Den im deutschen Bürgertum seit den Napoleonischen Kriegen wachsenden Wunsch nach einem
Staatswesen, das alle Deutschen in Mitteleuropa vereint, erfüllte der Deutsche Bund von 1815 in
keiner Weise. In der Revolution von 1848 / 49 gelang es auf demokratischem Weg nicht, diesen Wunsch
auch nur als kleindeutsche Lösung (unter Ausschluß der Habsburgermonarchie) gegen den Willen der
deutschen Fürsten und den sich im ersten Krieg um Schleswig-Holstein bemerkbar machenden Druck
der ausländischen Mächte zu realisieren. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte die ihm von
der Nationalversammlung angetragene deutsche Kaiserkrone ab, um massiven Konflikten mit den
übrigen Mächten zu entgehen. 1849 / 50 versucht er allerdings, auf der Basis einer konservativ
modifizierten Frankfurter Reichsverfassung mit anderen deutschen Staaten außerhalb Österreichs eine
(klein)deutsche Union zu gründen. Doch nur einige meist kleinere Staaten schlossen sich der »Erfurter
Union« an. Im November 1850 zwang der Habsburgerstaat, unterstützt von Rußland, Preußen durch ein
militärisches Ultimatum zur endgültigen Aufgabe des Union-Projekts und zur Wiederbelebung des
Deutschen Bundes von 1815 (»Olmützer Punktation«).
Für den 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten berufenen Otto von Bismarck war die
(klein)deutsche Einigung zunächst nicht das zentrale Ziel seiner Politik. Als seine wichtigste Aufgabe
sah er vielmehr an, die Großmachtstellung des preußischen Staates in Europa zu sichern. Preußen in
den Grenzen von 1815 war die kleinste, territorial zudem zweigeteilte und von den übrigen Mächten
eingekeilte Großmacht in Europa. Für Bismarck war die Demütigung durch Olmütz ein politisches
Schlüsselereignis, das Preußens elementare Schwäche im überkommenen europäischen Mächtesystem
mehr als deutlich gezeigt hatte. Seine Großmachtstellung konnte nach Bismarcks Überzeugung nur
dann Bestand haben, wenn es in Norddeutschland expandierte und sich dort eine hegemoniale Stellung
verschaffte. Das war nur mit militärischen Mitteln und gegen den innerdeutschen Rivalen Österreich
durchzusetzen. Der gemeinsam mit Österreich geführte Krieg von 1864 gegen Dänemark verdrängte
einen ausländischen Monarchen aus der Herrschaft über deutsche Gebiete, wo 1848 / 49 eine
ausländische (britische) Intervention gedroht hatte. Im deutsch-deutschen Krieg von 1866 nötigte
Preußen dann den österreichischen Kaiserstaat nach der Schlacht von Königgrätz zu einem Frieden, der
ihm zwar keine Gebietsverluste abverlangte, aber zur Anerkennung der Auflösung des Deutschen
Bundes und zum Rückzug aus Deutschland zwang. Gleichzeitig arrondierte Preußen rücksichtslos sein
Territorium in Norddeutschland durch Annektierung dortiger Kriegsgegner und dominierte als Hegemon
den mit den verbleibenden Staaten nördlich der Mainlinie geschlossenen Norddeutschen Bund von
1867. Mit den nun vollständig souveränen süddeutschen Staaten Baden, Württemberg und Bayern
konnte Bismarck zugleich unbefristete und unkündbare Schutz- und Trutzbündnisse abschließen, da
sich diese nach dem Ende des Deutschen Bundes einer möglichen französischen Bedrohung alleine
nicht erwehren konnten.
Bismarck hatte damit bereits sein zentrales Ziel, die Großmachtstellung Preußens auf ein sicheres
Fundament zu stellen, erreicht. Von einem rein preußischen Standpunkt aus gesehen, waren nach 1867
weitere Schritte zur Erweiterung seiner Machtbasis nicht mehr zwingend notwendig. Er war sich aber
auch bewußt, daß Preußen seinen Aufstieg der Unterstützung durch die deutsche Nationalbewegung
verdankte, die es zu erhalten galt. Deshalb gehörte es offiziell zum Selbstverständnis des
Norddeutschen Bundes, sich allmählich zu einem (klein)deutschen Gesamtbund weiterzuentwickeln.
