1871


von Dag Krienen 
PDF der Druckfassung aus Sezession 100/ Februar 2021

Den im deut­schen Bür­ger­tum seit den Napo­leo­ni­schen Krie­gen wach­sen­den Wunsch nach einem
Staats­we­sen, das alle Deut­schen in Mit­teleuropa ver­eint, erfüll­te der Deut­sche Bund von 1815 in
kei­ner Wei­se. In der Revo­lu­ti­on von 1848 / 49 gelang es auf demo­kra­ti­schem Weg nicht, die­sen Wunsch
auch nur als klein­deut­sche Lösung (unter Aus­schluß der Habs­bur­ger­mon­ar­chie) gegen den Wil­len der
deut­schen Fürs­ten und den sich im ers­ten Krieg um Schles­wig-Hol­stein bemerk­bar machen­den Druck
der aus­län­di­schen Mäch­te zu rea­li­sie­ren. Der preu­ßi­sche König Fried­rich Wil­helm IV. lehn­te die ihm von
der Natio­nal­ver­samm­lung ange­tra­ge­ne deut­sche Kai­ser­kro­ne ab, um mas­si­ven Kon­flik­ten mit den
übri­gen Mäch­ten zu ent­ge­hen. 1849 / 50 ver­sucht er aller­dings, auf der Basis einer kon­ser­va­tiv
modi­fi­zier­ten Frank­fur­ter Reichs­ver­fas­sung mit ande­ren deut­schen Staa­ten außer­halb Öster­reichs eine
(klein)deutsche Uni­on zu grün­den. Doch nur eini­ge meist klei­ne­re Staa­ten schlos­sen sich der »Erfur­ter
Uni­on« an. Im Novem­ber 1850 zwang der Habs­bur­ger­staat, unter­stützt von Ruß­land, Preu­ßen durch ein
mili­tä­ri­sches Ulti­ma­tum zur end­gül­ti­gen Auf­ga­be des Uni­on-Pro­jekts und zur Wie­der­be­le­bung des
Deut­schen Bun­des von 1815 (»Olmüt­zer Punk­ta­ti­on«).
Für den 1862 zum preu­ßi­schen Minis­ter­prä­si­den­ten beru­fe­nen Otto von Bis­marck war die
(klein)deutsche Eini­gung zunächst nicht das zen­tra­le Ziel sei­ner Poli­tik. Als sei­ne wich­tigs­te Auf­ga­be
sah er viel­mehr an, die Groß­macht­stel­lung des preu­ßi­schen Staa­tes in Euro­pa zu sichern. Preu­ßen in
den Gren­zen von 1815 war die kleins­te, ter­ri­to­ri­al zudem zwei­ge­teil­te und von den übri­gen Mäch­ten
ein­ge­keil­te Groß­macht in Euro­pa. Für Bis­marck war die Demü­ti­gung durch Olmütz ein poli­ti­sches
Schlüs­sel­er­eig­nis, das Preu­ßens ele­men­ta­re Schwä­che im über­kom­me­nen euro­päi­schen Mäch­te­sys­tem
mehr als deut­lich gezeigt hat­te. Sei­ne Groß­macht­stel­lung konn­te nach Bis­marcks Über­zeu­gung nur
dann Bestand haben, wenn es in Nord­deutsch­land expan­dier­te und sich dort eine hege­mo­nia­le Stel­lung
ver­schaff­te. Das war nur mit mili­tä­ri­schen Mit­teln und gegen den inner­deut­schen Riva­len Öster­reich
durch­zu­set­zen. Der gemein­sam mit Öster­reich geführ­te Krieg von 1864 gegen Däne­mark ver­dräng­te
einen aus­län­di­schen Mon­ar­chen aus der Herr­schaft über deut­sche Gebie­te, wo 1848 / 49 eine
aus­län­di­sche (bri­ti­sche) Inter­ven­ti­on gedroht hat­te. Im deutsch-deut­schen Krieg von 1866 nötig­te
Preu­ßen dann den öster­rei­chi­schen Kai­ser­staat nach der Schlacht von König­grätz zu einem Frie­den, der
ihm zwar kei­ne Gebiets­ver­lus­te abver­lang­te, aber zur Aner­ken­nung der Auf­lö­sung des Deut­schen
Bun­des und zum Rück­zug aus Deutsch­land zwang. Gleich­zei­tig arron­dier­te Preu­ßen rück­sichts­los sein
Ter­ri­to­ri­um in Nord­deutsch­land durch Annek­tie­rung dor­ti­ger Kriegs­geg­ner und domi­nier­te als Hege­mon
den mit den ver­blei­ben­den Staa­ten nörd­lich der Main­li­nie geschlos­se­nen Nord­deut­schen Bund von
1867. Mit den nun voll­stän­dig sou­ve­rä­nen süd­deut­schen Staa­ten Baden, Würt­tem­berg und Bay­ern
konn­te Bis­marck zugleich unbe­fris­te­te und unkünd­ba­re Schutz- und Trutz­bünd­nis­se abschlie­ßen, da
sich die­se nach dem Ende des Deut­schen Bun­des einer mög­li­chen fran­zö­si­schen Bedro­hung allei­ne
nicht erweh­ren konn­ten.
