Er träumt davon, daß wir aus der Vergangenheit wieder etwas würden lernen können, wenn sie endlich „unaufgeräumt erscheint“. Und mehr: Leo träumt davon, daß diese „unaufgeklärte Unaufgeräumtheit“ in ein paar Jahren „im post-arischen Einwanderungsland Deutschland zum Leitbild für den Geschichtsunterricht geworden ist“.
Das klingt zum einen ganz schön witzig, zum anderen aber nach dem „hölzernen Eisen“, das schon oft beschworen, aber noch nie geschmiedet wurde. Es klingt selbst dann und vor allem, wenn man Leos Wunschgesellschaft an- und ernstnimmt, nach Kinderladen, antiautoritärer Erziehung und völliger Verkennung, sobald man sich vorstellt, daß die Geschichtslehrer ein Feuerwerk der Komplexität abbrennen sollen und damit bei ihren Schülern maximal Assoziationen und Gefühle auslösen werden.
Diese Schüler verfügen nämlich über keinerlei Kategorien, die es ihnen ermöglichen würden, im Chaos geschichtlicher Momentaufnahmen Kausalitäten zu entdecken. Die Kunst der Geschichtsschreibung sieht Leo daher auch darin, ein Angebot zu unterbreiten. Jeder hat seine eigene Geschichte oder verfügt über Perspektiven, die sich nicht „versöhnen“ lassen.
Natürlich geht es Per Leo nicht lediglich um den Geschichtsunterricht. Damit gibt sich „einer der energischsten Publizisten, wenn es um Antisemitismus, den Holocaust und die neuen Rechten in Deutschland geht“ (Joachim Scholl), nicht zufrieden. Es geht ihm in seinem aktuellen Buch (Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur, Stuttgart: Klett-Cotta 2021) um eine neue Erinnerungskultur in Deutschland, die nicht nur die Deutschen moralisch beleben, sondern auch den „Migranten“ die Möglichkeit geben soll, sich in ihr heimisch zu fühlen.
An den Regalmetern gemessen, die es zum Thema gibt: ein mühsames Unternehmen. Andererseits kann es, das weiß der Publizist Leo nur zu genau, ganz schön brenzlig, wenn man an die Tabus rührt, die das Themenfeld umstellen.
Leo hat durch sein Buch Mit Rechten reden (2017), das er mit zwei Kollegen verfaßte, zumindest gelernt, daß die Aufmerksamkeit demjenigen sicher ist, der mit der richtigen linksliberal-postnationalen Grundeinstellung und der Haltung des abgeklärten Alleswissers einem umstrittenen Phänomen der Gegenseite zu Leibe rückt. Er erzeugt dadurch bei seiner Klientel ob seines Gegenstands einen wohligen Schauer negativer Faszination, den er gleichzeitig wieder zerstört, weil er die ideologischen Aufgeregtheiten längst hinter sich gelassen hat. So kann er seiner Klientel zurufen: Locker bleiben, alles halb so wild!
In seinem neuen Buch tut Leo daher so, als würde er einer heiligen Kuh, der Erinnerungskultur, auf die Pelle rücken. Aber das tut er natürlich nicht, sondern er will die zur Symbolik erstarrte Erinnerungskultur nur neu beleben, um uns auf eine ganz neue, ganz lebendige Art, an die zwölf Jahre unserer Geschichte zu ketten. Das tut er mit zwei Thesen:
Das NS-Erbe sei keine Einheit, die nationale Perspektive verbietet sich daher, und die normative Kraft der Abgrenzung vom NS sei erschöpft. Also müssen neue Formen der Aneignung her. Fragt sich nur, warum man sich ausgerechnet das negativ besetzte NS-Erbe aneignen sollte. Weil Leo uns alle in Mithaftung für sein persönliches Familienschicksal nehmen will.