Es gibt Indizien dafür, daß Bismarck nun auch realpolitisch die Vollendung der deutschen Einheit als
Fernziel ins Auge faßte. Allerdings hatte er dabei keine Eile. Der nunmehrige norddeutsche
Bundeskanzler lehnte jedes überhastete Vorgehen in der Angelegenheit ab. Die Verbesserung der
Großmachtstellung Preußens 1866 / 67 war von den meisten europäischen Mächten noch nicht als
bedrohliche Veränderung des europäischen Gleichgewichts wahrgenommen worden. Die Bildung eines
kleindeutschen Nationalstaates wäre allerdings zwangsläufig als eine erneute, viel einschneidendere
Veränderung dieses Gleichgewichts angesehen worden. Jeder weitere Schritt in diese Richtung mußte
aufgrund seiner außenpolitischen Konsequenzen und Kriegsrisiken wohlerwogen werden.
Zum anderen war sich Bismarck bewußt, daß der Krieg von 1866 in den süddeutschen Staaten viele
antipreußische Ressentiments hinterlassen hatte. Ihre Angliederung an den Norddeutschen Bund durch
Zwang oder Druck und ohne echte Zustimmung der betroffenen Staaten und ihrer Bürger hätte statt zu
einem weiteren Kraftgewinn nur zu einer Belastung geführt. Insbesondere die Könige von Bayern und
Württemberg waren strikt gegen jede Einschränkung ihrer Souveränität. Daß viele ihre Untertanen
ähnlich dachten, zeigte sich 1867 / 68 nach der Reform des Deutschen Zollvereins. Um die
wirtschaftliche Einheit Deutschlands zu stärken, sollte der Verein mit eigenen Organen, etwa auch
einem Zollparlament ausgestattet werden. Doch sowohl bei den Wahlen zum Zollparlament als auch
bei den Landtagswahlen gewannen in Württemberg und Bayern 1868 die Gegner der kleindeutschen
Einigung die Mehrheit, nur in Baden und in Hessen-Darmstadt erwiesen sich die Wähler als »anschluß«-
freundlich. Bismarck unterband nun jeden Versuch einer Forcierung der Einheit durch den
Norddeutschen Bund. Er bekundete zudem wiederholt, daß die deutsche Einheit zwar gewiß kommen
werde, aber vielleicht erst von den folgenden Generationen vollendet werden könne. Allein kriegerische
Ereignisse könnten den Prozeß beschleunigen. Solche bewußt herbeizuführen, lehnte er ab.
Preußen sah sich allerdings mit der wachsenden Gegnerschaft des französischen Zweiten
Kaiserreichs unter Napoleon III. konfrontiert. Sein Machtzuwachs 1866 drohte die von Kaiser wie Volk
weiterhin wie selbstverständlich in Anspruch genommene Prépondérance légitime, die »legitime
Vormachtstellung« Frankreichs in Europa, in Frage zu stellen. Napoleon III. hatte schon vor dem Krieg
von 1866 »Kompensationen« für Preußens Zugewinne verlangt. Doch konnte der Kaiser
Gebietserweiterungen auf Kosten Belgiens und Luxemburgs nicht realisieren, denen Bismarck damals
zwar vage und unverbindlich zugestimmt hatte, ohne sie aber nach 1866 außenpolitisch wirklich zu
unterstützen.