Bis­marck hat­te damit bereits sein zen­tra­les Ziel, die Groß­macht­stel­lung Preu­ßens auf ein siche­res
Fun­da­ment zu stel­len, erreicht. Von einem rein preu­ßi­schen Stand­punkt aus gese­hen, waren nach 1867
wei­te­re Schrit­te zur Erwei­te­rung sei­ner Macht­ba­sis nicht mehr zwin­gend not­wen­dig. Er war sich aber
auch bewußt, daß Preu­ßen sei­nen Auf­stieg der Unter­stüt­zung durch die deut­sche Natio­nal­be­we­gung
ver­dank­te, die es zu erhal­ten galt. Des­halb gehör­te es offi­zi­ell zum Selbst­ver­ständ­nis des
Nord­deut­schen Bun­des, sich all­mäh­lich zu einem (klein)deutschen Gesamt­bund wei­ter­zu­ent­wi­ckeln.
Es gibt Indi­zi­en dafür, daß Bis­marck nun auch real­po­li­tisch die Voll­endung der deut­schen Ein­heit als
Fern­ziel ins Auge faß­te. Aller­dings hat­te er dabei kei­ne Eile. Der nun­meh­ri­ge nord­deut­sche
Bun­des­kanz­ler lehn­te jedes über­has­te­te Vor­ge­hen in der Ange­le­gen­heit ab. Die Ver­bes­se­rung der
Groß­macht­stel­lung Preu­ßens 1866 / 67 war von den meis­ten euro­päi­schen Mäch­ten noch nicht als
bedroh­li­che Ver­än­de­rung des euro­päi­schen Gleich­ge­wichts wahr­ge­nom­men wor­den. Die Bil­dung eines
klein­deut­schen Natio­nal­staa­tes wäre aller­dings zwangs­läu­fig als eine erneu­te, viel ein­schnei­den­de­re
Ver­än­de­rung die­ses Gleich­ge­wichts ange­se­hen wor­den. Jeder wei­te­re Schritt in die­se Rich­tung muß­te
auf­grund sei­ner außen­po­li­ti­schen Kon­se­quen­zen und Kriegs­ri­si­ken wohl­erwo­gen wer­den.
