In einem Land, das sich als postheroisch begreift, gibt es für das Betreiben von Militärgeschichte nur eine plausible Begründung: Der Postheroismus soll als Konsequenz der dunklen Vorzeit wissenschaftlich belegt werden. Alle anderen Interessen, die in früheren Zeiten Militärhistoriker umtrieben – sei es das Erarbeiten von Lehrbeispielen, das Herausstellen von Vorbildern oder die Begründung von Traditionen –, gelten in der Bundesrepublik zumindest als fragwürdig und werden auch in der Bundeswehr kaum noch gepflegt. Besser als posthistorische Militärgeschichte ist offenbar nur: gar keine Militärgeschichte. Es ist daher wenig verwunderlich, daß es in Deutschland derzeit genau eine militärhistorische Professur gibt, die obendrein den gewundenen Zweitnamen »Kulturgeschichte der Gewalt« trägt, so als befänden sich häusliche Gewalt und militärische Feldzüge auf derselben Ebene.
Seit 2015 hat Sönke Neitzel (*1968) diese Professur inne. Neitzel hatte bereits während seines Studiums ein Buch über deutsche U‑Boot-Bunker veröffentlicht und wurde 1994 in Mainz mit einer Arbeit über den Einsatz der Luftwaffe über dem Atlantik und der Nordsee promoviert. Bekanntheit erlangten vor allem seine beiden Bücher zu Äußerungen kriegsgefangener Wehrmachtsangehöriger (Abgehört, 2005; Soldaten, 2011, zus. mit Harald Welzer), mit denen er die These von der verbrecherischen Wehrmacht zu untermauern suchte.
Der Titel seines neuesten Buches, Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte (Berlin: Propyläen 2020, 816 S., 35 €), offenbart bereits die Hauptthese Neitzels. Über alle Brüche des deutschen Soldatentums hinweg betont er die Gemeinsamkeit deutscher Heeresangehöriger: Krieger sein zu müssen. Dieser Anspruch mußte nicht immer eingelöst werden, da nur kaiserliches Heer, Wehrmacht und, bei mikroskopischer Vergrößerung, die Bundeswehr des wiedervereinigten Deutschlands in die Verlegenheit kamen zu kämpfen, wohingegen das bei Reichswehr, Bundeswehr zu Bonner Zeiten und NVA nicht der Fall war. Aber auch sie hätten Krieger sein müssen, wenn sie im Kampf hätten bestehen wollen.
Diese verwickelte Geschichte des deutschen Militärs erzählt Neitzel in einer nüchternen Diktion, die sich von den moralinsauren Hervorbringungen vieler seiner Vorgänger wohltuend unterscheidet. Er ist immer bemüht, die jeweils herrschende Auffassung vom Soldatsein in den Kontext ihrer Zeit zu stellen. Dazu bedient er sich für jeden Abschnitt dreier Perspektiven: Neben die Beschreibung der jeweiligen politischen Rahmenbedingungen tritt die Untersuchung des inneren Gefüges der Streitkräfte. Dabei bemüht sich Neitzel besonders um die Herausarbeitung der von ihm als »tribal cultures« bezeichneten Kohäsionskräfte der einzelnen Truppengattungen und Einheiten, die er als eine konstante Grundvoraussetzung für das erfolgreiche Bestehen im Kampf identifiziert. Die dritte Perspektive gilt dem jeweiligen Führungsverständnis, mit dem Ausbildung und Kriegsführung den Rahmenbedingungen angepaßt wurden.
Das Buch legt einen starken Fokus auf die Bundeswehr, der allein 300 von 600 Textseiten gewidmet sind, was den Zweck des ganzen Unternehmens unterstreicht. Neitzel will mit dem Mythos aufräumen, mit dem es sich die postheroische Gesellschaft bequem gemacht hat: nämlich, daß nach 1945 eine neue Zeitrechnung begonnen habe, die alle Verbindungen zur Reichswehr und kaiserlichen Armee, vor allem aber zur Wehrmacht gekappt habe. Damit weist Neitzel auch der Militärgeschichte wieder eine Aufgabe zu, die über die pazifistische Selbstvergewisserung der Gegenwart hinausgeht: die militärische Vergangenheit nüchtern zu analysieren, um daraus für die nach wie vor von militärischen Auseinandersetzungen geprägte Gegenwart etwas zu lernen. Der Krieg ist dementsprechend der »Fixpunkt der vorliegenden Untersuchung«.
In allen Kapiteln finden sich Revisionen des als gegeben angenommenen Geschichtsbildes. Die durchgreifende Militarisierung des Kaiserreichs ist eine solche These, die Neitzel nicht gelten läßt, ebenso die Behauptung, unter der Obersten Heeresleitung sei das Kaiserreich zwischen 1916 und 1918 eine Militärdiktatur gewesen. Auch die Kritik am Militär der damaligen Zeit (bisher vor allem an den Schikanen gegenüber den Soldaten festgemacht) ordnet Neitzel als Überbewertung von Einzelfällen ein, die verfolgt wurden. Er stellt ihnen die Tatsache entgegen, daß es im Deutschen Heer keine Meutereien gegeben habe, auch wenn es zum Ende des Ersten Weltkrieges durchaus zu Auflösungserscheinungen kam, die Neitzel auf die auch im Militär dominante Klassengesellschaft zurückführt. Er betont hingegen die Lernfähigkeit des Militärs, dem es gelang, auch den Stellungskrieg zu meistern, der ihrer bisherigen Doktrin, in einem raschen Feldzug die Entscheidungsschlacht zu suchen, so fundamental widersprach. Aber auch hier gab die legendäre Auftragstaktik den Ausschlag, wenn es darum ging, die Stellungen mit Stoßtrupps in Bewegung zu bringen.
