Mit Francis Fukuyama (geboren 1952) verhält es sich wie mit Oswald Spengler (1880 – 1936) und Samuel Huntington (1927 – 2008): Der US-amerikanische Politikwissenschaftler steht für ein einziges Schlüsselwerk: Das Ende der Geschichte (1992) – bei Spengler war es Der Untergang des Abendlandes (1918 / 1922), bei Huntington der Kampf der Kulturen (1996). Das übrige Schaffen dieser drei Geschichtsdenker, die sich der Frage »Wo stehen wir?« verschrieben haben, verschwindet hinter der Übermacht des jeweils zur politischen Formel geronnenen Werktitels.
Der deutschen Leserschaft ist zwar bekannt, daß Spenglers Abhandlungen wie Preußentum und Sozialismus oder Jahre der Entscheidung ebenso bedeutsam für seine Rezeption sind. Aber die Untergangsformel überprägt bis heute alles. Nicht anders ist es bei Huntington, der etwa mit dem Standardwerk Political Order in Changing Societies 1968 Analysen von bleibendem Wert in den Bereichen Demokratie- und Staatstheorie vorlegte, und bei Fukuyama sind es Arbeiten zu Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften, Transhumanismus und Identitätspolitik. Interessant dabei ist, daß sich Fukuyamas Denkbewegungen der vergangenen drei Jahrzehnte in steter Auseinandersetzung mit Huntington vollzogen.
Huntington legte sein Opus magnum erst im 70. Lebensjahr vor, Fukuyama mit 40. Bis zu dieser Zäsur studierte Fukuyama, der aus einer amerikanisch-japanischen Akademikerfamilie stammt (sein Vater war promovierter Soziologe, Religionsforscher und Pfarrer einer kongregationalistischen Gemeinde), die sogenannten Classics (etwa: klassische Altertumswissenschaft), Politische Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Ithaca und New Haven samt Auslandssemester in Paris, dann an der Harvard-Universität Politikwissenschaft. Sein universitärer Lehrer dort: Huntington. Fukuyama positionierte sich in jener Phase des letzten Kalten-Krieg-Jahrzehnts bedingungslos proamerikanisch. Seine Promotion über sowjetische Gefahren im Nahen und Mittleren Osten erfolgte 1981; da arbeitete er bereits seit zwei Jahren für die RAND Corporation, eine Denkfabrik des US-Militärs mit prononcierten Standpunkten zur globalen amerikanischen Hegemonie. Über außenpolitische Tätigkeiten für die Präsidenten Ronald Reagan und George H. W. Bush kam Fukuyama zur dezidierten Prognosepolitik: Die Fragen »Wo stehen wir?« und »Wie geht es weiter?« wurden seine Forschungsmotive.
1989 war dann nicht nur ein Wendejahr für Deutschland, sondern auch für Fukuyama. Für die Sommerausgabe der neokonservativen Zeitschrift The National Interest verfaßte er einen fünfzehnseitigen Aufsatz über die Folgen des nahenden Endes der Systemkonkurrenz, der in seiner Schlußfolgerung fragend formuliert worden war: »The End of History?« Drei Jahre später erschien mit The End of History and the Last Man (in der zeitnah erfolgenden deutschen Übertragung: Das Ende der Geschichte) jenes Werk, das Fragezeichen beiseite schob und einen Geschichtsdeterminismus ins Spielfeld setzte, der dem Autor bis heute anhaftet.
Im Erscheinungsjahr und der folgenden Lebensphase Fukuyamas war dies gerechtfertigt. Fukuyama schrieb über den Konfliktsieger »liberale Demokratie« so, als ob mit ihm ein »Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit« erreicht sei (Ivan Krastev und Stephen Holmes nennen diese Projektion das von Fukuyama erwartete »Zeitalter der Nachahmung«). Der Westen habe durch seine politische Überlegenheit, triumphierte Fukuyama, die »endgültige menschliche Regierungsform« erreicht, mithin »das Ende der Geschichte« als »evolutionären Prozeß, der die Erfahrungen aller Menschen aller Zeiten umfaßt«. Denn die liberale Demokratie sei – anders als frühere und konkurrierende Staats- und Regierungsformen – »bemerkenswert frei« von »inneren Widersprüchen« und habe sich mit dem freien Markt verschmolzen. Eine solche historische Leistung, vollzogen vom Westen unter Führung der USA, leite das Ende der Geschichte ein, weil es irrational wäre, wenn sich nicht alle anderen Nationen diesem Erfolgsmodell anschlössen.