Zum ande­ren war sich Bis­marck bewußt, daß der Krieg von 1866 in den süd­deut­schen Staa­ten vie­le
anti­preu­ßi­sche Res­sen­ti­ments hin­ter­las­sen hat­te. Ihre Anglie­de­rung an den Nord­deut­schen Bund durch
Zwang oder Druck und ohne ech­te Zustim­mung der betrof­fe­nen Staa­ten und ihrer Bür­ger hät­te statt zu
einem wei­te­ren Kraft­ge­winn nur zu einer Belas­tung geführt. Ins­be­son­de­re die Köni­ge von Bay­ern und
Würt­tem­berg waren strikt gegen jede Ein­schrän­kung ihrer Sou­ve­rä­ni­tät. Daß vie­le ihre Unter­ta­nen
ähn­lich dach­ten, zeig­te sich 1867 / 68 nach der Reform des Deut­schen Zoll­ver­eins. Um die
wirt­schaft­li­che Ein­heit Deutsch­lands zu stär­ken, soll­te der Ver­ein mit eige­nen Orga­nen, etwa auch
einem Zoll­par­la­ment aus­ge­stat­tet wer­den. Doch sowohl bei den Wah­len zum Zoll­par­la­ment als auch
bei den Land­tags­wah­len gewan­nen in Würt­tem­berg und Bay­ern 1868 die Geg­ner der klein­deut­schen
Eini­gung die Mehr­heit, nur in Baden und in Hes­sen-Darm­stadt erwie­sen sich die Wäh­ler als »anschluß«-
freund­lich. Bis­marck unter­band nun jeden Ver­such einer For­cie­rung der Ein­heit durch den

Nord­deut­schen Bund. Er bekun­de­te zudem wie­der­holt, daß die deut­sche Ein­heit zwar gewiß kom­men
wer­de, aber viel­leicht erst von den fol­gen­den Gene­ra­tio­nen voll­endet wer­den kön­ne. Allein krie­ge­ri­sche
Ereig­nis­se könn­ten den Pro­zeß beschleu­ni­gen. Sol­che bewußt her­bei­zu­füh­ren, lehn­te er ab.
Preu­ßen sah sich aller­dings mit der wach­sen­den Geg­ner­schaft des fran­zö­si­schen Zwei­ten
Kai­ser­reichs unter Napo­le­on III. kon­fron­tiert. Sein Macht­zu­wachs 1866 droh­te die von Kai­ser wie Volk
wei­ter­hin wie selbst­ver­ständ­lich in Anspruch genom­me­ne Prépon­dé­rance légiti­me, die »legi­ti­me
Vor­macht­stel­lung« Frank­reichs in Euro­pa, in Fra­ge zu stel­len. Napo­le­on III. hat­te schon vor dem Krieg
von 1866 »Kom­pen­sa­tio­nen« für Preu­ßens Zuge­win­ne ver­langt. Doch konn­te der Kai­ser
Gebiets­er­wei­te­run­gen auf Kos­ten Bel­gi­ens und Luxem­burgs nicht rea­li­sie­ren, denen Bis­marck damals
zwar vage und unver­bind­lich zuge­stimmt hat­te, ohne sie aber nach 1866 außen­po­li­tisch wirk­lich zu
unter­stüt­zen.
In Frank­reich wur­den nun Rufe nach »Rache für Sado­wa« (= König­grätz) laut. Napo­le­on III. sah sich
gezwun­gen, jeden wei­te­ren Macht­ge­winn Preu­ßens zu ver­hin­dern, zumal die Legi­ti­mi­tät des
bona­par­tis­ti­schen Regimes von außen­po­li­ti­schen Erfol­gen abhing. Bei­de Sei­ten kal­ku­lier­ten nun die
Mög­lich­keit eines krie­ge­ri­schen Kon­flik­tes mit ein. Die Kan­di­da­tur des Prin­zen Leo­pold von
Hohen­zol­lern-Sig­ma­rin­gen (aus der süd­deut­schen, katho­li­schen Neben­li­nie) für den seit 1868 vakan­ten
Thron Spa­ni­ens wur­de schließ­lich zum Zünd­fun­ken. Als die­se Anfang Juli 1870 in Frank­reich bekannt
wur­de, war dort die Empö­rung groß. Die über­trie­be­ne, aber noch ver­ständ­li­che Befürch­tung
Frank­reichs, von einer mäch­ti­gen Dynas­tie von Ost und Süd­west umklam­mert zu wer­den, wur­de an
sich durch Leo­polds Rück­zug am 12. Juli gegen­stands­los. Doch nun setz­ten sich in der fran­zö­si­schen
Regie­rung jene Kräf­te um Kai­se­rin Eugé­nie und Außen­mi­nis­ter Gra­mont durch, die dem Riva­len
Preu­ßen auf jeden Fall eine schwe­re diplo­ma­ti­sche Nie­der­la­ge zufü­gen woll­ten. Gra­mont ließ den
fran­zö­si­schen Bot­schaf­ter Bene­det­ti am 13. Juli bei dem in Bad Ems zur Kur wei­len­den preu­ßi­schen
König Wil­helm vor­spre­chen. Die­ser sol­le eine Ent­schul­di­gung für den Ver­such der Instal­la­ti­on eines
Hohen­zol­lern auf dem spa­ni­schen Thron aus­spre­chen und eine Garan­tie­er­klä­rung abge­ben, einen
sol­chen Ver­such nie wie­der zu gestat­ten. Indi­rekt hät­te der König damit ein­ge­räumt, daß die
Kan­di­da­tur nicht als dynas­ti­sche Pri­vat­an­ge­le­gen­heit, son­dern, was er stets bestrit­ten hat­te, von Staats
wegen betrie­ben wor­den sei, ihr Zurück­zie­hen also ein Nach­ge­ben Preu­ßens ange­sichts der Macht
Frank­reichs dar­stell­te. Wil­helm ver­wei­ger­te dies und lehn­te wei­te­re Unter­re­dun­gen mit Bene­det­ti ab.
