Ich las alle Bücher, die bis zum Jahr 1995 erschienen waren. Ich fand sie klug und gut. 1995 war sein Welterfolg Der Vorleser erschienen. Das Buch wurde in 50 Sprachen übersetzt und 2008 erfolgreich verfilmt. Die Hauptrollen spielen ein Schüler und seine ältere Geliebte, von der sich herausstellt, daß sie KZ-Aufseherin war. Von jüdischer Seite wurde der Film harsch wegen angeblicher Verharmlosungstendenzen kritisiert.
Schlink, Jahrgang 1944, ist von Haus aus Jurist, Professor gar. Er, in Heidelberg aufgewachsen, lebt heute (wie es sich gehört) in „Berlin und New York“ und ist Mitglied der SPD. Spätere (wenngleich teils preisgekrönte) Romane aus Schlinks Feder erschienen mir weniger kunstvoll. Erneut für Aufmerksamkeit sorgte Schlink, als er 2019 einen Gastbeitrag in der FAZ veröffentlichte. Darin beklagte er einen „zu engen Mainstream“ und mithin „eine Politik, die keine Alternativen kennt und daher auch keine Kritik und keine Kontroverse.“
Es gäbe keinen guten Grund, „die Kommunikation mit Rechten zu verweigern, weil sie Rechte sind.“ Explizit prangerte er – damals aktuell, und das Rumoren hinter den Kulissen drang kaum an die Öffentlichkeit – an, daß man von Seiten der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ Götz Kubitschek nach einer Diskussionseinladung wieder ausgeladen hatte.
Dies als Vorrede zu Bernhard Schlinks neuem Stück 20. Juli, das auf dem Titel als „Zeitstück“, auf der Buchrückseite als „Gedankenspiel“ angekündigt wird. De facto ist es als Drama mit geringfügigen Regieanweisungen angelegt. Es spielen: fünf offenkundig biodeutsche Abiturienten zwischen 18 und (warum auch immer) 22 Jahren; ihr recht junger Geschichtslehrer, der Großvater eines Abiturienten sowie Herr Peters.
Peters ist der Chef einer ziemlich neuen rechten Partei. In Peters’ Bundesland hat diese Partei soeben 37% bei der Landtagswahl eingefahren. (Wir als Leser stehen natürlich wie der Ochs vorm Berg und wissen nicht, welche Partei und welche Person gemeint sein könnten.) Die fünf Abi-Leute werden sich rasch einig, daß sie Peters beseitigen müßten. Der Fall liegt doch auf der Hand: Man weiß, worauf dieser Mann hinauswill, er hat es in seiner berüchtigten „Dresdner Rede“ deutlich gemacht: “Wir sagen Ja zum Araber in Arabien, und zum Afrikaner in Afrika, aber wir sagen auch Ja zu deutscher Art, deutscher Sprache, deutscher Kultur, zu deutschen Volk und daher Nein zur Überfremdung.“
Für die jungen Leute ist klar: Ein Tyrannenmord muß her – zumal doch selbst der Geschichtslehrer gesagt hatte, Tyrannenmorde seien ethisch gedeckt!
Nun: In hölzernen, durchweg streberhaft und ausgedacht wirkenden Dialogen wird hier so verhandelt, als führte die Bundeszentrale für politische Bildung Regie. Fabian:
Was schaut ihr so? Wenn es 1931 richtig war, Hitler umzubringen, damit er Jahre später kein Unheil anrichtet, ist es richtig, Peters umzubringen, damit er Jahre später kein Unheil anrichtet.
Esther (die ein Kind vom Geschichtslehrer erwartet, es aber abtreiben will, weil er ein Feigling ist und seine junge Familie keineswegs zu verlassen beabsichtigt):
Nur… es ist ein wunderschöner Sommerabend, wir haben das Abitur hinter uns und die Ferien und das Studium vor uns. zu Niklas: Du willst ihn wirklich umbringen?
Maria:
Ja, es fühlt sich weit weg an, Peters umzubringen. Ich weiß nur nicht, was in dem Gefühl steckt. Der Verstand? Das Gewissen? Die Angst?
