In einer unheilen Welt, in der das Leben sich als täglicher Kampf gegen die Boshaftigkeit und den Irrsinn erweist, bedarf jeder Versuch der Selbstbehauptung kluger Maßregeln. Im 17. Jahrhundert, in dem vieles drunter und drüber ging, entwickelte der spanische Jesuit Baltasar Gracián als Reaktion auf die Krisen der Zeit seine Lehre der Desillusionierung. Schein und Sein galt es zu scheiden, und nirgends wird das Spektakel einer vom Schein beherrschten Welt eindrucksvoller in Szene gesetzt als in Graciáns Roman Der Kritikon (El Criticón), später dann Namensgeber einer legendären Zeitschrift.
Als Quintessenz seiner Überlebensmaximen wurden Graciáns Weisheiten in einem Buch mit dem seltsamen Titel Handorakel und Kunst der Weltklugheit zusammengefaßt: Es ist das Lehrbuch einer skeptischen Anthropologie für diejenigen, die »nicht zu einem Ungeheuer von Narrheit« werden wollen (Sentenz Nr. 168).
Es gehört zu den unausrottbaren anthropologischen Gegebenheiten, daß die Menschen sich in der
Hoffnung einrichten. Sie hoffen, daß die seit Jahren im Krisenmodus operierende Politik sich ändern wird. Sie hoffen, daß endlich wieder eine bodenständige Gruppe von Politikern aufkommen möge, die ohne ideologische Scheuklappen sich an tatsächlich bestehenden Problemen abarbeiten, statt symbolpolitische Schwerpunkte zu setzen und mit lustvollem Eifer an der Verschärfung bestehender und der Schaffung neuer Probleme zu arbeiten. Sie hoffen aber auch, daß die sachlich erforderlichen Neujustierungen der politischen Lage ohne eine Fortsetzung jener inneren Feinderklärungen vonstatten geht, die sich nicht nur in Deutschland innerhalb wie außerhalb der politischen Parteien zu einem beliebten Genre entwickelt haben.
Hoffnungen sind aber, wie man weiß, eitel, Erwartungen wenig wert, wenn keine Macht existiert,
die ihnen Geltung verschaffen kann. Und was Julien Freund einmal einem Pazifisten gegenüber mit
schlagenden Worten auf den Punkt gebracht hat, gilt auch generell: Man kann sich den
Feinderklärungen derjenigen, die jede Opposition macht- und wehrlos machen wollen, nicht dadurch
entziehen, daß man ihnen erklärt, man sei nicht ihr Feind: »Es ist der Feind, der Sie selbst dazu erklärt.
Und wenn er möchte, daß Sie sein Feind sind, dann können Sie ihnen die schönsten
Freundschaftsbekundungen erweisen. In dem Moment, in dem er Ihr Feind sein will, sind Sie es. Und er
wird Sie selbst noch daran hindern, Ihren Garten zu kultivieren.«
Heute zielt diese Feinderklärung im Zeichen der neofeministischen, antirassistischen und dekolonisierenden Diskurse auf den »fast vollkommenen Schuldigen«, nämlich den weißen Sündenbock (Pascal Bruckner), und sie zielt auf den Gedanken der Kontinuität einer Kultur.
Die – wie Jacques Ellul schlagend nachgewiesen hat – auch für Demokratien charakteristischen
Formen der Propaganda laufen gegenwärtig auf Hochtouren; ein Ende des alle gesellschaftlichen
Bereiche erfassenden »zivilgesellschaftlichen« Gesinnungsmoralismus ist nicht absehbar und auch
von seiten der herrschenden Postdemokraten nicht erwünscht. Denn die Widerstrebenden müssen in
ihren Handlungsoptionen so stark eingedämmt werden, daß ihnen jegliche Hebelwirkung entzogen wird, die durch eine stärkere mediale Präsenz ihrer Dissidenz zuwachsen könnte. »Trump« – wohlgemerkt nicht die konkrete Person dieses Namens, sondern bildhaft verstanden als die Option, der herrschenden Hauptstromrichtung überhaupt etwas entgegenzusetzen, wie unvollkommen es auch aussehen mag –, »Trump« darf sich nach dieser herrschenden Weltsicht unter keinen Umständen wiederholen.
Dem entspricht nicht nur die offensichtlich manipulative Ankündigung der großen Netzkraken,
Berichte über Wahlmanipulationen in den USA von ihren Netzwerken zu löschen – und kurz vor Ende
seiner Amtszeit auch die faktische Löschung von Trump selbst. Dem Ziel entspricht vor allem die immer
weitere Verbreitung gleichsam subkutaner Dauerpropaganda, die den Widerstand rationalen Denkens
allein schon durch Ermüdung zu verhindern vermag. Gegenüber einer solchen Propaganda wird man
nur schwer strategisch operieren können, wenn man nicht über sehr große finanzielle Mittel verfügt.
Nicht nur ohne Macht läßt sich nichts machen, auch ohne Geld sieht es schlecht aus.