Natürlich klammerte der US-Universalist Essentielles aus, darunter Partikularismen wie volkliche, ethnische, kulturelle und religiöse Bindungen und Normen oder die 1989 bis 1992 grassierenden wirtschaftlichen und (national-)separatistischen Kriege. Aber diese »Nebenwidersprüche« mußten fallen, wenn man die große Erzählung vom Triumph des widerspruchslosen liberaldemokratischen Gartens Eden implementieren wollte. Dies gelang in den unmittelbaren Jahren nach 1992, da der global angesetzte Versuch eines befehlsadministrativen Bürokratensozialismus irreparabel gescheitert war, »dritte Wege« angesichts des Jubelrausches des westlichen Siegers nicht gefragt waren oder wie in China, das Fukuyama als Motor weltumfassender Veränderung abschrieb, noch gar nicht entwickelt worden waren.
Auch aufgrund dieser von Margaret Thatcher, George H. W. Bush und eben Fukuyama verkündeten Alternativlosigkeit im Zeichen einer »globalen kapitalistischen Arbeitsteilung« (Fukuyama) schien das Ende der Geschichte erreichbar. Alle Völker würden, obschon in unterschiedlichem Tempo, das Vorbild des anglo-amerikanischen Freiheitsraumes nachahmen und selbst zu liberalen, »marktbestimmten« und offenen Gesellschaften werden.
Gleichwohl kündigte sich in Asien Anfang der 1990er Jahre an, daß eine lineare historische Entwicklung nicht die einzige Entwicklungsoption darstellen würde. So legte Fukuyama 1995 Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity vor, das im selben Jahr als Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht wurde. Alle politischen Fragen nach 1990, so Fukuyama einleitend, seien fortan wirtschaftliche Fragen. Vom zwangsläufigen »Endziel« einer liberaldemokratischen Weltordnung rückte er nicht ab. Sehr wohl sah er aber innergesellschaftliche Widersprüche auftreten, die er bisher unterschlagen hatte. Er führte beispielsweise die problematische Tendenz des Liberalismus an, wonach zu fürchten sei, daß der »Gültigkeitsbereich der Rechte immer weiter« ausgedehnt werde, während man die »Autorität praktisch aller bestehender Gruppen in Frage zu stellen« wage; eine Tendenz der »individualistischen Gesellschaft«, die mit einem »Schwund von Vertrauen und Soziabilität« einhergehe.
Fukuyama wollte am »Ende der Geschichte« festhalten, und dafür räumte er erstmals ein, daß die »demokratischen und kapitalistischen Institutionen« mit »bestimmten vormodernen kulturellen Gewohnheiten« kombiniert werden müßten, da sie gewisse Verbindungen aus sich heraus nicht generieren könnten. (Das Böckenförde-Diktum drückt im Grunde dasselbe aus.) Nur so könne Hegemonie »reibungslos« gestaltet werden, nur so könne man die außerhalb des Westens weiterhin lastenden Zusammengehörigkeiten dazu nutzen, sich produktiv in effektive kapitalistische Prozesse einzugliedern. »Gruppen mit einem hohen Maß an Vertrauen und Solidarität«, resümiert Fukuyama, seien ökonomisch »meistens effizienter als Gruppen, denen diese Merkmale fehlen«, wobei er zu bedenken gibt, daß Solidarität und Gemeinschaft oftmals zu »Nepotismus« und »Kumpanei« führten. Gemeinschaftsstreben und Gemeinschaftsleben macht der halb japanischstämmige Fukuyama (der selbst keinerlei Verbindung zum Japanischen aufnahm) besonders in Japan und Deutschland aus.
Dabei fällt frappierend ins Auge, was sich durch Fukuyamas Lebenswerk zieht: die stupende Unkenntnis Deutschlands, seines Volkes, seiner Rolle in der Welt usf. Fukuyama geht etwa davon aus, »daß die Kontinuität der deutschen Kultur in Ostdeutschland durch die kommunistische Herrschaft in der DDR ernsthaft durchbrochen wurde«. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall, und dementsprechend sind Fukuyamas diesbezügliche Erörterungen fragwürdig, wo nicht grotesk, wenn er beispielsweise »westdeutsche Manager« hervorhebt, denen vollkommen bewußt sei, daß »ihre türkischen Arbeitnehmer« mehr »typisch ›deutsche‹ Tugenden wie eine ausgeprägte Arbeitsethik und Selbstdisziplin« aufbrächten als die aus dem Deutschtum angeblich geflohenen Ostdeutschen.
