I
Am letzten Tage der Schlacht von Liaoyang gingen Schwärme japanischer Infanterie, die eben erst aus der Heimat eingetroffen waren, gegen eine furchtbare russische Batteriestellung vor.
Die gelbe Ebene brannte. Vom stauberfüllten Morgen an, wütete der Kampf weithin in der langsam steigenden Glut eines Hochsommertages. Immer wieder drangen Reihen der kleinen tapferen Wesen, hingetragen von einem zähen Willen zum fast schon erstrittenen Siege, auf die brüllenden, rauchumwogten Geschütze ein, in denen der russische Zorn sich gesammelt hatte.
Eine blinde Hand besäte die Ebene mit Hügeln, regungsloser oder zuckender Körper. Die tiefen Gräben füllten sich, schweigend gleichsam, wenn auch der blutige Boden bebte und Schreie die Luft durchgellten. Und in das letzte schwindende Bewußtsein der Fallenden drang der Gedanke, mit dem Leib einer Brücke wenigstens dem Ziele zu gebaut zu haben.
Und es ward Mittag. Die Ebene glühte. Ein totes Auge stand die Sonne hoch im Dunst. Unten aber, weithin über die zertretenen Felder, dröhnte, funkelte, lief und schrie es weiter. Der kleinen Kämpfer waren wenige geworden. Da gingen die russischen Massen noch einmal vor, finster und schwer. Ein hochgewachsener Offizier mit einem Ausdruck trostlosen Ernstes in jeder Bewegung des Armes und der Miene erblickte dort, wo die Gefallenen am dichtesten lagen, plötzlich einen kleinen Soldaten vor sich, der staubig bis zur Mütze hinauf, atemlos, schwitzend und eifrig allen anderen voranlief. Er war nicht stark und das Gewehr zitterte in der mageren Hand, aber etwas leuchtete in seinen Augen, etwas Unergründliches, Schreckendes. Ein verzweifelter Schmerz verzog das faltige Gesicht, als sie zurück mußten und das dröhnende Geschütz wieder in die Ferne wich. Er hatte den Großen erblickt. In ihm schien sich der gesamte Feind, ganz Rußland, die ganze andre Hälfte der Menschheit verdichtet zu haben. Es ward wie ein Zweikampf aus der Ferne zwischen den beiden, die einander nie gesehen hatten und sich jetzt Säbel gegen Bajonett, allein sahen, während rings unter dem tiefen Blau eines wolkenlosen Himmels die Ebene mit ihrer ungeheuren Schlacht als Zuschauerin wartend lag. Und im Bewußtsein wuchs beiden das Gefühl, daß im Fall des andern das Schicksal der ganzen Welt beschlossen sei. Der Große blutete, aber er ging langsam weiter vor und zog dichte dunkle Schwärme hinter sich her. Sie hatten schon den ersten der Gräben erreicht, welche die kleinen Helden vom frühen Morgen an mit ihren Leibern gefüllt hatten; da faßte den zu Tode erschöpften Soldaten etwas wie heiße Angst, Angst um alles, was tief in seiner Seele und der Weite ringsum auf dem Spiele stand. Mit wilden Schreien faßte er die andern zusammen, die längst alle Offiziere verloren hatten. Er weckte sie, er rüttelte sie auf.
Und so wild war der Angriff, daß die Linie drüben sich löste und zurückbog. Der Kleine aber führte, ohne daß jemand sich darüber wunderte, und er ahnte stolz, wie jedes Auge an seinen Schritten hing.
II
Er war aus einem Hause nahe bei Osaka, dessen Garten im Frühjahr unter einem Traum von Kirschblüten verschwand, und dort hatte er, weltverloren und still, kleine unbedeutende Bilder gemalt, die den ganzen Sinn seines Daseins erfüllten. Vor einigen Wochen war er einberufen worden. Man hatte ihn gekleidet und mit unzähligen andern hinübergeschifft.