In Frankreich wurden nun Rufe nach »Rache für Sadowa« (= Königgrätz) laut. Napoleon III. sah sich
gezwungen, jeden weiteren Machtgewinn Preußens zu verhindern, zumal die Legitimität des
bonapartistischen Regimes von außenpolitischen Erfolgen abhing. Beide Seiten kalkulierten nun die
Möglichkeit eines kriegerischen Konfliktes mit ein. Die Kandidatur des Prinzen Leopold von
Hohenzollern-Sigmaringen (aus der süddeutschen, katholischen Nebenlinie) für den seit 1868 vakanten
Thron Spaniens wurde schließlich zum Zündfunken. Als diese Anfang Juli 1870 in Frankreich bekannt
wurde, war dort die Empörung groß. Die übertriebene, aber noch verständliche Befürchtung
Frankreichs, von einer mächtigen Dynastie von Ost und Südwest umklammert zu werden, wurde an
sich durch Leopolds Rückzug am 12. Juli gegenstandslos. Doch nun setzten sich in der französischen
Regierung jene Kräfte um Kaiserin Eugénie und Außenminister Gramont durch, die dem Rivalen
Preußen auf jeden Fall eine schwere diplomatische Niederlage zufügen wollten. Gramont ließ den
französischen Botschafter Benedetti am 13. Juli bei dem in Bad Ems zur Kur weilenden preußischen
König Wilhelm vorsprechen. Dieser solle eine Entschuldigung für den Versuch der Installation eines
Hohenzollern auf dem spanischen Thron aussprechen und eine Garantieerklärung abgeben, einen
solchen Versuch nie wieder zu gestatten. Indirekt hätte der König damit eingeräumt, daß die
Kandidatur nicht als dynastische Privatangelegenheit, sondern, was er stets bestritten hatte, von Staats
wegen betrieben worden sei, ihr Zurückziehen also ein Nachgeben Preußens angesichts der Macht
Frankreichs darstellte. Wilhelm verweigerte dies und lehnte weitere Unterredungen mit Benedetti ab.
Bismarcks ließ die Mitteilung des Königs über den Vorfall in einer von ihm gekürzten, die
Zurückweisung Benedettis schroffer darstellenden Form veröffentlichen (Emser Depesche). Von einer
Provokation der Franzosen zum Krieg konnte jedoch nicht die Rede sein. Die Kriegspartei in Paris hatte
sich vielmehr zuvor aus eigenem Antrieb selbst in eine Falle manövriert, aus der sie nach dem
Scheitern der diplomatischen Demütigung Preußens in Bad Ems ohne Gesichtsverlust nur noch durch
den Krieg herauskommen konnte. Nach der Zurückweisung ihrer Forderungen durch Wilhelm I.
beschloß die Regierung am 14. Juli die Mobilmachung; am 15. Juli bewilligte das Parlament fast
einmütig die Kriegskredite; am 19. Juli 1870 erklärte das Kaiserreich Preußen formell den Krieg.
Bismarck, der den Krieg nicht von langer Hand vorausgeplant und die Krise nicht von sich aus
inszeniert hatte, nahm nun die Gelegenheit wahr, die deutsche Einigung durch einen – mit
überschaubaren Risiken verbundenen – Duellkrieg mit einer einzelnen europäischen Macht zu
beschleunigen. Deren Suche nach Verbündeten in Europa hatte er durch diverse politische Manöver
bereits konterkariert. Frankreich steigerte durch sein Verhalten in der Julikrise seine internationale
Isolierung noch, da es nun in den Augen der meisten Mächte als der alleinige Aggressor dastand, der aus
nichtigem Grunde eine an sich schon entschärfte Krise zum Krieg eskaliert hatte. In Deutschland
hingegen lösten die unverschämten französischen Forderungen – nicht nur in Norddeutschland, sondern
auch den süddeutschen Staaten – eine nationale Begeisterung aus, die in die Bereitschaft zum
militärischen Beistand für Preußen in diesem Krieg mündete.
Die verbündeten Streitkräfte des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Staaten gingen
Anfang August 1870 gegen die zwar in bestem Ruf stehenden, aber schlecht organisierten und
geführten kaiserlichen Truppen in die Offensive, drängten sie von der Grenze ab, schlossen die
»Rheinarmee« in Metz ein, vernichteten Anfang September die zum Ersatz heraneilende »Châlons-
Armee« bei Sedan und nahmen Napoleon III. dort gefangen. Damit war der Krieg allerdings noch nicht
entschieden. Die in Paris ausgerufene Dritte Republik setzte ihn unter Ausrufung der Levée en masse
fort. Es gelang den Franzosen, in den unbesetzten Teilen des Landes neue Armeen aufzustellen.