Bis­marcks ließ die Mit­tei­lung des Königs über den Vor­fall in einer von ihm gekürz­ten, die
Zurück­wei­sung Bene­det­tis schrof­fer dar­stel­len­den Form ver­öf­fent­li­chen (Emser Depe­sche). Von einer
Pro­vo­ka­ti­on der Fran­zo­sen zum Krieg konn­te jedoch nicht die Rede sein. Die Kriegs­par­tei in Paris hat­te
sich viel­mehr zuvor aus eige­nem Antrieb selbst in eine Fal­le manö­vriert, aus der sie nach dem
Schei­tern der diplo­ma­ti­schen Demü­ti­gung Preu­ßens in Bad Ems ohne Gesichts­ver­lust nur noch durch
den Krieg her­aus­kom­men konn­te. Nach der Zurück­wei­sung ihrer For­de­run­gen durch Wil­helm I.
beschloß die Regie­rung am 14. Juli die Mobil­ma­chung; am 15. Juli bewil­lig­te das Par­la­ment fast
ein­mü­tig die Kriegs­kre­di­te; am 19. Juli 1870 erklär­te das Kai­ser­reich Preu­ßen for­mell den Krieg.
Bis­marck, der den Krieg nicht von lan­ger Hand vor­aus­ge­plant und die Kri­se nicht von sich aus
insze­niert hat­te, nahm nun die Gele­gen­heit wahr, die deut­sche Eini­gung durch einen – mit
über­schau­ba­ren Risi­ken ver­bun­de­nen – Duell­krieg mit einer ein­zel­nen euro­päi­schen Macht zu
beschleu­ni­gen. Deren Suche nach Ver­bün­de­ten in Euro­pa hat­te er durch diver­se poli­ti­sche Manö­ver
bereits kon­ter­ka­riert. Frank­reich stei­ger­te durch sein Ver­hal­ten in der Julikri­se sei­ne inter­na­tio­na­le
Iso­lie­rung noch, da es nun in den Augen der meis­ten Mäch­te als der allei­ni­ge Aggres­sor dastand, der aus
nich­ti­gem Grun­de eine an sich schon ent­schärf­te Kri­se zum Krieg eska­liert hat­te. In Deutsch­land
hin­ge­gen lös­ten die unver­schäm­ten fran­zö­si­schen For­de­run­gen – nicht nur in Nord­deutsch­land, son­dern
auch den süd­deut­schen Staa­ten – eine natio­na­le Begeis­te­rung aus, die in die Bereit­schaft zum
mili­tä­ri­schen Bei­stand für Preu­ßen in die­sem Krieg mün­de­te.