Wenig einzuwenden gibt es dafür gegen eine weitere Schlüsselthese aus dem 500-Seiten-Werk Konfuzius und Marktwirtschaft. Sie besagt, daß sich (multikulturelle) »Diversität« zwar ökonomisch »auszahlen« könne, daß sie aber unweigerlich »von einem gewissen Punkt an« jene »Kommunikation und Kooperation« behindere, die für eine stabile Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unablässig seien. Es ist dies ein Standpunkt, der bei Fukuyama mehr als 20 Jahre später noch stärker betont wird. Vorher beschäftigte sich Fukuyama indes mit anthropologischen, transhumanistischen und biopolitischen Fragestellungen.
In The Great Disruption (1999), deutsch als Der große Aufbruch (2000) bekannt, widmet sich Fukuyama der menschlichen Natur und der Frage, wie Verhaltensforschung und Neuropsychologie Entscheidungen formen und klare Hierarchien, die Fukuyama als »Form der Organisation« durchaus favorisiert, evozieren (wobei er hinter Arnold Gehlen, Konrad Lorenz und Co. zurückfällt, die er nicht zu kennen scheint). In Our Posthuman Future (2002), deutsch als Das Ende des Menschen, beschäftigt sich Fukuyama konkreter mit den Auswirkungen der modernen Biologie auf unser Politikverständnis und die politische Praxis. Er wendet sich leidenschaftlich gegen die drohende Zukunftsoption, die Natur des Menschen durch technologischen Fortschritt und genetische Spielereien zu modifizieren und zu »optimieren«. Ein »posthumanes« Ende der Geschichte schildert er als Dystopie im Sinne Aldous Huxleys. Um dies zu verhindern, bedürfe es globaler »Kontrollinstitutionen« aller Schlüsselakteure der Weltpolitik, die gemeinsam jene Forschungsbereiche zu überwachen hätten, die Biotechnik und Transhumanistisches berühren.
Das alles wäre bis heute uneingeschränkt lesenswert, wenn Fukuyama nicht die falsche Annahme aus dem Ende der Geschichte beibehalten hätte, wonach die liberale Demokratie deshalb unangreifbar sein müsse, weil sie keinerlei Experimente gegen die menschliche Natur unternehme. Sie hüte sich, »in natürliche Verhaltensweisen« einzugreifen. Erstaunt muß man einerseits zur Kenntnis nehmen, daß Fukuyama multikulturalistische Experimente ebenso ausspart wie das Anfang der 2000er bereits in Gang gesetzte Gender Mainstreaming, die Expansionskriege und die Regime-Change-Allüren. Andererseits irritiert es, daß ein hoch gebildeter Autor über »das Politische« und »den Menschen« schreibt, ohne Carl Schmitt und Arnold Gehlen auch nur rudimentär zu rezipieren. Deutsche Quellen sind Fukuyamas Sache nicht; der anglo-amerikanische Blick versperrt die Sicht auf differenzierende Perspektiven.
Freiwillig verzichtet Fukuyama auf diese auch in seiner Streitschrift State-Building aus dem Jahr 2004, das als Staaten bauen übersetzt wurde. Noch vor dem Ende der Geschichte ist es jene Schrift, die Fukuyama als »Neocon« kennzeichnete. Verärgert über die Weigerung zahlreicher Nationen, sich freiwillig das Telos der freien Welt der freien Märkte anzueignen, liefert er die stürmische Legitimation von Interventionskriegen. So erfährt man nichts über die praktische Herausforderung, »Staaten zu bauen« (sprich: aus Failed states und postkolonialen Gebilden funktionierende Entitäten zu schaffen), sondern lernt, daß Fukuyama nicht von jener Manifest destiny abrückt, wonach es die heilsgeschichtliche Berufung der USA sei, jene Völker zu »befreien«, die es nicht verstanden hätten, sich dem unvermeidbaren Prozeß der westlich-universalistischen Weltangleichung zu subordinieren.
Erwähnenswert bleibt, daß Fukuyama von 2001 bis 2004 im »Rat für Bioethik« des US-Präsidenten George W. Bush arbeitete – das Buch Staaten bauen schrieb er auf dem Höhepunkt seiner diesbezüglichen Tätigkeit. Auch der 2005 zusammengestellte und Anfang 2006 von Fukuyama herausgegebene Sammelband Nation-Building atmet spürbar den Geist jener neokonservativen Schaffensphase, wenngleich der Ton weniger polternd ist.
