Gelingt ein derartiges Annehmen aller Seiten der eigenen Geschichte – der positiven wie der negativen – nicht, dann kommt es zur Flucht eines Volkes vor sich selbst, in eine Zukunft des selbstproduzierten Verschwindens als einer kulturell-nationalen Einheit, also zu den Prozessen, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu beobachten waren,
konstatiert der Soziologe Friedrich Pohlmann 2003 in seiner Dankesrede für die Verleihung des Historikerpreises der Erich-und-Erna-Kronauer-Stiftung (die gesamte Rede unter dem Titel »Das Fremde und das Eigene – Vom Umgang mit der deutschen Geschichte im Zeitalter des Totalitarismus« lesen Sie hier).
Eine Flucht, die möglicherweise in Das Reich der großen Lüge führt, das Pohlmann in seiner frisch in der Werkreihe Tumult erschienenen Essay-Sammlung zeichnet. Zweifelsohne schwingt in den in diesem Band vereinten Texten über »Vaterlosigkeit und Feminismus«, »Die Rückkehr der Besiegten« oder »Widerstand im Reich der großen Lüge« seine Schlußfolgerung am Ende der Dankesrede mit:
Ich glaube, dass die geistig-kulturelle Krise, die in Deutschland schon lange spürbar war, ihren Kern in diesem gestörten Verhältnis zwischen dem Eigenen und Fremden hat, und dass die handfesten Niedergangserscheinungen auf den Gebieten der Wirtschaft, Demographie und Bildung, über die gerade so heftig gestritten wird, in nicht geringem Ausmaße auch Symptome und Folgen dieses gestörten Verhältnisses sind.
Sezession-Literaturredakteurin Ellen Kositza stellt die Aufsatzsammlung vor, die präzise jene einwirkenden Kräfte nachzeichnet, »die zur sozialen und mentalen Transformation der Weltbilder im Westen und mit kompensatorischer Schärfe in Deutschland geführt haben«:
Das Reich der großen Lüge können Sie wie immer hier, bei Antaios, dem größten konservativen Versandbuchhandel, bestellen.
Viel wurde über den zum Zerbersten mit Diversitätspathos aufgeladenen Wahlwerbespot der Grünen zur Bundestagwahl im September gelästert. Irgendwo zwischen der Wohlfühlwelt einer Storck-Werbung und einer universalistisch-humanitären Weltenrettung mit dem moralischen Zeigefinger gefangen, brachte der Spot der Grünen die neue bundesdeutsche Biederkeit mustergültig auf den Punkt (hier sehen Sie das Meisterwerk).
Nun hat auch die AfD ihren Wahlwerbespot veröffentlicht, der im Gegensatz zu dem der Grünen ganz ohne Pathos daherkommt. Statt eines Aufbruchs, wie er bei den Grünen präsent ist, fordert die Partei ein Mindestmaß an Normalität ein – so normal wie die Forderungen kommt auch das Werbefilmchen daher.
Zwischen all den Politkampagnen-Fremdschammomenten, mit denen einen die Partei bisher gerne beglückte, und dem Storck-Unfall der Grünen sticht das zwar positiv hervor, aber schlußendlich ist es viel zu wenig.
Das Kernthema »Migration« schimmert nur implizit durch, die eigentlich grundlegende oppositionelle Haltung der Partei zum Establishment, und damit ihr kämpferisches Moment, verschwindet vollkommen und der Aufbruch der anderen, zu den Grünen entgegengesetzten Art bleibt auf der Strecke.
Zwischen der ganzen Normalität geht das Besondere verloren. Aber sehen und urteilen Sie am besten selbst. Hier der Wahlwerbespot der AfD:
Gelungen oder verfehlt? Genau das richtige Maß oder zu wenig in einer Zeit, in der es den großen politischen Gegenentwurf braucht? Die Diskussion ist eröffnet. Meinungen gerne in die Kommentare.
Ein Blick über den großen Teich: Das Phänomen der »Cancel Culture« feiert in den USA fröhliche Urstände und treibt Blüten, deren Blätter mit etwas Zeitverzögerung sicherlich auch bei uns auf fruchtbaren Boden fallen werden und es bereits tun.