In diesem Duktus dümpelt der bemühte Diskurs. Schlink versucht ungelenk, sogenannte existentielle Sorgen seiner Protagonisten deutlich werden zu lassen.
Es ginge ja nun nicht mehr um „Rechte [im Original groß] Dumpfbacken“, sondern, Hilfe!, um einen „Rechten mit Charisma“! Schlink läßt seine Protagonisten sich peinliche „ironische“ Diskurse liefern, die nicht mal mehr in den Achtzigern für Ironie durchgegangen wären. Diese jungrevolutionären, pathetischen und tränenreichen Wortwechsel sind zum Fremdschämen abgeschmackt.
Letztlich wird ein „präventives Zuschlagen“ gegen Peters verhandelt. Von den sechs zunächst Attentatbereiten stecken die meisten Stück für Stück auf. Übrig und bereit bleibt ausgerechnet Maria, die uns von Schlink als die Allersanfteste und „tränenüberströmt“ vorgeführt wurde.
„Der Alte“, der hier als weiser Tattergreis präsentiert wird, ist übrigens gerade mal 72 – jünger als Schlink selbst. Und unsere Abiturienten sind angeblich durch die Amtseinführung Barack Obamas politisiert worden – als sie selbst also noch kleine Kinder waren also. Wie billig!
Um es kurz zu machen – ja, der Schuß wird fallen. Man wird doch wohl noch einen Tyrannen vor seiner Tyrannwerdung töten dürfen! Es ist kaum auszudenken, daß es unhinterfragt und unskandalisiert ein Romänchen oder ein Dramolett gäbe, das einen Mord an einem Altparteienpolitiker rechtfertigen wollte!
Vorher wird hier aber noch eine Flüchtlingsunterkunft brennen. Nicht nur eine Eritreerin und ihr Säugling „auf dem Arm“ werden dabei leider zu Tode kommen. Und natürlich werden, ruckartig und dramatisch, nun auch jene Abiturienten wach, die zuvor zurückscheuten, gegen diesen miesen Herrn Peters zu Felde zu ziehen.
Das ganze Stück erscheint dermaßen abgezirkelt darauf, in den Kanon der Bundeszentrale und als Schulstoff aufgenommen zu werden (man mag sich schon wörtlich die Klausurfragen ausdenken), daß es den Leser nur schüttelt. Reicht ja vielleicht, wenn ich es las. Aber: zu Protokoll nehmen könnte es der ein oder andere, und hervorholen, falls der Schuß fällt.
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Bernhard Schlink: 20. Juli. Ein Zeitstück, Zürich: Diogenes 2021. 91 S., 16 €.
t.gygax
Zu Schlink: was ich nun mache, ist problematisch, weil Leute nichts für ihre Verwandtschaft können- aber das Sprichwort stimmt halt auch "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm"....Schlink ist Sohn des Heidelberger evangelischen Alttestamentlers Edmund Schlink, der immer zur guten Gesellschaft Heidelbergs gehört hat und dessen Schwester Klara Schlink promovierte mit einer christlich-pädagogischen Dissertation in den 30er Jahren,, gründete nach dem Zusammenbruch die "Marienschwestern Darmstadt", nannte sich dann "Mutter Basilea", publizierte unzählige erweckliche Schriften , die zur Bekehrung aufriefen, war 1968 an der Gründung der "Offensive junger Christen" in Bensheim beteiligt ( heute nennt sich der Laden anders, existiert aber noch munter und fröhlich) , gegen Ende ihres Lebens wurde sie etwas seltsam und entwickelte die in engen Zirkeln spezifischen Machtgelüste und diktatorischen Herrschaftsformen und betrieb geradezu manisch den deutschen Schuldkomplex mit ständigen "Sühnezeichen"-Aktionen in allen möglichen Ländern. Etwas davon schwingt auch bei B. Schlink mit, dessen "Vorleser" mich von der literarischen Qualität enttäuschte, aber der Erfolg des Buches war ja bedingt durch das sattsam bekannte endlose Erörtern der Schuld, der großen Schuld, die wir auf uns geladen haben...Sela.Psalmende, so hätte es Gottfried Benn formuliert, aber der war wenigstens ein Lyriker von Format.