Die ver­bün­de­ten Streit­kräf­te des Nord­deut­schen Bun­des und der süd­deut­schen Staa­ten gin­gen
Anfang August 1870 gegen die zwar in bes­tem Ruf ste­hen­den, aber schlecht orga­ni­sier­ten und
geführ­ten kai­ser­li­chen Trup­pen in die Offen­si­ve, dräng­ten sie von der Gren­ze ab, schlos­sen die
»Rhein­ar­mee« in Metz ein, ver­nich­te­ten Anfang Sep­tem­ber die zum Ersatz her­an­ei­len­de »Châ­lons-
Armee« bei Sedan und nah­men Napo­le­on III. dort gefan­gen. Damit war der Krieg aller­dings noch nicht
ent­schie­den. Die in Paris aus­ge­ru­fe­ne Drit­te Repu­blik setz­te ihn unter Aus­ru­fung der Levée en mas­se
fort. Es gelang den Fran­zo­sen, in den unbe­setz­ten Tei­len des Lan­des neue Armeen auf­zu­stel­len.
Die­sen man­gel­te es aller­dings an erfah­re­nen Offi­zie­ren und Unter­of­fi­zie­ren als Aus­bil­der und tak­ti­sche
Füh­rer im Gefecht, so daß die kriegs­er­fah­re­nen deut­schen Ver­bän­de auch zah­len­mä­ßig über­le­ge­ne
Trup­pen der Repu­blik meist, aller­dings nicht immer und nicht immer ent­schei­dend, schla­gen konn­ten.
Erst im Janu­ar 1871 wur­de der Krieg mili­tä­risch defi­ni­tiv ent­schie­den, als vier gro­ße koor­di­nier­te
Vor­stö­ße der Fran­zo­sen – dar­un­ter ein gro­ßer Aus­bruchs­ver­such aus Paris am 19. Janu­ar, dem Tag
nach der deut­schen Kai­ser­pro­kla­ma­ti­on in Ver­sailles – alle­samt kata­stro­phal schei­ter­ten und sich die
Ersatz­ar­meen, auch durch Deser­ta­tio­nen, weit­ge­hend auf­lös­ten.
Die lan­ge Kriegs­dau­er stell­te ein außen­po­li­ti­sches Risi­ko dar. Zwar war auf­grund von Bis­marcks
poli­ti­schen Manö­vern vor dem Krieg und voll­ends nach den ers­ten deut­schen Schlach­ten­sie­gen die
Gefahr gering, daß ande­re Mäch­te mili­tä­risch auf sei­ten Frank­reichs ein­grif­fen. Doch fürch­te­te
Bis­marck bis zum end­gül­ti­gen Frie­dens­schluß im Mai 1871 eine »Ver­mitt­lung« des Frie­dens durch
ande­re Groß­mäch­te oder gar die Ein­be­ru­fung einer euro­päi­schen »Frie­dens­kon­fe­renz«. Die­se hät­te den

Ver­zicht auf alle deut­schen Gewin­ne erzwin­gen oder gar in die Gestal­tung der deut­schen Ein­heit
ein­grei­fen kön­nen. Durch eine Rei­he von diplo­ma­ti­schen Maß­nah­men konn­te er die­se Gefahr am Ende
neu­tra­li­sie­ren.
Die mil­de Behand­lung Frank­reichs in den Frie­dens­prä­li­mi­na­ri­en von Ver­sailles vom 26. Febru­ar und
dem end­gül­ti­gen Frie­den von Frank­furt vom 10. Mai 1871 erfolg­te auch aus der Erwä­gung, daß die
ande­ren Groß­mäch­te eine völ­li­ge Degra­die­rung Frank­reichs und damit eine gra­vie­ren­de Stö­rung im
euro­päi­schen Gleich­ge­wicht kaum tole­rie­ren wür­den. Nicht nur aus per­sön­li­cher Nei­gung hat­te
Bis­marck des­halb von Anfang an, anders als Molt­ke, kei­ne völ­li­ge mili­tä­ri­sche Nie­der­wer­fung
Frank­reichs mit anschlie­ßen­dem Diktat‑, son­dern einen Ver­hand­lungs­frie­den ange­strebt. In den
Frie­dens­ver­hand­lun­gen 1871 mach­te Bis­marck dann den Fran­zo­sen durch­aus sub­stan­ti­el­le
Kon­zes­sio­nen und ver­zich­te­te zur ins­ge­hei­men Erleich­te­rung der fran­zö­si­schen Ver­hand­lungs­füh­rer auf
alle die Sou­ve­rä­ni­tät Frank­reichs beein­träch­ti­gen­den Bestim­mun­gen. Das Land muß­te zwar das Elsaß
und Tei­le Loth­rin­gens abtre­ten sowie eine beträcht­li­che Kriegs­ent­schä­di­gung zah­len, blieb jedoch als
ein in vol­lem Umfang sou­ve­rä­ner, wenn auch etwas zurecht­ge­stutz­ter Mit­spie­ler im Kon­zert der
euro­päi­schen Groß­mäch­te erhal­ten.
