Der Sieger

von Oswald Spengler, geschrieben 1910

PDF der Druckfassung aus Sezession 99/ Dezember 2020

I

 

Am letz­ten Tage der Schlacht von Lia­oyang gin­gen Schwär­me japa­ni­scher Infan­te­rie, die eben erst aus der Hei­mat ein­ge­trof­fen waren, gegen eine furcht­ba­re rus­si­sche Bat­te­rie­stel­lung vor.

Die gel­be Ebe­ne brann­te. Vom stau­ber­füll­ten Mor­gen an, wüte­te der Kampf weit­hin in der lang­sam stei­gen­den Glut eines Hoch­som­mer­ta­ges. Immer wie­der dran­gen Rei­hen der klei­nen tap­fe­ren Wesen, hin­ge­tra­gen von einem zähen Wil­len zum fast schon erstrit­te­nen Sie­ge, auf die brül­len­den, rauchum­wog­ten Geschüt­ze ein, in denen der rus­si­sche Zorn sich gesam­melt hatte.

Eine blin­de Hand besä­te die Ebe­ne mit Hügeln, regungs­lo­ser oder zucken­der Kör­per. Die tie­fen Grä­ben füll­ten sich, schwei­gend gleich­sam, wenn auch der blu­ti­ge Boden beb­te und Schreie die Luft durch­gell­ten. Und in das letz­te schwin­den­de Bewußt­sein der Fal­len­den drang der Gedan­ke, mit dem Leib einer Brü­cke wenigs­tens dem Zie­le zu gebaut zu haben.

Und es ward Mit­tag. Die Ebe­ne glüh­te. Ein totes Auge stand die Son­ne hoch im Dunst. Unten aber, weit­hin über die zer­tre­te­nen Fel­der, dröhn­te, fun­kel­te, lief und schrie es wei­ter. Der klei­nen Kämp­fer waren weni­ge gewor­den. Da gin­gen die rus­si­schen Mas­sen noch ein­mal vor, fins­ter und schwer. Ein hoch­ge­wach­se­ner Offi­zier mit ­einem Aus­druck trost­lo­sen Erns­tes in jeder Bewe­gung des Armes und der Mie­ne erblick­te dort, wo die Gefal­le­nen am dich­tes­ten lagen, plötz­lich einen klei­nen Sol­da­ten vor sich, der stau­big bis zur Müt­ze hin­auf, atem­los, schwit­zend und eif­rig allen ande­ren vor­an­lief. Er war nicht stark und das Gewehr zit­ter­te in der mage­ren Hand, aber etwas leuch­te­te in sei­nen Augen, etwas Uner­gründ­li­ches, Schre­cken­des. Ein ver­zwei­fel­ter Schmerz ver­zog das fal­ti­ge Gesicht, als sie zurück muß­ten und das dröh­nen­de Geschütz wie­der in die Fer­ne wich. Er hat­te den Gro­ßen erblickt. In ihm schien sich der gesam­te Feind, ganz Ruß­land, die gan­ze and­re Hälf­te der Mensch­heit ver­dich­tet zu haben. Es ward wie ein Zwei­kampf aus der Fer­ne zwi­schen den bei­den, die ein­an­der nie gese­hen hat­ten und sich jetzt Säbel gegen Bajo­nett, allein sahen, wäh­rend rings unter dem tie­fen Blau eines wol­ken­lo­sen Him­mels die Ebe­ne mit ihrer unge­heu­ren Schlacht als Zuschaue­rin war­tend lag. Und im Bewußt­sein wuchs bei­den das Gefühl, daß im Fall des andern das Schick­sal der gan­zen Welt beschlos­sen sei. Der Gro­ße blu­te­te, aber er ging lang­sam wei­ter vor und zog dich­te dunk­le Schwär­me hin­ter sich her. Sie hat­ten schon den ers­ten der Grä­ben erreicht, wel­che die klei­nen Hel­den vom frü­hen Mor­gen an mit ihren Lei­bern gefüllt hat­ten; da faß­te den zu Tode erschöpf­ten Sol­da­ten etwas wie hei­ße Angst, Angst um alles, was tief in sei­ner See­le und der Wei­te rings­um auf dem Spie­le stand. Mit wil­den Schrei­en faß­te er die andern zusam­men, die längst alle Offi­zie­re ver­lo­ren hat­ten. Er weck­te sie, er rüt­tel­te sie auf.

