politischen Kampfziels in der BRD der achtziger und neunziger Jahre in Wirklichkeit eine ganz und gar exotische Vorstellung war, wovon nicht zuletzt die Romantisierung der RAF zeugt.
Derzeit sind wir mit einem völlig anderen intellektuellen und politaktivistischen Gestus konfrontiert. Also nochmals die Frage: Wie konnte das passieren? Wieso konnten auf die spitzbärtigen Trotzki-Kopien, die rauschebärtigen Ersatz-Castros, die Che-Guevara-Mützen und die andächtig Meister-Worte murmelnden Adorniten Wesen folgen, die »safe spaces« benötigen, sich weinend in die Arme fallen, ganz viktorianisch vor »Stellen« in der Weltliteratur geschützt werden müssen und von jeglicher Lebensäußerung anderer Meinungsgruppen grundsätzlich beleidigt sind? Und die es nichtsdestoweniger fertigbringen, diese extreme Empfindsamkeit, was ihr Selbst angeht, mit einer Gewaltneigung zu koppeln, die zur Demolierung kompletter Stadtviertel führt? Erklärungen sind auf mehreren Ebenen möglich. Mich interessiert hier diejenige, die man früher etwas dürr als Ideengeschichte und später, nicht viel ausdrucksstärker, als Diskursgeschichte bezeichnet hat. Die Ausdrücke sind deshalb unbefriedigend, weil sie kein Bild davon geben, wie tief und prägend das, was sie bezeichnen, ins Leben und Selbstverständnis von Menschen eingreifen kann. In diesem Fall besonders. Die Idee, um die es hier geht, ist die des Selbst.
In der PC-Kultur liegen zwei Muster miteinander im Streit: Einmal ein kollektivierendes, das Einzelpersonen nach ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht oder ihren sexuellen Vorlieben kategorisiert und als Opfer oder Unterdrücker einsortiert (einer Zuordnung, der man sich als Weißer und Heterosexueller nur teilweise entziehen kann, indem man sich als – naturgemäß stets defizienter – Verbündeter deklariert). Hierhin gehören all die Haßtiraden gegen weiße Männer, die Vorstellung eines allenthalben wuchernden »strukturellen« Rassismus und die grundsätzliche moralische Überlegenheit ganzer Opfergruppen, die im Wege magischer Partizipation auf jedes einzelne Mitglied übergeht, auch wenn dieses persönlich privilegiert sein sollte.
Und zweitens ein individualisierendes Muster, das ich als expressionistisch-gefühlsorientiert bezeichnen möchte. Und dieses hat es in sich, denn es ist, im Gegensatz zu den kollektivistischen Ansätzen, gewissermaßen in der DNA moderner, ihrer Selbstdefinition nach liberaler Gesellschaften verankert. Es entsteht gleichzeitig mit diesen in der sogenannten Sattelzeit, ab etwa der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis in die ersten beiden Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hinein, in denen es voll ausgebildet ist, und wirkt bis heute nach. Auf der ökonomischen Ebene wird es durch das kapitalistischen Gesellschaften innewohnende Konkurrenzdenken getrieben, religionsgeschichtlich zehrt es von der protestantischen Konzentration auf den einzelnen in seinem Verhältnis zu Gott, politisch spiegelt es sich in der Bedeutung, die Individualrechten zuerkannt wird. Aber das reicht zu seiner Bestimmung nicht aus. Wesentlich ist ein Verständnis vom Selbst, das als sein eigener Ursprung und sein eigenes Ziel aufgefaßt wird (soweit die westliche Moderne dieser Auffassung huldigt, ruht sie auf der Grundlage der Blasphemie, was die reizbare Reaktion der islamischen Welt verständlich macht). Alle persönlichen Aktivitäten gelten daher fortan als Ausdruck dieser geheimnisvollen Instanz, deren Wünschen und Empfindungen eine ungeheure Wichtigkeit beigemessen wird. Um die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« kreist – soweit er nicht nur marktorientiert ist – der gesamte liberale und liberalistische Diskurs. Dazu muß man sich aber erst einmal als »Persönlichkeit« und »Individuum« verstehen und entwerfen können, eine Anstrengung, die kollektivistischer verfasste Kulturen, die dafür andere Zumutungen bereithalten, ihren Mitgliedern größtenteils ersparen.