Leos Opa war SS-Sturmbannführer (also Major). Aus irgendeinem Grund ist Leo der Meinung, daß jeder so einen Nazi-Opa hatte und daher die Vergangenheit als Suhle begreifen muß. Leo hat aus dieser Tatsache Kapital geschlagen, da er als Schriftsteller und Historiker bis heute von diesem Opa lebt. Seine Doktorarbeit handelte vom geistigen Hintergrund dessen Generation, er schrieb einen Roman darüber, und schließlich scheint auch das vorliegende Buch vor allem daraus seine Motivation zu ziehen.
Klar ist: Dieser Teil der Geschichte gehört zu uns, egal wo die Vorfahren standen. Jeder Deutsche ist Teil der deutschen Schicksalsgemeinschaft, die es seit mehr als tausend Jahren gibt. Aber es ist ganz gewiß pathologisch, wenn man zwölf Jahre herausgreift, weil man der Meinung ist, daß die eigene Familiengeschichte so etwas wie die große Geschichte im Kleinen wäre. Das ist eitel und produziert Tugendprotze wie Per Leo, die uns vorschreiben wollen, wie Erinnerungskultur auszusehen hat.
Für seine jüdischen Freunde, über die nach Leo jeder geschichtsbewußte Deutsche verfügen sollte, gilt das natürlich nur bedingt. Sie dürfen sich, selbst wenn sie Deutsche sind, aussuchen, was sie für wichtig halten, und sie dürfen sich ihre Identität entsprechend zurechtbasteln. Sie haben in der Welt von Per Leo vor allem die Funktion von Dämonen, die als wandelnde Korrektive dafür sorgen, daß Leo der innere Kompaß nicht abhanden kommt. Mit niemandem hat er je schöner gestritten als mit den Juden! Daher darf er bei den Juden auch konsequent beim Abstammungsprinzip bleiben: Juden sind Juden, und seien sie auch als säkulare DDR-Bürger geboren worden.
Die Antwort auf die Frage, wie sich eine neue Form der Aneignung herstellen läßt, bleibt Leo uns schuldig. Sein Buch leidet unter dem alten Problem, daß sich Dinge, die man nicht zu Ende gedacht hat, nicht verständlich ausdrücken lassen. Deswegen schwurbelt Leo, wenn es mal konkret werden müßte, und er springt, wo eine gründliche Argumentation angebracht wäre. Oder er erzählt einfach von sich selbst, das muß dann als Argument reichen.
Wenn Leo nicht mehr weiß, ob er noch auf erlaubten Wegen wandelt, flüchtet er sich in den Kitsch oder in englische Kraftausdrücke (fucking Bereicherung, what a Brainfuck undsoweiter), die einem Berufsjugendlichen gut zu Gesicht stünden. Und er kalauert, wenn er den „nahen Osten“ (die DDR, haha) und den „Nahen Osten“ in Bezug auf den Antisemitismus gegenüberstellt. Manchmal weiß der Leser nicht, ob man es mit sprachlicher Schlampigkeit oder ideologischer Verbohrtheit zu hat, wenn es heißt, daß man deutsche Opfer nicht ehren dürfe, Kommunisten gute Gründe für ihre Ideologie hätten oder eine Bombe „nur einen deutschen Polizisten getötet“ habe.
Die „revisionistische Absicht“ des Buches besteht im „prüfenden Blick auf eine Geste deutscher Selbstgefälligkeit“. Das mag als Maximum eines Schriftstellers durchgehen, der es sich mit niemandem ernsthaft verscherzen will. Wenn man aber liest, was er unter abzulehnendem Revisionismus versteht („Infragestellung von Rechtstaat, Demokratie und Westbindung“ und Schlußstrich unter die „ernsthafte Beschäftigung“ mit dem NS), dann ist klar, daß hier einer ein paar Pappkameraden braucht, die ihm Deckung geben sollen, wenn es brenzlig wird.