Für den inner­deut­schen Ein­heits­pro­zeß war die lan­ge Kriegs­dau­er teil­wei­se auch von Vor­teil. Als die
süd­deut­schen Staa­ten im Juli 1870 erklär­ten, daß sie nach der fran­zö­si­schen Kriegs­er­klä­rung an
Preu­ßen den mili­tä­ri­schen Bünd­nis­fall im Sin­ne der Schutz- und Trutz­bünd­nis­se von 1866 als gege­ben
ansa­hen, war damit noch kein Bekennt­nis zur Bil­dung eines gemein­sa­men deut­schen Staa­tes
ver­bun­den. Bis­marck blieb vor­sich­tig und wies noch Anfang August an, die Pres­se davon abzu­hal­ten,
von »Kai­ser­ideen« zu schwär­men, weil dies die »süd­deut­sche Bun­des­ge­nos­sen­schaft« stö­ren könn­te.
Doch auch dort nahm der natio­na­le Enthu­si­as­mus brei­ter Volks­schich­ten, vor allem nach den ers­ten,
gemein­sam erfoch­te­nen Sie­gen, eben­so zu wie das Bestre­ben, den gemein­sa­men Kriegs­an­stren­gun­gen
die Bil­dung eines gemein­sa­men Natio­nal­staa­tes fol­gen zu las­sen. Dem dadurch auf­ge­bau­ten Druck
muß­ten schließ­lich auch jene Regie­run­gen, Mon­ar­chen und Par­tei­en in Würt­tem­berg und Bay­ern
nach­ge­ben, die an sich gegen die Ein­glie­de­rung in ein von Preu­ßen domi­nier­tes Klein­deutsch­land
ein­ge­stellt waren.
Tech­nisch gese­hen wur­de 1870 / 71 die Ein­heit (ähn­lich wie 1990) durch den Anschluß der
süd­deut­schen Staa­ten an den schon exis­tie­ren­den Nord­deut­schen Bund bewerk­stel­ligt. Die­ser besaß
bereits gemein­sa­me Ver­fas­sungs­or­ga­ne wie einen (mit glei­chem Stimm­recht gewähl­ten) Reichs­tag,
einen Bun­des­rat (aus Ver­tre­tern der Regie­run­gen der Ein­zel­staa­ten), einen Bun­des­kanz­ler (Bis­marck)
sowie einen »Prä­si­di­um« (Vor­sitz), das dem preu­ßi­schen König zustand. Bis­marck war aber wei­ter­hin
bemüht, jeden Ein­druck zu ver­mei­den, daß die Initia­ti­ve zum »Anschluß« von ihm bzw. Preu­ßen
aus­ging. Nach dem Sieg von Sedan bat er den von sich aus zum Anschluß berei­ten Groß­her­zog
Fried­rich I. von Baden, bei dem als unwil­lig gel­ten­den baye­ri­schen König Lud­wig II. zu son­die­ren, wie
das Ver­hält­nis zwi­schen Nord­deut­schem Bund und Süd­deutsch­land zukünf­tig zu gestal­ten sei. Es
folg­ten län­ge­re Ver­hand­lun­gen zwi­schen dem Nord­deut­schen Bund und den süd­deut­schen Staa­ten.