Die Reichswehr war aufgrund der Beschränkungen des Versailler Vertrags nicht mehr als eine Grenzschutztruppe, in der ausgiebig Sport getrieben wurde. Entgegen landläufiger Meinung sei sie kein »Staat im Staate« gewesen, sondern akzeptierte das Primat der Politik. Interessant ist die Reichswehr für Neitzel vor allem als Zwischenstation auf dem Weg zur Wehrmacht, die ohne Lernbereitschaft der Reichswehr und ohne deren hervorragende Ausbildung und Führerauswahl niemals in der Lage gewesen wäre, in wenigen Jahren eine Millionenarmee auf die Beine zu stellen. Allerdings hatte dieses Tempo seinen Preis: »Selten gingen deutsche Streitkräfte so unvorbereitet in einen Krieg wie 1939.« Mit diesem erstaunlichen Satz will Neitzel allerdings nur eine Überschätzung der eigenen Kampfkraft andeuten. Auch wenn Polen in einem Blitzkrieg, mit einer Operationsführung, die auf Schnelligkeit, Bewegung und Entscheidung setzte, besiegt wurde, merkten genaue Beobachter doch, daß der deutsche Soldat seit 20 Jahren keinen Krieg mehr geführt hatte. Die Erfahrungsberichte, auf die sich Neitzel stützt, deckten Mängel in der Kampfführung, in der Koordination und in der Aufklärung auf, die durch die Leistung einzelner Führer ausgeglichen wurden.
In der Folge gelang es, diese Mängel weitgehend abzustellen, so daß die Wehrmacht bis zum Winter 1941 / 42 von Sieg zu Sieg eilte. Der entscheidende Bruch setzte laut Neitzel ein, als die Wehrmacht sich nicht in der Lage zeigte, den Kampf an die neuen Gegebenheiten, in denen man nicht mehr über die Initiative verfügte, anzupassen. Die Wehrmacht fand keine Antwort mehr, kämpfte aber weiterhin zäh bis zum bitteren Ende. Die Gründe für diese Opferbereitschaft sieht Neitzel in verschiedenen Faktoren begründet, die in allen Phasen des Krieges zu einer starken Kohäsion der Truppe führten, so daß die Wehrmacht nie Auflösungserscheinungen zeigte.
Daß die 1955 gegründete Bundeswehr eine ganz andere Armee sein sollte, lag damals weniger an den von Neitzel ausgiebig behandelten Verbrechen, als an der beeindruckenden Kampfkraft der Wehrmacht. Diese wollten sich die Alliierten im Kalten Krieg zunutze machen, ohne jemals wieder Gefahr zu laufen, ihr gegenüberstehen zu müssen. Die mit dem Aufbau der Bundeswehr betrauten Wehrmachtsoffiziere hatten dementsprechend ihren Frieden mit der Teilung Deutschlands gemacht. Als schwere Bürde erwies sich, daß die Bundeswehr zum einen als militärisches Tauschobjekt für die Erlangung einer politischen Teilsouveränität gedacht war. Zum anderen stellte sich durch die atomare Rüstung bald die Sinnfrage für eine konventionelle Armee, die im Kriegsfall als erstes vernichtet zu werden drohte. Um sich von der Tradition zu distanzieren, konzipierte man den »Staatsbürger in Uniform«, der weniger sein Land als seine Verfassung verteidigen sollte. Das ließ Unmut unter denjenigen Aufkommen, die den Soldatenberuf ganz bewußt als den eines Kriegers und nicht eines Militärbeamten gewählt hatten.
Die Thesen der »Hauptleute von Unna« von 1971 markieren den Anfang einer Debatte über den Zustand und die Aufgabe der Bundeswehr, die bis heute anhält. Mangelnde Einsatzorientierung, zunehmende Politisierung und nachlassende Disziplin wurden zwar auch vorher hin und wieder beklagt. Seit 1971 ist aber klar, daß solche Kritik, von Ausnahmen abgesehen, kaum mit Unterstützung aus der Generalität rechnen kann. Die Ereignisse der letzten Jahre haben oft genug gezeigt, daß sich die Bundeswehrführung im Zweifel nicht vor ihre Soldaten stellt.
Neitzel deutet an, ohne es auszusprechen, daß der Bundeswehr seitdem gelungen ist, was keiner gesamtdeutschen Armee zuvor gelang: den politischen Soldaten als das Maß aller Dinge zu etablieren. Mit Rechtsabweichlern hat die sich zunehmend als linksliberal verstehende Bundeswehr seit den »Hauptleuten von Unna« keine Debatten mehr geführt, sondern diese in den Ruhestand versetzt oder aus der Truppe vergrault.
Daß Neitzel einen Franz Uhle-Wettler (Gefechtsfeld Mitteleuropa, 1980) nur in einer Fußnote und einen Gerd Schultze-Rhonhof (Wozu noch tapfer sein?, 1997) gar nicht erwähnt, obwohl beide für eine Wiederbelebung der Tradition des Kriegers eingetreten sind, trübt den guten Eindruck seines Buches. Man kann diese Vermeidung von Kontamination durch in der Öffentlichkeit schlecht beleumundete Namen für geschickt halten. Das verlorene Terrain des Kriegerischen kann nicht im Handstreich zurückerobert werden kann. Man kann es aber auch für einen schlauen Schachzug seitens des Establishments halten, dem es darum geht, »die vielen Soldaten, die die Volksparteien an die AfD verloren haben, zurückzuholen«, wie es im vorletzten Satz des Buches heißt.