Und so wild war der Angriff, daß die ­Linie drü­ben sich lös­te und zurück­bog. Der Klei­ne aber führ­te, ohne daß jemand sich dar­über wun­der­te, und er ahn­te stolz, wie jedes Auge an sei­nen Schrit­ten hing.

 

II

 

Er war aus einem Hau­se nahe bei Osa­ka, des­sen Gar­ten im Früh­jahr unter einem Traum von Kirsch­blü­ten ver­schwand, und dort hat­te er, welt­ver­lo­ren und still, klei­ne unbe­deu­ten­de Bil­der gemalt, die den gan­zen Sinn sei­nes Daseins erfüll­ten. Vor eini­gen Wochen war er ein­be­ru­fen wor­den. Man hat­te ihn geklei­det und mit unzäh­li­gen andern hinübergeschifft.

Ges­tern Abend war er in die­ser uner­meß­li­chen Flä­che ange­langt, die nach gewal­ti­gen Schlach­ten sich eben unter noch einer noch grö­ße­ren dehn­te und die Ahnung einer letz­ten ent­schei­den­den in sich trug. Er war noch immer betäubt von der neu­en Welt, die plötz­lich auf ihn ein­drang, eine arme scheue See­le, die sich in der Men­ge ver­lo­ren sah. Die unge­üb­ten Hän­de rie­ben sich wund. Die andern, Reis­ar­bei­ter und Sänf­ten­trä­ger, spot­te­ten. Das Haus unter den Kirsch­blü­ten, das gan­ze frü­he­re Leben mit sei­ner klei­nen Wich­tig­keit, weich und süß, schwand ver­blas­send dahin, als sei es nie­mals mehr als Traum gewesen.

Der Mond war in der Küh­le auf­ge­stie­gen. Eine strah­len­de Nacht ent­fal­te­te sich über dem gequäl­ten Boden, der sich mit tau­send Lager­feu­ern, den hal­len­den Rufen, fer­nem Geschütz­don­ner und Schritt vor­bei­zie­hen­der Kolon­nen zu schwe­rem Schick­sal rüs­te­te. Da saß er, der stil­le mage­re Mann, den nie­mand beach­te­te, und hör­te zum ersten­mal, wie aus den andern das mäch­ti­ge Bewußt­sein sprach, für ein gro­ßes Volk dazu­sein, den Tod vor sich, die mit Toten über­sät­tig­te Erde unter sich, in der Fer­ne aber das Ziel einer ruhm­rei­chen Bahn. Er schwieg. Ihn erdrück­te die­ses Wol­len durch alle die Lei­ber hin­durch, wäh­rend ein laut­lo­ser Wind um sei­ne beben­den Schlä­fen strich.

Und lang­sam erwach­te in ihm ein hei­ßer Wunsch, auch so zu sein, und nahm ihn gefan­gen, unter atem­lo­sen, selig-süßen Schau­ern, wie er im blei­chen Mond­licht dasaß, win­zig, ein­sam im ewi­gen All, ohne daß jemand die gro­ße Wand­lung bemerkt hät­te, die sich in sei­nem Innern vollzog.

Das eins­ti­ge Leben wan­der­te in die Fer­ne. Kaum mög­lich, daß es jemals wirk­lich war, wie es nun erschien mit sei­nen Bild­chen und Far­ben und den freund­li­chen Gesich­tern derer die davor­stan­den und sie mitnahmen.