Dieser Persönlichkeitskult braucht also Vorbilder, die für Verehrung und Nachahmung zur Verfügung stehen. Diese liefert seit etwa zweihundertfünfzig Jahren (wenn man den »Vorlauf« der Renaissance, die dessen Aufwertung bereits ins Werk setzt, nicht mitrechnet) der Typus des Künstlers. Die neuere europäische Kulturgeschichte war und ist auch eine Geschichte des Kunst‑, vor allem aber des Künstlerkults. Dieser Kultus wird und bleibt ein integraler Zug der bürgerlichen Gesellschaft. Die »Legende von Künstler« feiert nicht nur das Individuum als Singularität; sie spricht dem Künstler außerdem die Fähigkeit zum »Ausdruck« dieses einzigartigen Selbst zu (Expressionsmodell) und attestiert ihm »Authentizität«, also Echtheit von Ausdruck und Erleben. Der Künstler lebt damit die moderne Auffassung vom Selbst gewissermaßen auf einer Bühne vor. Literaten und Schauspieler stehen dabei als Modelle ganz oben.
Wer jetzt die Nase rümpft und meint, dieses Muster hätte mit dem roten Plüsch und dem Marmor historistischer Museumsbauten seine Gültigkeit verloren, hat entweder einen verengten (»bürgerlichen«) Kunstbegriff, oder die medialen Tsunamis um # Metoo, Transsexualität und Black Lives Matter sind an ihm vorübergezogen: In allen diesen Fällen waren und sind Künstler, und ganz besonders Schauspieler und Schriftsteller, an vorderster Front in den Meinungskampf verstrickt, in dem sie als Autoritäten gehandelt werden. Hollywood war sowieso überall dabei. Die Schauspielerin Alyssa Milano brachte # Metoo maßgeblich auf den Weg, der Schauspieler Kevin Bacon bewarb ein TikTok-Video, das Kleinkinder zeigt, die »für Black Lives Matter« marschieren. Die erbitterte Auseinandersetzung um die Risiken, die entstehen, wenn man Männern erlaubt, sich als Frauen zu definieren, erreichte den Mainstream erst, als sich Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling einmischte. Prompt wurde sie, wiederum maßgeblich aus Hollywood, mit Ex-Kommunikation bedroht. Kunstgalerien quer durch die USA behaupteten, Werke zu Gunsten von BLM zu verkaufen, die Street Art erlebte mit dem Thema einen Aufschwung.
In Deutschland meldeten sich Musiker wie Campino oder Udo Lindenberg oder der Schauspieler Til Schweiger zur Aufnahme von Flüchtlingen zu Wort. Als Identifikationsobjekt eignen sich sogar per definitionem schweigende Künstler, wie der AfD-hassende Pianist Igor Levit, der von einer Welle empörter Anhänger gegen eher moderate Kritik an seinen politischen Showeinlagen in Schutz genommen wurde. Die Wortmeldungen selbst sind dabei mehrheitlich schabloniert und uninteressant – bemerkenswert ist nur, daß wir in einer Kultur leben, in der diesen politisch fast demonstrativ unbedarften Stimmen der Rang eines Orakels zukommt.
Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Um auf meine Ausgangsbehauptung zurückzukommen: Die Strahlkraft des »Künstlermodells« ist trotz der Subjektkritik der Postmodernisten ungebrochen und wird durch die Medien nicht »ent-auratisiert«. Im Gegenteil, die Aura von Künstler und Werk wird durch die mediale Vergegenwärtigung und Vervielfachung keineswegs, wie Walter Benjamin noch meinte, zerstört, sondern gesteigert.