Diesen mangelte es allerdings an erfahrenen Offizieren und Unteroffizieren als Ausbilder und taktische
Führer im Gefecht, so daß die kriegserfahrenen deutschen Verbände auch zahlenmäßig überlegene
Truppen der Republik meist, allerdings nicht immer und nicht immer entscheidend, schlagen konnten.
Erst im Januar 1871 wurde der Krieg militärisch definitiv entschieden, als vier große koordinierte
Vorstöße der Franzosen – darunter ein großer Ausbruchsversuch aus Paris am 19. Januar, dem Tag
nach der deutschen Kaiserproklamation in Versailles – allesamt katastrophal scheiterten und sich die
Ersatzarmeen, auch durch Desertationen, weitgehend auflösten.
Die lange Kriegsdauer stellte ein außenpolitisches Risiko dar. Zwar war aufgrund von Bismarcks
politischen Manövern vor dem Krieg und vollends nach den ersten deutschen Schlachtensiegen die
Gefahr gering, daß andere Mächte militärisch auf seiten Frankreichs eingriffen. Doch fürchtete
Bismarck bis zum endgültigen Friedensschluß im Mai 1871 eine »Vermittlung« des Friedens durch
andere Großmächte oder gar die Einberufung einer europäischen »Friedenskonferenz«. Diese hätte den
Verzicht auf alle deutschen Gewinne erzwingen oder gar in die Gestaltung der deutschen Einheit
eingreifen können. Durch eine Reihe von diplomatischen Maßnahmen konnte er diese Gefahr am Ende
neutralisieren.
Die milde Behandlung Frankreichs in den Friedenspräliminarien von Versailles vom 26. Februar und
dem endgültigen Frieden von Frankfurt vom 10. Mai 1871 erfolgte auch aus der Erwägung, daß die
anderen Großmächte eine völlige Degradierung Frankreichs und damit eine gravierende Störung im
europäischen Gleichgewicht kaum tolerieren würden. Nicht nur aus persönlicher Neigung hatte
Bismarck deshalb von Anfang an, anders als Moltke, keine völlige militärische Niederwerfung
Frankreichs mit anschließendem Diktat‑, sondern einen Verhandlungsfrieden angestrebt. In den
Friedensverhandlungen 1871 machte Bismarck dann den Franzosen durchaus substantielle
Konzessionen und verzichtete zur insgeheimen Erleichterung der französischen Verhandlungsführer auf
alle die Souveränität Frankreichs beeinträchtigenden Bestimmungen. Das Land mußte zwar das Elsaß
und Teile Lothringens abtreten sowie eine beträchtliche Kriegsentschädigung zahlen, blieb jedoch als
ein in vollem Umfang souveräner, wenn auch etwas zurechtgestutzter Mitspieler im Konzert der
europäischen Großmächte erhalten.
Für den innerdeutschen Einheitsprozeß war die lange Kriegsdauer teilweise auch von Vorteil. Als die
süddeutschen Staaten im Juli 1870 erklärten, daß sie nach der französischen Kriegserklärung an
Preußen den militärischen Bündnisfall im Sinne der Schutz- und Trutzbündnisse von 1866 als gegeben
ansahen, war damit noch kein Bekenntnis zur Bildung eines gemeinsamen deutschen Staates
verbunden. Bismarck blieb vorsichtig und wies noch Anfang August an, die Presse davon abzuhalten,
von »Kaiserideen« zu schwärmen, weil dies die »süddeutsche Bundesgenossenschaft« stören könnte.