Er blick­te stau­nend in das Feu­er und auf die gerö­te­ten Gesich­ter rings­um, wäh­rend der Sil­ber­rand einer Wol­ke, die am Mond vor­bei­zog, selt­sam blink­te. Sie spie­gel­te sich lang­sam in glit­zern­den Waf­fen. Lärm und Geläch­ter erscholl. In der Nähe sang man, und lei­se fort­ge­setzt ver­lor sich das Lied in der Nacht. Nie­mand ach­te­te auf ihn. Ein hei­ßer Strahl des Wol­lens von Mil­lio­nen hat­te sich gesenkt. Das Gefühl einer Sen­dung erfüll­te ihn jäh und streif­te alles ab, was von klei­nen Wün­schen je in ihm war. Sei­ne Schul­tern hoben sich, die Brust atme­te tief, das Auge glänz­te, aber er allein fühl­te sich wach­sen und kein Auge eines andern sah, wie es sich in ihm erschloß.

 

III

 

So stürm­te er am Mor­gen vor, in die ers­te Gefahr sei­nes Lebens, über zer­stampf­tes Gras, über auf­ge­wühl­te Fel­der, daß alle nach und nach fühl­ten, wie die­ser schwäch­li­che Kör­per sie in sei­nen Bann zog, und so rann­te er jetzt wie­der den Gro­ßen zu. Etwas Unir­di­sches hob ihn und trieb ihn wei­ter, unwi­der­steh­lich. Neben ihm blitz­ten Bajo­net­te und stürz­ten Men­schen. Über ihm schwan­gen sich wil­de Strei­fen von Rauch und vor ihm tauch­te wie­der das Ant­litz des Rus­sen auf, ver­bis­sen, in erdrü­cken­dem Ernst. Er ver­stand es, er sah es durch und durch, wie das Ant­litz der gemar­ter­ten Erde, die nun schon in län­ge­ren Schat­ten des Nach­mit­tags vor ihm lag. Lie­be­leer, von einem mit­leid­lo­sen Ver­häng­nis hier­her­ge­stellt, um zu töten und zu ster­ben, leis­te­te er Wider­stand im Gefühl sei­ner Pflicht, irgend­wo in einem frem­den Lan­de, für etwas, das er viel­leicht nicht ein­mal begriff. Und hin­ter dem Rus­sen erschien wie­der das gro­ße, immer noch blit­zen­de und kra­chen­de Geschütz, das ein­zi­ge, das er von allen sah. Die gan­ze Welt dräng­te sich ihm ent­ge­gen in die­sem offe­nen hei­ßen Rohr inmit­ten eines wild­be­weg­ten Knäu­els feind­li­cher Wesen.

Neben ihm fauch­ten Gra­na­ten, lie­fen und stürz­ten Men­schen. Er stol­per­te vor­wärts, tod­mü­de und beklom­men, über Lei­chen und Schol­len los­ge­ris­se­ner Erde. Ein dump­fes Gefühl preß­te sei­ne Brust, wie er es nie gekannt hat­te, von dem er nicht wuß­te, war es eine abgrund­tie­fe Angst oder die drän­gen­de Nähe des hei­li­gen Ziels.

Das kam näher, immer näher. Er erkann­te die Räder, die Uni­for­men, schmut­zi­ge und blu­ti­ge Stie­fel, wild umher­schla­gen­de Arme Ver­wun­de­ter. Eine Woge tri­um­phie­ren­den Stol­zes bäum­te sich hoch in ihm auf. Die Bestim­mung von Jahr­tau­sen­den erfüll­te sich. Die Erde hob sich, um ihn vor­wärts zu tra­gen, ihn allein. Um ihn kreis­te der Hori­zont. Auf ihn blick­te der sin­ken­de Son­nen­ball. Selbst die lan­gen Schat­ten glit­ten neben­her und zeig­ten ihm den Weg. Er hör­te nicht mehr das Wüten der Schlacht. Er sah die kämp­fen­den Hau­fen nicht mehr. Die Ewig­keit war in die­sen Augen­blick gebannt. Er erreich­te den letz­ten schon ver­schüt­te­ten Gra­ben. Er erhob den Arm und wink­te zurück. Er fühl­te, wie ihn jetzt alle sehen muß­ten, rings auf der wei­ten Welt – da kam etwas näher, immer näher, riß unter ihm durch und im betäu­ben­den Lärm stürt­ze er zusam­men, über and­re, die mit ihm fielen.