Das und die Geschichte des Künstlers als sozialer Erscheinung erklärt die Vorbildwirkung dieser Figuren und ihrer Praxis. Wenn Glenn Close und Leonardo di Caprio oder gar Madonna sich »engagieren«, dann bestätigt und befeuert das das »Engagement« und Selbstbild ganzer Alterskohorten und ihrer (je nachdem) sentimentalen Eltern oder Kinder.
Was aber (außer einem mittlerweile etablierten enormen Anpassungsdruck) erklärt die Tatsache, daß Künstler derart weit überwiegend progressistische Positionen beziehen? Kaum ein prominenter amerikanischer oder europäischer Vertreter dieser Spezies, der nicht als »bleeding-heart liberal« auftritt, also als jemand der am ganzen Jammer der Welt leidet und sich nichts weniger als dessen Beseitigung auf die Fahnen geschrieben hat.
Sicher gibt es hier eine Spirale des gegenseitigen Aufschaukelns, eine Art Paartanz zwischen Stars und Publikum. Das (trotz heftiger Attacken) auch mit der Postmoderne nicht verschwundene Künstlerbild weist diesem einerseits den Bereich des Emotionalen und der emotionalen Kompetenz zu; der Künstler ist ein Virtuose des stellvertretenden Gefühlsausdrucks – er lebt vor, und der Leser, Hörer, Betrachter darf sich mit seinen Bedürfnissen in ihm wiedererkennen und nach-leben. In Ermangelung von Autoritäten wird diese Offerte nicht nur von Jugendlichen gerne aufgegriffen. Die Ansprüche der »Protestierenden« auf restlose Übereinstimmung der Welt mit ihren Positionen entsprechen der Anspruchshaltung einer Diva. Die echten Diven des Kulturlebens und Show-Business wiederum können schwer hinter diese zurückfallen.
Andererseits wird der Künstler nicht nur mit der Rolle eines Champions des Gefühls, sondern auch eines Champions der Gerechtigkeit, also mit einer universalistischen Forderung, beladen. Die Dreyfus-Affäre (nicht zufällig neulich wieder verfilmt) dürfte hier neue Erwartungs-Standards gesetzt haben, freilich unter Rückgriff auf die Rolle aufklärerischer Intellektueller wie Voltaire, die sich bevorzugt Literaten zu eigen machen. Das Posieren in der Rolle eines Émile Zola gehört zum Berufsbild, auch wenn die Anlässe zu derart berechtigter Empörung rar sind. Die »Rassismus«- und »Frauenfeindlichkeit-Homophobie-Transphobie«-Rufe sind das »J’accuse« unserer Zeit. Sie klingen genauso hohl und posierend wie das »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!« in einer Aufführung von Schillers oder Giuseppe Verdis Don Carlos – große Oper.
Ach ja, und wo ist die Frage nach der Ordnung geblieben? Sie hat uns als eine Art Negativ die ganze Zeit begleitet: Den Künstlertypus als alltagstaugliche Vorlage des Selbst zu stilisieren, ist der hypertrophe und widersprüchliche Versuch, dem Individuum mit der Schöpfung seiner selbst auch die (Neu-)Ordnung und Einrichtung der Welt aufzubürden. Er bildet damit, wenn man so will, die Fragilität und die gleichzeitige erstaunliche Zähigkeit moderner Zustände ab. Was aus ihm und uns wird, ist nicht abzusehen. Klar ist nur: Kulturkritische Reflexion von rechts (und übrigens auch von links) sollte nicht auf diese bürgerliche Schimäre hereinfallen. Eine nachmoderne Ordnung, falls es eine solche jemals geben sollte, müßte entweder auf einem älteren oder auf einem noch unbekannten Typus des Selbst aufgebaut sein. ¡