Die Auswirkungen dieser Unkultur greift speziell im US-amerikanischen Medienbetrieb wild um sich. Wer den Blätterwald der Anglosphäre etwas genauer beobachtet, wird die zahlreichen »Affären« rund um einzelne Journalisten bei namhaften Zeitungsinstitutionen wie der New York Times mitbekommen haben.
Die Liste der in Ungnade gefallenen wird von Tag zu Tag länger. Der Haltungsjournalismus fordert seine Opfer. Opfer, die keinesfalls nur der Rechten zuzuordnen sind:
Die Kolumnistin Bari Weiss etwa trat wegen proisraelischer und moderat konservativer Haltung nur halb freiwillig aus der Redaktion der »New York Times« zurück. Und Glenn Greenwald, einer der journalistischen Gehilfen von Edward Snowdens Enthüllungen, verliess unter Protest das von ihm mitgegründete Online-Medium »The Intercept«, weil dieses sein kritisches Exposé zu Joe Bidens Sohn Hunter nicht drucken wollte. Der schwule Altliberale Andrew Sullivan schliesslich verabschiedete sich vom »New York Magazine«, weil er von Vorwürfen wegen angeblicher Transphobie befremdet war,
zählt Marc Neumann die Gecancelten für die Neue Zürcher Zeitung hier auf und stellt in selbigem Artikel den Erfolg einer Plattform vor, die von dieser Entwicklung maßgeblich profitiert und erst möglich gemacht wurde: Substack.
Substack gibt Publizisten und Journalisten eine Netzplattform, um ihre Artikel unters Volk zu bringen – im Grunde eine typische Blogstruktur, die mit einer Subskriptionsfunktion à la Patreon aufwartet.
Autoren bringen die Texte mit, Substack stellt ihnen die Software- und Publikationsplattform fürs Bloggen und einen Newsletter-Versand per E‑Mail zur Verfügung. Diese Leistungen gibt es entweder gratis oder, falls Autoren von ihren Lesern einen monatlichen Obolus verlangen, in Form eines Anteils von zehn Prozent der Abo-Einnahmen, zuzüglich dreier Prozent Verrechnungsgebühr. Dafür erhalten sie redaktionelle und professionelle Freiheit,
beschreibt Neumann das Geschäftsmodell. Ein Modell das zieht. Substack wächst und wächst. Die Nachfrage nach den gecancelten Stimmen ist hoch. Hier können Sie sich selbst einen Eindruck von dem »Place for independent writing« machen, der in den Negativfolgen der Cancel Culture für sich ein Geschäftsfeld entdeckt hat:
SUBSTACK
Laurenz
Der AfD-Wahlwerbe-Spot überzeugt mich vor allem durch die professionelle Machart. Die Bilder sind gestochen scharf im jeweiligen Fokus, die Kamera-Perspektiven gut gelungen. Man hat auch gewollt oder ungewollt auf den Rat von GK gehört & auf eigene politische Inhalte weitestgehend verzichtet. Der Angriff auf die politischen Gegner ist verhalten. Kann man so machen, auch wenn das unseren Berufsrevolutionären nicht behagen mag. Der politische Blickwinkel aus den Augen eines "Normalbürgers", der nicht zur woken Soldateska des Weltmoral-Hauptamtes gehört, macht durchaus Sinn, da diese Mehrheit politisch nicht vertreten wird.
Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich lieber ein paar tote deutsche Soldaten oder das Karfreitagsgefecht in Afghanistan gezeigt, aber dafür sind auch die AfD-Planer wohl nicht schnell & mutig genug, um die Kriegstreiber in Berlin zu entlarven. Vielleicht will das auch niemand wissen. https://youtu.be/E-XJM7xqwdc
@JS
Was das freie Schreiben betrifft, so ist das überall so, selbst in Island mit einer Bevölkerung von halb Frankfurt am Main, besteht diese Problematik, wie man hier sieht... https://youtu.be/zk6GmX7SgXo