Wir müssen uns also auf (un)absehbare Zeit darauf einstellen, daß in diesem unserem täglich
wunderlicher werdenden Land eines nicht mehr möglich ist: die sachliche Diskussion samt
anschließender Entscheidung von Fragen, die für das gute Leben aller Staatsbürger einer Entscheidung
zugeführt werden müssen. Dazu gehört an erster Stelle die Einwanderungsfrage, die deshalb in
besonderer Weise unter dem inzwischen fest etablierten Moralisierungszwang steht: Wo Argumente
fehlen, da stellen sich die nötigen moralisierenden Etiketten und Phrasen rechtzeitig ein. Wie sich das
auswirkt, hat Alexander Wendt in prägnanter Form zusammengefaßt: »Ob es um Windräder geht,
Klimapolitik, den Weg zum EU-Einheitsstaat, Rundfunkgebühren, selbst Eindämmungsmaßnahmen
gegen ein Virus: In diesen permanenten Endkämpfen bildet immer der Nationalsozialismus und ziemlich oft Auschwitz den zentralen Punkt der historischen Perspektive, das absolut Böse.«
Der praktische Nutzen dieses allzeit griffbereiten Nazi-Kurzschlusses als einer Form der reductio ad
Hitlerum liegt auf der Hand, wie Michael Klein von Sciencefiles schreibt: »Fake News […] sind im Arsenal der politischen Propaganda ebenso unverzichtbar wie der Allzweck-Nazi, den man zu jeder Zeit, jeder Gelegenheit und an jedem beliebigen Ort demjenigen anheften kann, der widerspricht.« Nur vor diesem Hintergrund ergibt es auch Sinn, angesichts einer real weitgehend phantasmatischen
Rechtsextremismus-Gefahr sowie einer eigentlich mit anderen Problemen belasteten Gegenwart eine außerordentliche Ressourcenvergeudung ins Werk zu setzen, wie sie das sogenannte Demokratiefördergesetz nun der Bundesregierung ermöglicht. Statt des Volkes – wie es die
tatsächliche demokratische Tradition immer hielt – wird hier der Staat selbst zum Träger einer
»Demokratie« gemacht, die sich zu einer Formel entleert hat und damit im Bereich des Politischen eben
jenen Substanzverlust verkörpert, der im Bereich von Bildung und Kultur schon länger mit Händen zu
greifen ist.
Einmal mehr befleißigen sich diejenigen Cliquen, die sich den Staat und die von ihm gehätschelte
»Zivilgesellschaft« zur Beute gemacht haben, eine ideologische Hegemonie auszubauen, deren
Grundlagen in der nachhaltigen Dekonstruktion aller abendländischen Traditionen gelegt wurden. Das
freiheitswidrige Definitionsmonopol über zentrale Begriffe wie »Demokratie«, »Parlamentarismus«,
»Grundrechte«, »Grundwerte«, »Meinungsfreiheit« usw. wird von Institutionen in Anspruch genommen, denen das schlicht nicht zukommt. Milliardenschwere Propaganda-Anstrengungen des Staates gegen seine eigenen Bürger, die paternalistisch-moralisierend diffamiert und stigmatisiert werden, sind eine neue Qualität innerer Unruhestiftung, die vom Staat selbst ausgeht und über die Transmissionsriemen der sogenannten Zivilgesellschaft mit ihren sattsam bekannten »Akteuren« den Souverän selbst – nämlich die Nation als die Gemeinschaft der Staatsbürger – als politisches Subjekt ausschalten soll.
Wir sind also jenseits aller ideologischen Verschleierungsbemühungen der offiziösen »politischen Bildung« konfrontiert mit einer »Macht ohne Souverän«, deren Triumph einhergeht mit einer »Demontage des Bürgers im Gesinnungsstaat« (Ulrich Schödlbauer). Behält man diesen Zusammenhang im Auge, begreift man die tiefere Wahrheit, die in der Erklärung der Amadeu-Antonio-Stiftung, »Die Zivilgesellschaft braucht das Demokratiefördergesetz!«, enthalten ist.
Eine Gesellschaft, die von einer derart tiefgreifenden Soziopathie durchdrungen ist, läßt sich wohl
eher nicht kurzfristig durch eine andere Zweckprogrammierung des institutionellen Handelns ins Lot
bringen. Wer sich in der heraufziehenden politischen Kälte warm anziehen muß, ist nun wieder mehr und vielleicht in ganz anderer Weise als in früheren Zeiten auf Verhaltenslehren der Kälte angewiesen. Ihre Notwendigkeit kann nicht auf Schlagworte eingedampft werden. Die Suche nach einem neuen
Handorakel, für das vieles aus dem von Gracián übernommen werden muß, ist deshalb nicht vorbei,
sondern geht gerade erst los.
Es muß dazu die ganze Tradition in ihrer historischen, philosophischen und religiösen Tiefe angezapft
und neu erschlossen werden. Es genügt nicht mehr, zu Carl-Schmitt-Exzerpten zu greifen. Es muß
wieder angeknüpft werden an Hegel und Fichte, an Schopenhauer und Gracián, an Gehlen und
Schelsky, aber auch an diejenigen Denker anderer Nationen, die in Kritik und Gegenkritik die zentralen
Errungenschaften des »Abendlandes« bzw. Europas auch gegen die selbstdestruktiven eigenen
Tendenzen verteidigt haben – Denker wie Rémi Brague, Edmund Burke, James Burnham, Chantal Delsol, Julien Freund, Romano Guardini, Russell Kirk, C. S. Lewis, Pierre Manent, Josef Pieper, Roger Scruton oder Alexander Solschenizyn.
Es ist keine beliebige Nebensache, wenn hier auf konkrete Personen verwiesen wird, nicht auf Parteien, Organisationen oder Institutionen. Denn diese sind nur soviel Wert, wie es in ihnen entwickelte Personalität und damit personale Verantwortung – auch im Denken – gibt. Eine Maxime für das zu schreibende Handorakel von Verhaltenslehren für unsere Krisenwelt findet sich bei Nicolás Gómez Dávila: »Was entpersonalisiert, verschlechtert.« Und Gracián selbst, für den es darauf
ankam, »das Licht der Desillusion zu gewinnen« und im emphatischen Sinne Person zu werden,
mahnt: »Nicht wirksam scheinen, sondern sein.«