Doch auch dort nahm der nationale Enthusiasmus breiter Volksschichten, vor allem nach den ersten,
gemeinsam erfochtenen Siegen, ebenso zu wie das Bestreben, den gemeinsamen Kriegsanstrengungen
die Bildung eines gemeinsamen Nationalstaates folgen zu lassen. Dem dadurch aufgebauten Druck
mußten schließlich auch jene Regierungen, Monarchen und Parteien in Württemberg und Bayern
nachgeben, die an sich gegen die Eingliederung in ein von Preußen dominiertes Kleindeutschland
eingestellt waren.
Technisch gesehen wurde 1870 / 71 die Einheit (ähnlich wie 1990) durch den Anschluß der
süddeutschen Staaten an den schon existierenden Norddeutschen Bund bewerkstelligt. Dieser besaß
bereits gemeinsame Verfassungsorgane wie einen (mit gleichem Stimmrecht gewählten) Reichstag,
einen Bundesrat (aus Vertretern der Regierungen der Einzelstaaten), einen Bundeskanzler (Bismarck)
sowie einen »Präsidium« (Vorsitz), das dem preußischen König zustand. Bismarck war aber weiterhin
bemüht, jeden Eindruck zu vermeiden, daß die Initiative zum »Anschluß« von ihm bzw. Preußen
ausging. Nach dem Sieg von Sedan bat er den von sich aus zum Anschluß bereiten Großherzog
Friedrich I. von Baden, bei dem als unwillig geltenden bayerischen König Ludwig II. zu sondieren, wie
das Verhältnis zwischen Norddeutschem Bund und Süddeutschland zukünftig zu gestalten sei. Es
folgten längere Verhandlungen zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten.
Baden zusammen mit Hessen-Darmstadt (dessen nördliche Hälfte schon zum Bund gehörte) sowie
jeweils Bayern und Württemberg vereinbarten in separaten Verträgen vom 15., 23. und 24. November
ihren am 1. Januar 1871 wirksam werdenden Beitritt zum nunmehrigen »Deutschen Bund«, wobei
Württemberg und vor allem Bayern jeweils umfangreiche Sonderrechte herausschlugen. Die Verträge
wurden durch den norddeutschen Reichstag und die süddeutschen Landtage ratifiziert, der bayerische
Landtag brauchte allerdings bis zum 21. Januar 1871, bis die notwendige Zweidrittelmehrheit
zusammengebracht war.
Am 9. Dezember beschloß der Norddeutsche Bund im Einvernehmen mit den süddeutschen
Regierungen die Umbenennung des Bundes in »Deutsches Reich« und seines »Präsidiums« in
»Deutscher Kaiser«. Auch in diesem Fall hatte Bismarck zuvor den badische Großherzog vorgeschickt.
Dieser bat Ende Oktober den bayerischen König, dem preußischen König im Namen aller Bundesfürsten
die Kaiserkrone anzubieten. Ludwig II. zierte sich eine Weile, schickte aber schließlich Ende November –
nach der Zusage umfangreicher Finanzhilfen für den Bau seiner Schlösser – auf der Basis eines von
Bismarck angefertigten Konzepts ein entsprechendes Handschreiben an Wilhelm I. Dieser war
allerdings davon nicht begeistert, zerstritt sich mit Bismarck über seine Titulatur und ließ sich nur mit
großer Mühe dazu bewegen, im Spiegelsaal von Schloß Versailles am 18. Januar 1871 zum Kaiser
proklamiert zu werden.
Der 18. Januar 1871 gilt zu Recht als das eigentliche Gründungsdatum des Deutschen Kaiserreichs,
auch wenn es staats- und verfassungsrechtlich bereits am 1. Januar 1871 ins Leben getreten war, und
damit des ersten deutschen Nationalstaates. Der an diesem Tag zum Kaiser ausgerufene König Wilhelm
sollte mit seiner Befürchtung recht behalten, daß das altehrwürdige preußische Königtum hinter der
Kaiserwürde rasch verblassen würde. Die Umbenennungen von »Präsidium« in »Deutscher Kaiser« und
»Bund« in »Reich« änderten zwar an der institutionellen Struktur des neuen Staatswesens nichts, außer
daß eine Reihe von Ämtern und Organisationen nun als »kaiserlich« oder »Reichs-« bezeichnet wurden.
