Das eigentliche politische Problem des Liberalismus ist, daß eine liberale Praxis nur möglich ist, wenn gewisse Traditionsbestände an Gewohnheiten und tief eingerasteten Sitten noch vorhanden sind, mit deren Hilfe die Gesellschaft ihre Schwierigkeiten meistert. Salopp gesprochen: sechs konservative Jahrhunderte erlauben es zwei Generationen, liberal zu sein, ohne Unfug anzurichten. Sind aber jene Bestände in der permissiven Gesellschaft einmal aufgezehrt, so werden die bestgemeinten liberalen Parolen zu Feuerlunten. (Gegen die Liberalen, kaplaken 21, S.11)
Diese Sätze richten sich vor allem gegen diejenigen Liberalen, die davon ausgehen, daß die Marktgesellschaft eine natürliche Ordnung, das Privateigentum ein natürliches Recht und der Gütertausch ein natürliches Bedürfnis oder wenigstens eine natürliche Notwendigkeit sei. Etwas Natürliches hat nämlich keine gesellschaftlichen Voraussetzungen, ist nicht auf Traditionen, Sitten und Gesetze angewiesen.
Im Gegenteil: Traditionen, Sitten und Gesetze können diese natürliche Ordnung allenfalls verschütten und pervertieren. Daher stammt der Kampf vieler Liberaler gegen alles, was ihrer Meinung nach die Freilegung der natürlichen Ordnung, der reinen Marktgesellschaft verhindert.
Insbesondere natürlich kämpfen sie gegen den Staat und dessen stetige Ausdehnung. Daß eine Gesellschaft ohne Staat aber eben gerade nicht eine reine und natürliche Marktgesellschaft wäre, hat vor kurzem der Anarcho-Kapitalist Hans-Hermann Hoppe in einer bemerkenswerten Rede festgehalten:
Während sich viele Libertäre eine anarchische Gesellschaftsordnung als weitgehend horizontale Ordnung ohne Hierarchien und unterschiedliche Autoritätsebenen vorstellen – also als ‚antiautoritär‘ –, lehrt uns das mittelalterliche Beispiel einer staatenlosen Gesellschaft etwas anderes. … Tatsächlich war das Mittelalter im Gegensatz zur gegenwärtigen Ordnung, die im Wesentlichen nur eine Autorität, die des Staates, anerkennt, durch eine große Vielzahl konkurrierender, kooperierender, überlappender und hierarchisch geordneter sozialer Autoritäten gekennzeichnet. … Darüber hinaus, und von größter Bedeutung, gab es die Autoritäten des örtlichen Priesters, des entfernteren Bischofs und des Papstes in Rom. (eigentümlich frei, Heft 189)
Ich interpretiere diese Sätze so, daß die liberale Vorstellung, es könne irgendwie eine natürliche Ordnung freigelegt werden, in der alle menschliche Interaktion freiwillig über Privateigentum und Tausch geregelt wird, eine Schimäre ist. Hoppes Aussage scheint mir insofern mit Armin Mohlers Kritik am Liberalismus vereinbar zu sein.
Es wäre äußerst hilfreich, wenn Mohlers und Hoppes Einsichten im liberalen Lager für Nachdenken und Diskussion sorgen würden. Ein Liberalismus, der Traditionen, Sitten und religiöse Autoritäten bekämpft, weil sie die individuelle Freiheit des einzelnen einschränken, ist auf dem Holzweg und zerstört seine eigenen Voraussetzungen.
Diese etwas längere Einleitung habe ich vorweggeschickt, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich mit dem nun folgenden libertäre Kampfpropaganda betreiben möchte. Mohlers Aussage kann man nämlich ohne große Verdrehungen auch auf den Sozialstaat übertragen:
Auch der Sozialstaat ist in der Praxis nur möglich, wenn gewisse Bestände an Solidarität und tief empfundenen Zusammengehörigkeitsgefühlen noch vorhanden sind, mit denen sich die sozialstaatliche Umverteilung begründen läßt. Salopp gesprochen: sechs Jahrhunderte gelebte Gemeinschaft erlauben es zwei Generationen, den Sozialstaat zu bemühen, ohne Unfug zu treiben. Sind aber jene Bestände in der Umverteilungsgesellschaft einmal aufgezehrt, so werden die bestgemeinten Parolen von Solidarität und Sozialstaat zu Feuerlunten.
Die Sehnsucht nach einem Sozialstaat, der im Wortsinn sozial wirkt, der also die Menschen zusammenbringt und zu einer Gemeinschaft zusammenschmiedet, ist auf der rechten Seite regelmäßig festzustellen. Zuletzt äußerten Erik Ahrens und Bruno Wolters die Vorstellung,
ein Sozialstaat verankert den Menschen wieder in einer Gemeinschaft, er läßt ihm einen Sinn für Verantwortung und Gemeinsinn wachsen, er gibt ihm ein Verständnis für Kultur und Volk. Der Mensch kann in einem Sozialstaat wieder Wurzeln schlagen. (sezession.de vom 21. Juli 2021).
Ich will nicht ausschließen, daß der Sozialstaat auch eine Form annehmen könnte, die diesen frommen Wunsch in Erfüllung gehen lassen würde. Nur um einen frommen Wunsch handelt es sich bisher allerdings durchaus, denn weder Ahrens und Wolters noch andere konservative Verfechter des Sozialstaats haben zeigen können, wie ein Sozialstaat verfaßt sein muß, der Gemeinschaftsgefühle hervorbringt, anstatt sie zu zerstören. Um einen solchen Sozialstaat aus der Taufe zu heben, müßte das, was bisher unter dieser Bezeichnung läuft, jedenfalls gänzlich abgebaut und etwas völlig anderes an seine Stelle gesetzt werden.