 

IV

 

Er lag unter den Trit­ten des stür­men­den Hee­res, in wil­dem Schmerz, aber ent­setz­lich kla­rem Bewußt­sein. Der Weg war zu Ende. Dort vor ihm stand das Geschütz und blick­te grin­send her­über. Es war­te­te, es prahl­te laut.

Rechts und links tob­te es vor­bei und sein armes Wis­sen dar­um schloß sich mit dem hier, dem letz­ten Ort sei­nes Lebens zu einem unbarm­her­zi­gen engen Ring zusam­men. Er such­te die Schul­tern zu erhe­ben, aber der Rumpf gehör­te nicht mehr ihm und reg­te sich nicht. Es war zu spät. Ein Augen­blick verrann.

Da ging es wie ein hei­li­ges Leuch­ten in ihm auf. Ein Lächeln durch­brach den irr­sin­ni­gen Schmerz. Er rück­te den Tor­nis­ter mit schon unsi­cher tas­ten­den Hän­den vor sich hin. Er zog einen Fet­zen der wei­ßen blut­ge­tränk­ten Gama­schen von dem armen Rest sei­ner Bei­ne. Der Rücken lehn­te an dem toten Kör­per eines andern. Er nahm ein Blatt her­aus und begann has­tig zu zeich­nen. Mit brei­ten roten Stri­chen sei­nes eige­nen Blu­tes ent­stand das Geschütz auf dem Hügel und er stand neben ihm, er allein, und leg­te die Hand darauf.

So sah ihn der Rus­se, der im rasen­den Gefecht noch ein­mal in sei­ne Nähe kam. Er fand ihn zusam­men­ge­schrumpft im blei­chen Abend­licht, hohl, fast regungs­los. Der Klei­ne blick­te ihn starr an. Spre­chen konn­te er nicht mehr, aber die Hand fuhr unab­läs­sig fort, blu­ti­ge Stri­che zu zeich­nen. Der Rus­se ver­stand und ein schmerz­li­ches Lächeln ging über sein Gesicht. Er gab dem Künst­ler einen Schluck zu trin­ken. Er öff­ne­te die Lip­pen und fuhr fort.

Er nick­te müh­sam und fuhr fort. Das Bild des Sie­ges war voll­endet, als die letz­ten Fein­de wichen und über dem Geschütz das japa­ni­sche Ban­ner erschien.

Und auch der Gro­ße fiel, und die See­le, aus die­sem gram­vol­len Ant­litz gere­det hat­te, schwand hin, namen­los und unge­trös­tet, unter dem Hügel von andern Namen­lo­sen. Das Gefecht zog sich in die Fer­ne. Das Tages­licht ver­glomm, in dem die Flag­ge ein­sam wehte.

Am Hori­zont lager­te sich ein Strei­fen düs­te­ren Abend­rots. Ein gro­ßes Schwei­gen brei­te­te sich aus. Der Wind blies kühl über die Ebe­ne und warf dem toten Sol­da­ten die Müt­ze vom Kopf. Der aber saß da, gelb und kalt, das Auge mit tri­um­phie­ren­dem Lächeln auf die fürch­ter­li­che Zeich­nung gehef­tet, die er auf sei­nen zer­schmet­ter­ten Knien hielt.

 

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