Für die meisten Deutschen, auch wenn sie weiterhin ihre landsmannschaftlichen Identitäten pflegten,
waren aber »Kaiser« und »Reich« weit attraktivere Symbole als ein schnöder »Bund« und sein
»Präsidium«, um sich mit dem neuen Staatswesen zu identifizieren. Im Bewußtsein der Deutschen und
dadurch auch in der politischen Realität verwandelte erst der Kaisertitel einen Staatenbund – unter der
in Süddeutschland nicht sonderlich beliebten preußischen Führung – in einen gemeinsamen
Bundesstaat, in ein »Reich« unter einem gemeinsamen Kaiser, der nebenher auch noch der König eines
der Gliedstaaten war.
Dieses Reich war keine Schöpfung allein von »oben«. Neben der Ratifizierung der
Novemberverträge durch den norddeutschen Reichstag und die süddeutschen Landtage
verabschiedete auch der am 3. März 1871 gewählte gesamtdeutsche Reichstag am 14. April mit
überwältigender Mehrheit (rückwirkend zum 1. Januar) die Verfassung des Deutschen Reiches. Diese
faßte zwar »nur« mit wenigen kleinen Modifikationen die in den Novemberverträgen vereinbarten
Veränderungen der norddeutschen Bundesverfassung samt Sonderbestimmungen für Württemberg
und Bayern zu einem neuen Dokument zusammen. Sie entsprach damit nicht dem Ideal von 1848, der
Neuschöpfung »von unten« durch eine durch demokratische Wahl dazu legitimierte
Nationalversammlung, deren staatsrechtliche und verfassunggebende »Allmacht« allerdings den
Zusammenstoß mit den realen politischen Mächten der Zeit nicht überlebt hatte.
Die gern zitierte Dichotomie einer »von oben« geschaffenen Einheit von 1871 und dem Anlauf dazu
»von unten« 1848 / 49 verkennt, wie sehr die Reichsgründung von 1871 erst durch den Beitrag und den
Einfluß von »unten« möglich wurde. 1848 / 49 hatte sich gezeigt, daß allein von »unten« her gegen die
überkommenen deutschen Fürstenstaaten und die europäischen Großmächte eine deutsche Einheit,
selbst in der abgespeckten kleindeutschen Form, nicht herzustellen war. »Unten« brauchte »oben«,
also die machtpolitische Durchsetzungsfähigkeit einer deutschen Großmacht, um seine nationalen
Wünsche zu realisieren. Zwischen »oben« und »unten« entwickelte sich zwischen 1864 und 1871 dabei
eine seltsame Dialektik: Bismarcks Preußen nutzte die nationalen Einheitswünsche der deutschen
Bürger dazu, ein ursprünglich mit diesen nicht identisches Ziel zu verfolgen, geriet aber, indem es
dabei erfolgreich war, in den Sog, den Wünschen von »unten« nachkommen zu müssen. Bismarck
gelang 1870 / 71 das Kunststück, die Macht der »Oberen«, der deutschen Fürstenstaaten, mit den
nationalen Wünschen der »Unteren« zu verbinden, ohne irgendeiner Seite Gewalt anzutun, und dabei
auch noch ausländische Interventionen (außer der diplomatisch und militärisch beherrschbaren
französischen) zu vermeiden. Das war das Maximum dessen, was damals in Mitteleuropa politisch
erreichbar war. Am Ende ratifizierte »unten« nahezu einstimmig das, was von »oben« mit politischer
Macht und Raffinesse sowie auch mit »Blut und Eisen« geschaffen worden war, und zwar in der
demokratischsten Weise, die es damals gab, durch ein nach gleichem und direktem Männerwahlrecht
gewähltes Parlament. Das Deutsche Reich von 1871 war kein Obrigkeits- und Fürstenstaat, sondern der
Staat der gesamten Nation, eine sowohl nationale als auch demokratische Errungenschaft ersten
Ranges.