Neben Revisionisten können das die „Bad boys von der AfD und sogenannten Rechtsintellektuelle“, der „wehleidige, dummdreiste Stolz“ von Höcke und Kubitschek, ein „rechtsextremer Kleinverlag“, der Sieferle verlegte oder ein „Lagerfeuer der neuen Rechten“ sein. Hauptsache, die Heimatfront weiß, wo Leo steht.
Gleichzeitig gefällt sich Leo in der Rolle des Aufklärers, wenn er Plattitüden, wie die, daß die Deutschen das Holocaustgedenken vor allem für sich selbst betrieben, wiederholt. Leo hat nur noch nicht kapiert, daß es sich dabei um eine Religion handelt, der mit rationalen Erwägungen nicht beizukommen ist, was seinen Aufklärungsbemühungen einen etwas trottligen Anstrich gibt.
Selbst in Bezug auf die „neue“ Debatte über die Vergleichbarkeit des Holocaust mit anderen Genoziden fällt ihm nicht viel neues ein. Er sieht zwar, daß es hier ein Dogma gibt, das jeglicher Logik widerspricht und gefällt sich in dem Vergleich des Holocaust mit einer Plastikflasche, vergißt aber dabei zu erwähnen, daß Egon Flaig schon den Vergleich mit dem Rotz in einem Taschentuch bemühte.
Infam oder dumm ist seine Behauptung, daß man hierzulande völlig gefahrlos die Sonderstellung des Holocausts in Frage stellen könnte. Bislang sei keiner seiner diesbezüglichen Gewährsleute (Matthias Brodkorb und Jürgen Zimmer) einem „Schadenzauber“ zum Opfer gefallen. „Und auch geächtet sind sie nicht.“ Entweder hat er keine Ahnung oder er verschweigt absichtsvoll, daß andere durchaus geächtet wurden, wenn sie – wie etwa Ernst Nolte – nur darauf hinwiesen, daß es eine kommunistische Vorgeschichte des Holocaust gab. Aber diese Haltung ist nur konsequent, wenn Leos Meinung nach ausgerechnet Brumlik, Wolffsohn und Friedman zum unbefangenen Reden über die Vergangenheit beigetragen hätten, weil sie ihre „jüdische Identität“ nicht in den „Mittelpunkt ihrer öffentlichen Präsenz“ stellten.
Leo lebt offensichtlich in einer Parallelwelt: in einer Welt, die alle Spielverderber für nicht existent erklärt und in der Gratismut belohnt wird – in einer Welt also, an die sich Leo perfekt angepaßt hat. Er zeigt gern, was für mutiger Kerl er ist, indem er richtig loswettert. Er zieht dann aber schnell den Schwanz ein, wenn ihm klar wird, daß Gedanken Konsequenzen haben könnten.
Die Sicherheit dieser Parallelwelt ist nicht zuletzt Leuten wie Per Leo zu verdanken. Sein Aufklärungsschauspiel erzeugt bei den Bewohnern das gute Gefühl, in einer vollständigen Welt zu leben, die eine helle und eine dunkle Seite hat. Und es verzögert den Moment, an dem die Bewohner dieser Welt zu ahnen beginnen, daß sie in einer Höhle leben.
t.gygax
Warum muss man auf sezession eigentlich diesen abgedrehten Blödsinn dieses "Leo" besprechen? Wer druckt das Zeug, wer liest das Zeug? Da gibt es doch wahrlich bessere Bücher aus dem Untergrund, (Samisdat nannte man das in einem anderen Staat in gewissen Zeiten) die einer Besprechung wert wären.
Und nebenbei: die Kiste ist uralt- es wimmelt von Leuten, die aus ihrer NS-Familiengeschichte Geld gemacht haben. Im Grunde genommen muss man da gar nichts mehr schreiben, man kann aus 60 Jahren derartigen Geschreibsels Textbausteine zusammensetzen, die Namen verändern, und dann hat man wieder ein "mutiges " Bewältigungsbuch. Mit Verlaub, es ödet mich an.