Baden zusam­men mit Hes­sen-Darm­stadt (des­sen nörd­li­che Hälf­te schon zum Bund gehör­te) sowie
jeweils Bay­ern und Würt­tem­berg ver­ein­bar­ten in sepa­ra­ten Ver­trä­gen vom 15., 23. und 24. Novem­ber
ihren am 1. Janu­ar 1871 wirk­sam wer­den­den Bei­tritt zum nun­meh­ri­gen »Deut­schen Bund«, wobei
Würt­tem­berg und vor allem Bay­ern jeweils umfang­rei­che Son­der­rech­te her­aus­schlu­gen. Die Ver­trä­ge
wur­den durch den nord­deut­schen Reichs­tag und die süd­deut­schen Land­ta­ge rati­fi­ziert, der baye­ri­sche
Land­tag brauch­te aller­dings bis zum 21. Janu­ar 1871, bis die not­wen­di­ge Zwei­drit­tel­mehr­heit
zusam­men­ge­bracht war.
Am 9. Dezem­ber beschloß der Nord­deut­sche Bund im Ein­ver­neh­men mit den süd­deut­schen
Regie­run­gen die Umbe­nen­nung des Bun­des in »Deut­sches Reich« und sei­nes »Prä­si­di­ums« in
»Deut­scher Kai­ser«. Auch in die­sem Fall hat­te Bis­marck zuvor den badi­sche Groß­her­zog vor­ge­schickt.
Die­ser bat Ende Okto­ber den baye­ri­schen König, dem preu­ßi­schen König im Namen aller Bun­des­fürs­ten
die Kai­ser­kro­ne anzu­bie­ten. Lud­wig II. zier­te sich eine Wei­le, schick­te aber schließ­lich Ende Novem­ber –
nach der Zusa­ge umfang­rei­cher Finanz­hil­fen für den Bau sei­ner Schlös­ser – auf der Basis eines von
Bis­marck ange­fer­tig­ten Kon­zepts ein ent­spre­chen­des Hand­schrei­ben an Wil­helm I. Die­ser war
aller­dings davon nicht begeis­tert, zer­stritt sich mit Bis­marck über sei­ne Titu­la­tur und ließ sich nur mit
gro­ßer Mühe dazu bewe­gen, im Spie­gel­saal von Schloß Ver­sailles am 18. Janu­ar 1871 zum Kai­ser
pro­kla­miert zu wer­den.
Der 18. Janu­ar 1871 gilt zu Recht als das eigent­li­che Grün­dungs­da­tum des Deut­schen Kai­ser­reichs,
auch wenn es staats- und ver­fas­sungs­recht­lich bereits am 1. Janu­ar 1871 ins Leben getre­ten war, und
damit des ers­ten deut­schen Natio­nal­staa­tes. Der an die­sem Tag zum Kai­ser aus­ge­ru­fe­ne König Wil­helm
soll­te mit sei­ner Befürch­tung recht behal­ten, daß das alt­ehr­wür­di­ge preu­ßi­sche König­tum hin­ter der
Kai­ser­wür­de rasch ver­blas­sen wür­de. Die Umbe­nen­nun­gen von »Prä­si­di­um« in »Deut­scher Kai­ser« und
»Bund« in »Reich« änder­ten zwar an der insti­tu­tio­nel­len Struk­tur des neu­en Staats­we­sens nichts, außer
daß eine Rei­he von Ämtern und Orga­ni­sa­tio­nen nun als »kai­ser­lich« oder »Reichs-« bezeich­net wur­den.
Für die meis­ten Deut­schen, auch wenn sie wei­ter­hin ihre lands­mann­schaft­li­chen Iden­ti­tä­ten pfleg­ten,
waren aber »Kai­ser« und »Reich« weit attrak­ti­ve­re Sym­bo­le als ein schnö­der »Bund« und sein
»Prä­si­di­um«, um sich mit dem neu­en Staats­we­sen zu iden­ti­fi­zie­ren. Im Bewußt­sein der Deut­schen und
dadurch auch in der poli­ti­schen Rea­li­tät ver­wan­del­te erst der Kai­ser­ti­tel einen Staa­ten­bund – unter der
in Süd­deutsch­land nicht son­der­lich belieb­ten preu­ßi­schen Füh­rung – in einen gemeinsamen

Bun­des­staat, in ein »Reich« unter einem gemein­sa­men Kai­ser, der neben­her auch noch der König eines
der Glied­staa­ten war.