In dieser kurzen Stellungnahme möchte ich vor allem dartun, warum sich das Zitat Mohlers gegen die Liberalen so einfach auf den Sozialstaat übertragen läßt. Es kann nicht stark und oft genug betont werden, daß der Sozialstaat in seiner derzeitigen Ausprägung kein Gegenspieler des Marktes ist.
Im Gegenteil! Der Sozialstaat trägt die Logik des Marktes sogar noch bis vor die Tür eines jeden Armen, einer jeden Witwe und jeder Waisen, eines jeden Arbeitslosen und einer jeden Alleinerziehenden. Was macht der Sozialstaat nämlich? Er verteilt um. Was verteilt er um? Geld natürlich. Und was ist Geld? Geld ist die Zugangsberechtigung zum Markt. Da die Ansprüche der Bedürftigen gegen den Sozialstaat in Geld bestehen, schafft dieser Staat keine Sphäre der wärmenden Gemeinschaft, die vom kalten Markt irgendwie unabhängig wäre, sondern sorgt vielmehr dafür, daß auch diejenigen, die eigentlich auf die Solidarität der Mitmenschen aus ihrer Umgebung angewiesen wären, ohne Probleme auf deren wärmende Hilfe verzichten können und sich stattdessen munter an der internationalen Konsumgesellschaft beteiligen.
Der Sozialstaat, wie er jetzt besteht, ist voll und ganz auf den Markt abgestimmt, er bedient sich des Marktes, um die Bedürfnisse der Anspruchsberechtigten zu befriedigen. Es stimmt zwar, daß die dabei notwendige Bürokratie und Umverteilung die Effizienz des Marktes hemmt und in bestimmten Kreisen für Unmut, Steuerflucht und Auswanderung sorgt. Aber das ändert nichts daran, daß der Sozialstaat ein Teil des Systems ist, das nach Mohler die vorhandenen Traditionsbestände an Gewohnheiten und tief eingerasteten Sitten verzehrt und damit seine eigenen Voraussetzungen zerstört.
Wenn man Wilhelm Röpke darin zustimmt, daß eine Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ zu suchen ist, dann stimmt man damit – ob man will oder nicht – gleichzeitig der Auffassung zu, daß man sie auch jenseits des Sozialstaats suchen muß. Nur die Nische jenseits des Monströsen, jenseits von globalen Märkten und staatlicher Bürokratie hält die kleine Hoffnung bereit, daß sich die Dinge doch noch zum Guten ändern und sich Solidarität und Gemeinschaft wiederbeleben lassen.
Dieser Ort ist es, der erkundet werden muß. Die Debatte, die sich seit Ewigkeiten darum dreht, ob mehr Staat oder mehr Markt die Lösung bringen, führt ins Nichts. Wir bekommen dadurch, wie wir immer deutlicher sehen, nur mehr von beidem: mehr Staat und mehr Markt.
Die gleichzeitige Ausdehnung von Staat und Markt ist nur möglich, wenn sie sich von etwas Drittem ernähren. Dieses Etwas ist die Nische, von der ich eben sprach: Es sind die menschlichen Gemeinschaften, die weder staatlich noch marktwirtschaftlich organisiert sind. Für diese Dinge kommt uns immer mehr der Sinn abhanden, so daß man gar nicht mehr recht weiß, was alles in diese Kategorie gehört, aber zu erwähnen sind sicherlich Familien, Gewerkschaften, Vereine, Kirchengemeinden, Bünde und Burschenschaften, Genossenschaften – eigentlich alle Vereinigungen von Menschen, die nicht in Geld ihren Hauptzweck sehen. Diese Gemeinschaften sind die Träger von Sitten und Traditionen, und von diesen zehrt nicht nur der Liberalismus, sondern auch der Sozialstaat.
Wenn Liberale über das obige Zitat von Mohler nachdenken sollten, dann Konservative und Rechte über seine Übertragung auf den Sozialstaat. Meine Hoffnung besteht nach wie vor darin, daß sich die Gräben zwischen den Lagern auf diese Weise leichter überwinden lassen.
zeitschnur
Eine staatenlose Verfassung damit zu "widerlegen", dass man auf ein weder intendiertes noch gelungenes Beispiel verweist ("Mittelalter"), ist ein absolut schwaches und auch unredliches Argument. Ein Libertärer sieht natürlich auch gerade in den hierarchischen Machtstrukturen des Mittelalters das, was heute zum "Staat" geworden ist. "Staat" kommt von "status", dem Stand, der Stellung, er meint immer eine ständische Ordnung im weitesten Sinn. Auch eine "klassenlose" Gesellschaft ist letztendlich theoretisch auf das Ständemodell bezogen, das eben auf einen einzigen Stand zusammengeschmolzen wird, innerhalb dessen sich dann aber erfahrungsgemäß wieder dieselben Hierarchen unter anderm Namen ausbilden oder fortsetzen. Die Leute der Vendée, anfangs glühende Revolutionsbefürworter, drehten sich und wurden "konservativ", als sie sahen, dass die Bürgerlichen nun noch dreistere Hierarchien ausbildeten als die, die sie glaubten, losgeworden zu sein. Die Hoffnung, die Cholera durch die Pest loszuwerden führte dazu bei diesen Leuten, sich an die "Fleischtöpfe Ägyptens" zurückzusehen.
Hier muss also schon etwas differenzierter und sauberer argumentiert werden.
Der einzige gültige theoretische Einwand gegen den Libertarismus kann daher nur sein, dass aufgrund des nicht nur guten Zustandes des Menschen am Ende immer wieder Hierarchien ausgebildet werden. Sie sind dann aber Ausdruck des Scheiterns und nicht des Gelingens.
ff