Gleichwohl kündigte sich darin keineswegs jene manifeste Zäsur an, die noch im selben Jahr in America at the Crossroads gegenständlich wurde. Scheitert Amerika? ist eine umfassende Abrechnung mit der Regierung Bush (Jr.), mit dem Primat interventionistischer Weltmission, vor allem aber mit Fukuyamas jahrzehntelangen Weggefährten der Neocons. Die Streitschrift stellt im eigentlichen Sinne eine Geschichte der neokonservativen Bewegung dar, die heute mit Namen wie William und Irving Kristol, Robert Kagan, Charles Krauthammer oder Norman Podhoretz verbunden wird. Die Wurzeln des Neokonservatismus liegen in der linksextremen Häresie des Trotzkismus der 1940er Jahre.
Er besitzt nach wie vor eine weltweite Ausstrahlung (bis in transatlantische Zirkel in der AfD hinein). Fukuyama porträtiert ihn als Szene, die trotz fehlender Homogenität auf einem »Kernbestand kohärenter Ideen« beruhe, den er als »libertären Konservatismus« mit unilateral-expansionistischer Agenda verwirft. Darauf aufbauend, berichtigt er sein Ende der Geschichte: Das »eigentliche Argument« sei nicht die globale Zwangsläufigkeit liberaler Demokratie gewesen, sondern das Streben nach weltweiter »Modernisierung«, die sich im Wunsch ausdrücke, mit modernen Technologien, Lebensstandards und Gesundheitssystemen aufzuwachsen.
Die liberale Demokratie, schränkt Fukuyama – seine einstigen Thesen verfälschend – ein, habe lediglich als »eines der Nebenprodukte« zu gelten. Akteure, die durch weltweite Interventionen das Ende der Geschichte herbeiführen wollten, würden Moralpolitik und Kampfgelüste vermählen, obschon sie ihre weltpolizeiliche Mission als Benevolent hegemony (etwa: wohlmeinende Hegemonie) verschleierten.
Es drängt sich der Eindruck auf, daß sich Fukuyama von seinen Adepten lösen wollte, die das »Ende der Geschichte« zu plastisch verstanden und es nicht nur geschichtsphilosophisch diagnostizierten, sondern mit militärischer Wucht umzusetzen versuchten. Es ist die aggressiv-kämpferische, »trotzkistische« Kontinuität der Neocons, die Fukuyama erschrecken ließ – und mutmaßlich auch die katastrophalen Kriegsfolgen in Afghanistan und dem Irak.
Auffällig in der Folge ist, daß Fukuyama sich im Dezennium von 2008 bis 2018 größeren geschichtlichen Prozessen widmete und – von einigen tagespolitischen Exkursen etwa zum »Populismus« abgesehen, bei denen die Potenz als Futurologe einmal mehr bezweifelt werden muß – seine umfangreichste Arbeit in zwei Bänden vorlegte. Mehr als 1200 Seiten dichte Analysearbeit zur menschlichen Politik- und Ordnungsgeschichte publizierte Fukuyama in The Origins of Political Order und Political Order and Political Decay – beide Bände wurden bisher nicht ins Deutsche übersetzt.
Fukuyama bekennt, daß er Samuel Huntingtons Standardwerk von 1969 – Political Order in Changing Societies – fortschreiben, korrigieren, aktualisieren wollte. Das Vermächtnis seines »Mentors« (Fukuyama über Huntington) müsse die historischen Wurzeln von politischen Institutionen und ihren schrittweise erfolgenden Verfall ergründen. Dafür beginnt er bei der Urgeschichte der Menschheit und schreitet epochenweise voran bis zur Amerikanischen und Französischen Revolution, indem er richtungsweisende Entwicklungen – ob im globalen Westen, in China oder im islamisch geprägten Nahen und Mittleren Osten – beleuchtet. Naturgemäß fließen Erkenntnisse aus früheren Arbeiten ein, etwa wenn Fukuyama hervorhebt, daß der Mensch nicht gänzlich »frei« insofern ist, als daß er in einem bestimmten Rahmen handeln müsse, der die Entwicklungsperspektiven limitiere. Der Mensch habe nie in einem »präsozialen«, vereinzelten Zustand gelebt. Immer sei er umgeben von Gemeinschaften gewesen, deren Werte und Normen auf ihn einwirken. Dabei werden die vom einzelnen bereits vorgefundenen Institutionen reproduziert, deren Funktion gemäß Fukuyama (in offener Anlehnung an Huntington) darin bestehe, »stabile, wertgeschätzte, wiederkehrende Verhaltensmuster« zu perpetuieren.