Gestern Abend war er in dieser unermeßlichen Fläche angelangt, die nach gewaltigen Schlachten sich eben unter noch einer noch größeren dehnte und die Ahnung einer letzten entscheidenden in sich trug. Er war noch immer betäubt von der neuen Welt, die plötzlich auf ihn eindrang, eine arme scheue Seele, die sich in der Menge verloren sah. Die ungeübten Hände rieben sich wund. Die andern, Reisarbeiter und Sänftenträger, spotteten. Das Haus unter den Kirschblüten, das ganze frühere Leben mit seiner kleinen Wichtigkeit, weich und süß, schwand verblassend dahin, als sei es niemals mehr als Traum gewesen.
Der Mond war in der Kühle aufgestiegen. Eine strahlende Nacht entfaltete sich über dem gequälten Boden, der sich mit tausend Lagerfeuern, den hallenden Rufen, fernem Geschützdonner und Schritt vorbeiziehender Kolonnen zu schwerem Schicksal rüstete. Da saß er, der stille magere Mann, den niemand beachtete, und hörte zum erstenmal, wie aus den andern das mächtige Bewußtsein sprach, für ein großes Volk dazusein, den Tod vor sich, die mit Toten übersättigte Erde unter sich, in der Ferne aber das Ziel einer ruhmreichen Bahn. Er schwieg. Ihn erdrückte dieses Wollen durch alle die Leiber hindurch, während ein lautloser Wind um seine bebenden Schläfen strich.
Und langsam erwachte in ihm ein heißer Wunsch, auch so zu sein, und nahm ihn gefangen, unter atemlosen, selig-süßen Schauern, wie er im bleichen Mondlicht dasaß, winzig, einsam im ewigen All, ohne daß jemand die große Wandlung bemerkt hätte, die sich in seinem Innern vollzog.
Das einstige Leben wanderte in die Ferne. Kaum möglich, daß es jemals wirklich war, wie es nun erschien mit seinen Bildchen und Farben und den freundlichen Gesichtern derer die davorstanden und sie mitnahmen.
Er blickte staunend in das Feuer und auf die geröteten Gesichter ringsum, während der Silberrand einer Wolke, die am Mond vorbeizog, seltsam blinkte. Sie spiegelte sich langsam in glitzernden Waffen. Lärm und Gelächter erscholl. In der Nähe sang man, und leise fortgesetzt verlor sich das Lied in der Nacht. Niemand achtete auf ihn. Ein heißer Strahl des Wollens von Millionen hatte sich gesenkt. Das Gefühl einer Sendung erfüllte ihn jäh und streifte alles ab, was von kleinen Wünschen je in ihm war. Seine Schultern hoben sich, die Brust atmete tief, das Auge glänzte, aber er allein fühlte sich wachsen und kein Auge eines andern sah, wie es sich in ihm erschloß.
III
So stürmte er am Morgen vor, in die erste Gefahr seines Lebens, über zerstampftes Gras, über aufgewühlte Felder, daß alle nach und nach fühlten, wie dieser schwächliche Körper sie in seinen Bann zog, und so rannte er jetzt wieder den Großen zu. Etwas Unirdisches hob ihn und trieb ihn weiter, unwiderstehlich. Neben ihm blitzten Bajonette und stürzten Menschen. Über ihm schwangen sich wilde Streifen von Rauch und vor ihm tauchte wieder das Antlitz des Russen auf, verbissen, in erdrückendem Ernst. Er verstand es, er sah es durch und durch, wie das Antlitz der gemarterten Erde, die nun schon in längeren Schatten des Nachmittags vor ihm lag. Liebeleer, von einem mitleidlosen Verhängnis hierhergestellt, um zu töten und zu sterben, leistete er Widerstand im Gefühl seiner Pflicht, irgendwo in einem fremden Lande, für etwas, das er vielleicht nicht einmal begriff. Und hinter dem Russen erschien wieder das große, immer noch blitzende und krachende Geschütz, das einzige, das er von allen sah. Die ganze Welt drängte sich ihm entgegen in diesem offenen heißen Rohr inmitten eines wildbewegten Knäuels feindlicher Wesen.