Die­ses Reich war kei­ne Schöp­fung allein von »oben«. Neben der Rati­fi­zie­rung der
Novem­ber­ver­trä­ge durch den nord­deut­schen Reichs­tag und die süd­deut­schen Land­ta­ge
ver­ab­schie­de­te auch der am 3. März 1871 gewähl­te gesamt­deut­sche Reichs­tag am 14. April mit
über­wäl­ti­gen­der Mehr­heit (rück­wir­kend zum 1. Janu­ar) die Ver­fas­sung des Deut­schen Rei­ches. Die­se
faß­te zwar »nur« mit weni­gen klei­nen Modi­fi­ka­tio­nen die in den Novem­ber­ver­trä­gen ver­ein­bar­ten
Ver­än­de­run­gen der nord­deut­schen Bun­des­ver­fas­sung samt Son­der­be­stim­mun­gen für Würt­tem­berg
und Bay­ern zu einem neu­en Doku­ment zusam­men. Sie ent­sprach damit nicht dem Ide­al von 1848, der
Neu­schöp­fung »von unten« durch eine durch demo­kra­ti­sche Wahl dazu legi­ti­mier­te
Natio­nal­ver­samm­lung, deren staats­recht­li­che und ver­fas­sung­ge­ben­de »All­macht« aller­dings den
Zusam­men­stoß mit den rea­len poli­ti­schen Mäch­ten der Zeit nicht über­lebt hat­te.
Die gern zitier­te Dicho­to­mie einer »von oben« geschaf­fe­nen Ein­heit von 1871 und dem Anlauf dazu
»von unten« 1848 / 49 ver­kennt, wie sehr die Reichs­grün­dung von 1871 erst durch den Bei­trag und den
Ein­fluß von »unten« mög­lich wur­de. 1848 / 49 hat­te sich gezeigt, daß allein von »unten« her gegen die
über­kom­me­nen deut­schen Fürs­ten­staa­ten und die euro­päi­schen Groß­mäch­te eine deut­sche Ein­heit,
selbst in der abge­speck­ten klein­deut­schen Form, nicht her­zu­stel­len war. »Unten« brauch­te »oben«,
also die macht­po­li­ti­sche Durch­set­zungs­fä­hig­keit einer deut­schen Groß­macht, um sei­ne natio­na­len
Wün­sche zu rea­li­sie­ren. Zwi­schen »oben« und »unten« ent­wi­ckel­te sich zwi­schen 1864 und 1871 dabei
eine selt­sa­me Dia­lek­tik: Bis­marcks Preu­ßen nutz­te die natio­na­len Ein­heits­wün­sche der deut­schen
Bür­ger dazu, ein ursprüng­lich mit die­sen nicht iden­ti­sches Ziel zu ver­fol­gen, geriet aber, indem es
dabei erfolg­reich war, in den Sog, den Wün­schen von »unten« nach­kom­men zu müs­sen. Bis­marck
gelang 1870 / 71 das Kunst­stück, die Macht der »Obe­ren«, der deut­schen Fürs­ten­staa­ten, mit den
natio­na­len Wün­schen der »Unte­ren« zu ver­bin­den, ohne irgend­ei­ner Sei­te Gewalt anzu­tun, und dabei
auch noch aus­län­di­sche Inter­ven­tio­nen (außer der diplo­ma­tisch und mili­tä­risch beherrsch­ba­ren
fran­zö­si­schen) zu ver­mei­den. Das war das Maxi­mum des­sen, was damals in Mit­tel­eu­ro­pa poli­tisch
erreich­bar war. Am Ende rati­fi­zier­te »unten« nahe­zu ein­stim­mig das, was von »oben« mit poli­ti­scher
Macht und Raf­fi­nes­se sowie auch mit »Blut und Eisen« geschaf­fen wor­den war, und zwar in der
demo­kra­tischs­ten Wei­se, die es damals gab, durch ein nach glei­chem und direk­tem Män­ner­wahl­recht
gewähl­tes Par­la­ment. Das Deut­sche Reich von 1871 war kein Obrig­keits- und Fürs­ten­staat, son­dern der
Staat der gesam­ten Nati­on, eine sowohl natio­na­le als auch demo­kra­ti­sche Errun­gen­schaft ers­ten
Ran­ges.

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