In Political Order and Political Decay setzt Fukuyama diese »interdisziplinäre«, weil politikwissenschaftliche, historische, anthropologische und soziologische Teilbereiche verknüpfende staatsphilosophische Arbeit fort. Fukuyamas Evolution vom Neokonservativen zum »klassischen« Konservativen erweist sich als abgeschlossen: Hunderte Seiten über Staat, Herrschaft des Rechts (Rule of law) und die Rechenschaftspflicht der Staatslenker und ihrer Administration legen davon Zeugnis ab.
Bedenkt man, daß sich in allen Schriften Fukuyamas eine absonderliche Unkenntnis deutscher Geschichte und ihrer Autoren – Max Weber und Karl Marx in The Origins of Political Order ausgenommen – manifestiert, ist es um so überraschender, daß Fukuyamas Exkurs zum preußischen Sonderweg lehrreich die Essenz der preußischen und deutschen Staatsbildung samt effektivem Verwaltungsaufbau unter die Lupe nimmt. Auch seine ungewohnte Kritik des westlichen Modells sticht ins Auge. So nimmt Fukuyama wahr, daß seine alte Diagnose, die Demokratie anglo-amerikanischer Prägung kenne keine »inneren Widersprüche«, nicht länger zutreffend sein könne, wenn sich diverse Interessengruppen als imstande erweisen, mit Wahlkampfspenden und Lobbyarbeit Politiker zu kaufen und dies kein Einzelfall darstelle, sondern systemimmanent werde. Dies bilde den Prozeß der »Repatrimonialisierung« ab.
Ohnehin warnt Fukuyama nun vor Entwicklungen, wonach, um seine Kernaussage in eine deutsche Redewendung zu kleiden, »der Staat zur Beute« werde – von Netzwerken, von großen ökonomischen Spielern, vom Outsourcing der Souveränität. Den Staat als Institution begreift Fukuyama als wandelbar, erhaltenswert und Krisen überdauernd (»will never disappear«), während er libertäre Kritik, wonach »der Staat« pauschal unreformierbar sei, als eine defizitäre, folgenschwere Self-fulfilling prophecy zurückweist.
Doch was hält einen Staat idealiter zusammen? Identität (des Staatsvolks) und Solidarität (innerhalb eines Staatsvolks). Diese Liaison kann aus Fukuyamas jüngster Studie extrahiert werden. Der seit 2010 in Stanford lehrende Fukuyama nennt in Identität verschiedene Punkte, weshalb ein »inklusives Gefühl der nationalen Identität wesentlich [ist], wenn man eine erfolgreiche, moderne politische Ordnung aufrechterhalten will«, in der Menschen intuitiv ähnliche Verhaltensmuster und Normen befolgen. Konsequent verweist er daher auf die vertrauensbildende Funktion nationaler Identität. Der breite »Vertrauensradius« werde durch sie erst geschaffen, und ebendieses Vertrauen wirke als »Schmiermittel, das sowohl wirtschaftlichen Austausch als auch politische Teilhabe erleichtert«.
Vertrauen als Folge relativer identitärer Homogenität? Fukuyama akzentuiert jedenfalls, daß sich durch starke Konkurrenzidentitäten innerhalb eines Gemeinwesens das gegenseitige Vertrauen unweigerlich verringert: »Gesellschaften prosperieren infolge von Vertrauen – je größer der Radius, desto größer der Erfolg.« Keine Identität – kein Vertrauen, und kein Vertrauen – keine Solidarität.
Die Befürwortung der »Pflege starker sozialer Sicherheitsnetze« ist deshalb ein Beleg »für die Wichtigkeit der nationalen Identität«, weil Menschen naturgemäß »eher geneigt [sind], Sozialprogramme zur Unterstützung ihrer schwächeren Landsleute gutzuheißen«, wenn sie sich für »Angehörige einer Großfamilie halten«. Es ist dies ein wesensgemäßer Zusammenhang, der in individualistischen und überdies ethnokulturell fragmentierten Gesellschaften aussichtslos ist, da sich hier bereits das Konzept »Landsleute« unterminiert bis offen bekämpft sieht – zumindest in bezug auf die aufzuhebende »Mehrheitsgesellschaft«.
Mit seiner jüngsten Schrift Identität setzt Fukuyama folglich alles auf Anfang. Denn die Triumphepoche des Liberalkapitalismus, die er einst ausrief, erhob ausgerechnet den effektivsten Widersacher von bewahrenswerter nationaler Identität und Solidarität zum Sieger der Geschichte. Die Realität also, diese urkonservative Potenz, hat den Prognosedenker Fukuyama immerhin von einigen ideologischen Projektionen befreit.