Neben ihm fauchten Granaten, liefen und stürzten Menschen. Er stolperte vorwärts, todmüde und beklommen, über Leichen und Schollen losgerissener Erde. Ein dumpfes Gefühl preßte seine Brust, wie er es nie gekannt hatte, von dem er nicht wußte, war es eine abgrundtiefe Angst oder die drängende Nähe des heiligen Ziels.
Das kam näher, immer näher. Er erkannte die Räder, die Uniformen, schmutzige und blutige Stiefel, wild umherschlagende Arme Verwundeter. Eine Woge triumphierenden Stolzes bäumte sich hoch in ihm auf. Die Bestimmung von Jahrtausenden erfüllte sich. Die Erde hob sich, um ihn vorwärts zu tragen, ihn allein. Um ihn kreiste der Horizont. Auf ihn blickte der sinkende Sonnenball. Selbst die langen Schatten glitten nebenher und zeigten ihm den Weg. Er hörte nicht mehr das Wüten der Schlacht. Er sah die kämpfenden Haufen nicht mehr. Die Ewigkeit war in diesen Augenblick gebannt. Er erreichte den letzten schon verschütteten Graben. Er erhob den Arm und winkte zurück. Er fühlte, wie ihn jetzt alle sehen mußten, rings auf der weiten Welt – da kam etwas näher, immer näher, riß unter ihm durch und im betäubenden Lärm stürtze er zusammen, über andre, die mit ihm fielen.
IV
Er lag unter den Tritten des stürmenden Heeres, in wildem Schmerz, aber entsetzlich klarem Bewußtsein. Der Weg war zu Ende. Dort vor ihm stand das Geschütz und blickte grinsend herüber. Es wartete, es prahlte laut.
Rechts und links tobte es vorbei und sein armes Wissen darum schloß sich mit dem hier, dem letzten Ort seines Lebens zu einem unbarmherzigen engen Ring zusammen. Er suchte die Schultern zu erheben, aber der Rumpf gehörte nicht mehr ihm und regte sich nicht. Es war zu spät. Ein Augenblick verrann.
Da ging es wie ein heiliges Leuchten in ihm auf. Ein Lächeln durchbrach den irrsinnigen Schmerz. Er rückte den Tornister mit schon unsicher tastenden Händen vor sich hin. Er zog einen Fetzen der weißen blutgetränkten Gamaschen von dem armen Rest seiner Beine. Der Rücken lehnte an dem toten Körper eines andern. Er nahm ein Blatt heraus und begann hastig zu zeichnen. Mit breiten roten Strichen seines eigenen Blutes entstand das Geschütz auf dem Hügel und er stand neben ihm, er allein, und legte die Hand darauf.
So sah ihn der Russe, der im rasenden Gefecht noch einmal in seine Nähe kam. Er fand ihn zusammengeschrumpft im bleichen Abendlicht, hohl, fast regungslos. Der Kleine blickte ihn starr an. Sprechen konnte er nicht mehr, aber die Hand fuhr unablässig fort, blutige Striche zu zeichnen. Der Russe verstand und ein schmerzliches Lächeln ging über sein Gesicht. Er gab dem Künstler einen Schluck zu trinken. Er öffnete die Lippen und fuhr fort.
Er nickte mühsam und fuhr fort. Das Bild des Sieges war vollendet, als die letzten Feinde wichen und über dem Geschütz das japanische Banner erschien.
Und auch der Große fiel, und die Seele, aus diesem gramvollen Antlitz geredet hatte, schwand hin, namenlos und ungetröstet, unter dem Hügel von andern Namenlosen. Das Gefecht zog sich in die Ferne. Das Tageslicht verglomm, in dem die Flagge einsam wehte.
Am Horizont lagerte sich ein Streifen düsteren Abendrots. Ein großes Schweigen breitete sich aus. Der Wind blies kühl über die Ebene und warf dem toten Soldaten die Mütze vom Kopf. Der aber saß da, gelb und kalt, das Auge mit triumphierendem Lächeln auf die fürchterliche Zeichnung geheftet, die er auf seinen zerschmetterten Knien hielt.